TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/5 I401 2207416-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.07.2021
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Entscheidungsdatum

05.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z3
BFA-VG §18 Abs1 Z4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I401 2207416-1/49E

I401 2207414-1/37E

I401 2207413-1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gerhard AUER über die Beschwerden 1. des XXXX alias XXXX , StA. Ägypten, 2. der XXXX alias geb. XXXX , StA. Ägypten alias StA. Syrien, und 3. der XXXX , StA. Ägypten alias Syrien, vertreten durch ihre Mutter XXXX als gesetzliche Vertreterin, alle vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, jeweils vom 17.09.2018, IFA-Zahlen/Verfahrenszahlen: XXXX , nach Durchführung von Verhandlungen zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Verfahren des XXXX (in der Folge als Erstbeschwerdeführer bezeichnet) und seiner Ehefrau XXXX alias XXXX (in der Folge als Zweitbeschwerdeführerin bezeichnet) sowie der bei Asylantragstellung minderjährigen Tochter XXXX (in der Folge als Drittbeschwerdeführerin bezeichnet) sind im Sinn des § 34 AsylG 2005 gemeinsam als Familienverfahren zu führen.

1. Der Erstbeschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise ins Bundesgebiet am 19.11.2015 den Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, dass er von Beruf Künstler und Bildhauer sei. Er mache für Christen und Juden Zeichnungen und Statuen. Er habe in einem radikalen Viertel gewohnt, das von den Moslembrüdern kontrolliert worden sei. Wegen seiner Arbeit sei er von ihnen mit dem Tod bedroht worden. Da er aus der Gegend der Moslembrüder komme, sei er auch von der Regierung sehr unterdrückt worden. Er habe sich bedroht gefühlt und um sein Leben gefürchtet. Er gab auch an, mit einer ägyptischen Staatsangehörigen verheiratet zu sein, die derzeit in Griechenland lebe.

Bei seiner am 09.08.2016 erfolgten niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden als Bundesamt bezeichnet) wiederholte er im Wesentlichen sein zuvor getätigtes Fluchtvorbringen.

Mit Bescheid vom 19.12.2016 wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Ägypten ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und erkannte einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt IV.)

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 30.12.2016 das Rechtsmittel der Beschwerde.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.03.2018, I419 2145198-1/12E, wurde der Bescheid des Bundesamtes behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückverwiesen. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und vor kurzem eine Tochter geboren habe. Das Bundesamt habe das Verfahren des Erstbeschwerdeführers gemeinsam mit den Verwandten nach den Bestimmungen über das Familienverfahren zu führen.

Am 28.08.2018 wurde der Erstbeschwerdeführer erneut vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen.

2. Die Zweitbeschwerdeführerin bzw. die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers reiste am 24.08.2017 illegal nach Österreich und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei ihrer Erstbefragung gab sie an, XXXX zu heißen, am XXXX geboren und syrische Staatsbürgerin zu sein. Ihr Mann habe ihr gesagt, dass er in Österreich lebe. Als Fluchtgrund gab sie an, dass ihr Onkel, nachdem sie nach Syrien zurückgekehrt sei, nicht mehr da gewesen sei, er sei verstorben. Sie habe niemanden mehr in Syrien gehabt und sich entschieden, das Land zu verlassen.

Am 01.08.2018 wurde die Zweitbeschwerdeführerin vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Sie habe in Syrien, das sie im Jahr 2013 verlassen habe, bis zur elften Klasse die Schule besucht, jedoch in Ägypten die Matura gemacht. In Kairo habe sie Journalismus und Medien studiert; sie sei politisch tätig gewesen. Hinsichtlich ihrer Fluchtgründe gab sie an, in Syrien Probleme gehabt zu haben. Sie habe kein Haus mehr gehabt und ihre Eltern seien verstorben. Ihr Mann sei in Österreich. Weitere Fluchtgründe habe sie nicht; sie denke, dies sei Grund genug, warum sie aus Syrien ausgereist sei.

Bei ihrer am 14.08.2018 erfolgten niederschriftlichen Einvernahme sagte sie aus, sie habe keine eigenen Fluchtgründe. Sie stütze sich auf die Fluchtgründe ihres Mannes. Sie ersuche um Behandlung ihres Asylantrages im Rahmen des Familienverfahrens. Sie habe in Ägypten niemanden und müsste dort ganz alleine leben. Die von ihr zuvor getätigten Angaben, sie sei in Ägypten politisch tätig gewesen, seien falsch gewesen.

3. Am 27.08.2017 wurde die Drittbeschwerdeführerin bzw. die gemeinsame Tochter des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Ihre Eltern stellten als gesetzliche Vertreter für sie am 01.09.2017 einen Asylantrag ein. Die Drittbeschwerdeführerin machte keine eigenen Fluchtgründe geltend.

4. Mit den angefochtenen Bescheiden jeweils vom 17.09.2018 wies das Bundesamt die Anträge des Erstbeschwerdeführers und der Zweit- sowie Drittbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ägypten als unbegründet ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Ägypten zulässig ist (Spruchpunkt III.) und erkannte einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 18 Abs. 1 Z 3 und 4 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt IV.).

Gegen diese Bescheide richtet sich die im vollen Umfang erhobene Beschwerde vom 01.10.2018. Begründet wurde sie im Wesentlichen damit, dass der Erstbeschwerdeführer in Ägypten sowohl von der Moslembruderschaft als auch vom ägyptischen Staat verfolgt worden sei. Sein Vater sei Mitglied der Moslembruderschaft gewesen. Der Erstbeschwerdeführer habe nach dessen Tod die Mitgliedschaft seines Vaters geerbt. Zwei Jahre lang sei er Mitglied der Moslembrüder gewesen. In dieser Zeit sei er zwei bis drei Mal pro Woche für die Bruderschaft aktiv gewesen bzw. habe an deren Veranstaltungen teilgenommen. Da er als Künstler und Bildhauer auch Aufträge von Christen (Heiligenstatuen) erfüllt habe, habe er Probleme mit der Moslembruderschaft bekommen, die die Annahme derartiger Aufträge missbilligt habe. Bei der Einvernahme am 09.08.2016 sei irrtümlich niedergeschrieben worden, dass die Moslembruderschaft ihn im Jahre 2015 bei der Polizei angezeigt habe. Das sei falsch. Richtig sei, dass er mit der Polizei aufgrund seiner Mitgliedschaft bei der Moslembruderschaft Probleme gehabt habe.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin gehe die Behörde fälschlicherweise von Ägypten als deren Herkunftsland aus, obwohl sie stets gleichlautend vorgebracht habe, syrische Staatsbürgerin zu sein. Wie in der Einvernahme geschildert worden sei, habe sie bis 2013 in Homs in Syrien gelebt. Im September 2013 habe sie Syrien verlassen und sei mit ihrem Onkel nach Ägypten geflohen. Am 08.10.2014 hätten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin geheiratet. Nachdem der Erstbeschwerdeführer aus Ägypten geflüchtet sei, habe die Zweitbeschwerdeführerin Ägypten am 01.06.2016 verlassen und sei nach Syrien zurückgekehrt, weil von dort eine Flucht nach Europa unter Zuhilfenahme ihres syrischen Reisepasses leichter möglich gewesen sei. Sie habe nie eine ägyptische Staatsbürgerschaft erhalten bzw. ihre syrische Staatsbürgerschaft niedergelegt. Den syrischen Reisepass habe der Schlepper konfisziert. Das Bundesamt stütze die Behauptung, die Zweitbeschwerdeführerin stamme aus Ägypten, auf die Aussagen des Erstbeschwerdeführers in der Erstbefragung und seiner Einvernahme, in denen dieser angeblich angeführt habe, sie sei eine ägyptische Staatsangehörige. Gemeint sei jedoch gewesen, dass die Zweitbeschwerdeführerin noch in Ägypten lebe. Während der Einvernahmen sei es immer wieder zu Missverständnissen gekommen. So sei der Zweitbeschwerdeführerin vorgehalten worden, warum sie, anders als ihre bereits toten Eltern, nicht die ägyptische Staatsbürgerschaft habe, obwohl sie ständig angegeben habe, dass auch ihre Eltern syrische Staatsangehörige gewesen seien. Viele Syrer seien aufgrund des Krieges nach Ägypten geflohen. Vor diesem Hintergrund sei ihr Vorbringen plausibel. Wenn die Zweitbeschwerdeführerin Arabisch spreche, sei ihr syrischer Dialekt klar hörbar. Deshalb werde die Einholung eines sprachwissenschaftlichen Gutachtens angeregt. Als syrische Staatsangehörige hätte das Bundesamt ihr aufgrund der dortigen Situation zumindest subsidiären Schutz zuerkennen müssen.

Bezüglich der Integration der Beschwerdeführer sei auf die vorgelegten Bestätigungen zu verweisen. Ihr Interesse an einem Verbleib in Österreich überwiege das Interesse des Staates an einem geordneten Vollzug im Fremdenwesen.

5. Am 22.02.2019 wurde der gemeinsame Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Der für ihn am 03.05.2019 gestellte Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 08.01.2020 abgewiesen. Dieser Bescheid erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.

6. Am 20.01.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht die erste mündliche Verhandlung statt, in welcher der Erstbeschwerdeführer folgendes Vorbringen in Hinblick auf seine Fluchtgründe erstattete:

„Mein Vater war am Anfang Mitglied der Moslembrüder. Das ist eine Gruppe, die gegen das Regime ist und wollten die Macht in Ägypten übernehmen. Sie wussten nicht, dass mein Vater auch Arbeiten für die Kirchen macht. Sie haben ihn aufmerksam gemacht, dass er diese Arbeit nicht machen darf, weil die Christen sind Ungläubige, auf Arabisch „Kufaar". Mein Vater kann nur diese Arbeit machen. Sie haben ihn ein paar Mal bedroht. Er hat sich in einem Keller in einer anderen Stadt versteckt und die Arbeit dann heimlich gemacht. Mein Vater hat gemerkt, dass er nichts Falsches macht, wenn er für die Juden und Christen arbeitet, weil er seine Familie ernähren musste. Mein Vater hat dann jemanden kennengelernt. Ich möchte den letzten Satz berichtigen: Mein Vater hat jemanden getroffen, den er von früher kannte. Dieser Mann war ein Verwandter und Freund der Familie und des Vaters. Dieser Mann hat den Moslembrüdern erzählt, wo sich mein Vater aufhält. Dann ist eine Gruppe von den Moslembrüdern zu meinem Vater gegangen und sie haben ihn wieder bedroht, dass er diese Arbeit nicht machen soll. Sie haben gemerkt, dass wir sehr viele Holzarbeiten für die Kirche machen. Gleichzeitig wurden wir von Sicherheitskräften beobachtet und sie haben gemerkt, dass viele Moslembrüder zu uns gekommen sind. Mein Vater hatte Probleme mit den Moslembrüdern und dem Regime. Am Ende haben die Moslembrüder gewusst, dass mein Papa diese Tätigkeiten nicht lassen wird. Danach haben sie ihm eine Tablette gegeben und danach hat er einen Herzstillstand bekommen. Das Regime hat alles in einen Topf geworfen und meinten, dass auch wir zu den Moslembrüdern gehören würden. Nach dem Tod meines Vaters habe ich seine Arbeit übernommen. Die Moslembrüder sind zu mir gekommen und haben mir gesagt, dass ich die Arbeit für die Kirche nicht mehr so wie mein Vater machen soll und ich mich den Moslembrüdern anschließen soll. Sie haben mich oft besucht und die Sicherheitskräfte haben ein Zeichen neben meinem Namen gemacht. Damit wusste man, dass ich den Moslembrüdern angehöre, obwohl das nicht stimmt.

Ich habe viele Probleme mit den Moslembrüdern bekommen wegen des vorhin erwähnten Problems. Andererseits habe ich auch Probleme mit dem Regime bekommen, da sie dachten, dass ich Mitglied der Moslembrüder sei. Die Sicherheitskräfte sind zu uns nach Hause gekommen und sie haben die Haustür kaputt gemacht. Sie haben mich, meinen Bruder und meine Mutter festgenommen. Wir wurden gequält und geschlagen, außerdem haben wir einen elektrischen Schock bekommen. Danach mussten wir Geld zahlen, damit wir freigelassen werden. Ich habe dann jemandem Geld bezahlt, damit ich weiß, was mit mir passieren wird. Er hat zu mir gesagt, dass ich das Land innerhalb von zwei Tagen verlassen soll. Beim nächsten Mal, wenn sie mich wiederfestnehmen, würden sie mich nicht mehr freilassen. Es gab bereits einen Festnahmebefehl mir gegenüber. Dann habe ich das Land verlassen, dann sind sie zu uns gekommen und haben meine Frau, meinen Bruder und meine Mutter unter Druck gesetzt. Danach habe ich entschieden, dass sie auch das Land verlassen sollen.“

7. Mit Schreiben vom 01.02.2021 gaben die Beschwerdeführer durch ihre Rechtsvertretung eine Stellungnahme ab. Sie brachten vor, dass die allgemeine Sicherheitslage in Ägypten prekär sei und insbesondere für den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin eine Rückkehr nach Ägypten mit einer Gefahr der Verletzung in ihren Rechten nach den Artikeln 2 und 3 EMRK sowie nach dem 6. und 13. Zusatzprotokoll der EMRK verbunden sei. Zudem wiesen die Beschwerdeführer auf die aktuelle Lage der Covid-19-Pandemie hin, wonach Ägypten seit 24.01.2021 als Hochinzidenzgebiet eingestuft worden sei.

8. Am 26.04.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht die zweite mündliche Verhandlung statt. Bei der wurde auch der aus Ägypten stammende Dolmetscher für die arabische Sprache A F, der bei der Einvernahme des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin durch das Bundesamt am 14.08.2018 für die Übersetzungstätigkeit beigezogen wurde, als Zeuge audiovisuell einvernommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der oben angeführte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Ägypten und gehören der Volksgruppe der Araber an. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet, bekennen sich zum Islam und sind die Eltern des in Österreich am 22.02.2019 geborenen Sohnes. Ob der Erstbeschwerdeführer Vater der in Österreich am XXXX geborenen Drittbeschwerdeführerin ist, steht nicht zweifelsfrei fest.

Die Beschwerdeführer leiden an keinen psychischen und physischen Beeinträchtigungen, die einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen. Der Erstbeschwerdeführer sowie die Zweitbeschwerdeführerin sind arbeitsfähig. Darüber hinaus gehört keiner von den Beschwerdeführern einer Risikogruppe im Sinne der COVID-19-Pandemie an.

Der am 01.01.1995 geborene Erstbeschwerdeführer lebte vor seiner Ausreise mit seiner Ehefrau in Kairo. Er besuchte in Ägypten sowohl die Grundschule als auch ein Gymnasium und schloss anschließend an einer Berufsschule die Ausbildung für die berufliche Tätigkeit als Elektrotechniker ab und übte diesen Beruf auch aus. Von seinem Vater erhielt er eine eigene Werkstätte und arbeitete als Holzdrechsler.

Im Oktober oder Anfang November 2015 reiste er legal mit gültigem Reisepass auf dem Luftweg aus Kairo in die Türkei aus. Er gelangte schlepperunterstützt illegal nach Österreich. Er hält sich (zumindest) seit dem 19.11.2015 im Bundesgebiet auf. Seine Mutter, die ebenfalls in Österreich einen, letztlich negativ beschiedenen Asylantrag gestellt hatte, befindet sich in den Niederlanden. Sein Bruder hält sich in Italien auf.

Die Zweitbeschwerdeführerin reiste im Jahr 2016 illegal nach Griechenland, wo sie für einige Zeit lebte. Über die Balkanroute gelangte sie illegal nach Österreich und hält sich nachweislich seit dem 24.08.2017 im Bundesgebiet auf. Sie verfügt über eine Grundschulausbildung und besuchte eine allgemeinbildende höhere Schule, die sie mit Matura abschloss. Im Oktober 2014 begann sie in Kairo an einer Universität das Studium für Nachrichtenwesen, welches sie ohne Abschluss beendete.

Eine ausgeprägte und verfestigte Integration der Beschwerdeführer in Österreich, insbesondere in sprachlicher oder sozialer Hinsicht, kann nicht festgestellt werden. Weder der Erstbeschwerdeführer noch die Zweitbeschwerdeführerin legten bislang eine Deutsch- oder Integrationsprüfung ab. Die Beschwerdeführer bezogen bis November 2020 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin waren, obwohl sie zusammengelebt haben, bis 23.10.2018 an verschiedenen Orten in Oberösterreich mit Hauptwohnsitz gemeldet. An der Adresse ihres Ehemannes war sie mit Nebenwohnsitz gemeldet. Sie waren bis 05.10.2020 mit Hauptwohnsitz an derselben Adresse in Linz gemeldet. Seit diesem Zeitpunkt haben sie in Österreich keinen (Haupt-) Wohnsitz mehr.

Der Erstbeschwerdeführer verfügt seit 07.03.2018 über die Gewerbeberechtigung für das freie Gewerbe „Handelsgewerbe mit Ausnahme der reglementierten Handelsgewerbe und Handelsagent“, welches er mit selben Tag ruhend meldete. Am 26.10.2020 meldete er die Wiederaufnahme dieses Gewerbes bei der Wirtschaftskammer an. Seit 04.04.2018 ist er zudem Inhaber der Gewerbeberechtigung für das freie Gewerbe „Feilbieten von Obst, Gemüse, Kartoffeln, Naturblumen, Brennholz, Butter und Eiern im Umherziehen“. (Erst) Seit 26.10.2020 ist er bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen nach dem GSVG pflichtversichert. Der monatliche Umsatz aus seiner selbständigen Tätigkeit lag im Jahr 2008 zwischen € 700,-- und € 800,-- und der erzielte Gewinn überschreitet nicht die steuerliche Geringfügigkeitsgrenze und übersteigt das steuerpflichtige Einkommen aus dieser Tätigkeit jährlich nicht den Betrag von ca. € 3.000,--. Mit seinem jährlichen Gewinn überschreitet der Erstbeschwerdeführer nicht die Versicherungsgrenze (von derzeit € 5.527,92). Er ist nach dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz nicht pflichtversichert und entrichtet daher keine Beiträge an die Sozialversicherung der Selbständigen. Die Drittbeschwerdeführerin ist bei ihm seit 03.05.2018 als Angehörige beitragsfrei in der Krankenversicherung mitversichert.

Vom 29.02.2020 bis 02.03.2020 war die Zweitbeschwerdeführerin in einem Lokal als Reinigungskraft tätig, ohne für diese Tätigkeit über eine Beschäftigungsbewilligung zu verfügen. Sie war für diesen Zeitraum als geringfügig beschäftigte Arbeiterin bei der Österreichischen Gesundheitskasse zur Sozial- bzw. Unfallversicherung angemeldet. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben einen von 15.07.2020 bis 14.07.2025 gültigen Pachtvertrag für ein Gasthaus bzw. eine Pizzeria abgeschlossen. Mit Schreiben vom 29.07.2020 meldete die Zweitbeschwerdeführerin das freie Gewerbe für das Gastgewerbe (bzw. für einen Imbiss mit acht Verabreichungsplätzen) bei der zuständigen Gewerbebehörde an, welches ihr jedoch nicht verliehen wurde. Die Finanzpolizei für das Finanzamt Linz kontrollierte am 15.10.2020 den Kebab-Imbiss an der angeführten Adresse des gepachteten Gastronomiebetriebes. Im Zuge der Amtshandlung wurde gegenüber der Zweitbeschwerdeführerin als Betreiberin festgestellt, dass sie keinen Gewerbeschein und keine Steuernummer hat, sie nicht zur gewerblichen Sozialversicherung angemeldet ist, sie keine Aufzeichnungen am Kontrolltag vorlegen konnte, sie ihrer Belegerteilungspflicht nicht nachkam und sie das Lokal seit 15.07.2020 „gemietet“ hat, sie dieses seit ca. diesem Datum betreibt und ihre Angaben, dass sie dieses Lokal erst mit dem Tag der Amtshandlung geöffnet habe, nicht der Wahrheit entsprechen können, weil sich die Miete seit 15.07.2020 auf € 1.350,-- pro Monat beläuft.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin arbeiten seit Mitte Mai 2018 im Ausmaß von bis zu ca. 20 Stunden auf ehrenamtlicher Basis beim Verein XXXX ; sie werden in einem Sozialmarkt und einem Café bei der Warenübernahme, Regalbetreuung sowie beim aktiven Verkauf in der Brotabteilung eingesetzt.

Der Erstbeschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgericht Linz vom 30.03.2016 wegen des Vergehens des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 zweiter Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt. Diese Verurteilung ist mittlerweile getilgt und scheint im Strafregister nicht mehr auf.

Der Erstbeschwerdeführer wurde am 30.01.2020 einer Personenkontrolle unterzogen, weil er von einem Polizisten dabei beobachtet wurde, wie er einem (namentlich genannten) Mann Klemmsäckchen mit Marihuana weitergab. Im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung zeigte er sich zum fortgesetzten Erwerb, Besitz und der Weitergabe von Marihuana geständig und bestritt, einem Minderjährigen Marihuana überlassen zu haben. Zu seinem Suchtgiftkonsum gab er an, vor ca. vier Jahren begonnen zu haben, am Abend vor dem Schlafengehen einen Joint zu rauchen. Die Staatsanwaltschaft Linz erhob zwar gegen den Erstbeschwerdeführer Anklage, jedoch veranlasste das Landesgericht Salzburg die Abbrechung des Strafverfahrens und ordnete die Aufenthaltsermittlung des Erstbeschwerdeführers an, weil er über keine ladungsfähige Zustelladresse verfüge.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Österreich nicht vorbestraft.

1.2. Zu den Fluchtmotiven der Beschwerdeführer und zur Rückkehrsituation:

Der Erstbeschwerdeführer wurde in Ägypten nicht verfolgt. Entgegen seinem Fluchtvorbringen kann keine individuelle, gegen ihn persönlich gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch die Moslembrüder und den ägyptischen Staat bzw. die staatlichen Behörden auf Grund seiner Mitgliedschaft zu den Moslembrüdern in Ägypten nicht festgestellt werden. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführerin haben keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. In Ägypten wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung nicht verfolgt.

Die Beschwerdeführer müssen bei ihrer Rückkehr nicht mit einer Verfolgung rechnen. Ihre Rückkehr nach Ägypten ist möglich und führt nicht dazu, dass sie dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten werden.

1.3. Zur Lage in Ägypten:

1.3.1. Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Ägypten (mit der letzten Kurzinformation vom 11.01.2016) vollständig zitiert. Seither haben sich die darin angeführten Umstände für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert. In der Länderinformation der Staatendokumentation zu Ägypten (Gesamtaktualisierung am 01.02.2021), welche mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelt und in dieser erörtert wurde, wird (mit Angaben der Quellen) - auszugsweise - festgehalten:

3. Sicherheitslage

Die Bedrohung durch Terrorismus ist hoch. Anfällig für Angriffe sind z.B. religiöse Stätten, Touristenattraktionen und Regierungsgebäude (MSZ o.D.; vgl. MEAE/FD 15.1.2021, AA 21.1.2021). Der Ausnahmezustand wurde 2017 zunächst nach der Explosion mehrerer Bomben gegen Kirchen in den Gouvernements Kairo und Alexandria verhängt und in Folge immer wieder verlängert (MAE 16.1.2021; vgl. MSZ o.D., ÖB 25.11.2020, MEAE/FD 15.1.2021, AA 22.1.2021).

Die Lage auf der Sinai-Halbinsel ist sehr angespannt (MAE 16.1.2021; vgl. ÖB 25.11.2020). Der Einsatz der Sicherheitskräfte im Kampf gegen den Terrorismus hat vielfach dazu beigetragen, die Spannungen zwischen Beduinen und den staatlichen Institutionen zu verschärfen (AA 13.6.2020). Beduinenstämme sind für Einschüchterungsversuche und Gewalttaten verantwortlich (MAE 16.1.2021).

Terroristische Organisationen sind vor allem, aber nicht ausschließlich, in den nordöstlichen Teilen des Gouvernements Sinai aktiv (OSAC 30.4.2020; vgl. MAE 16.1.2021). Die meisten Anschläge im Nordsinai richten sich gegen militärische Einrichtungen und Personal (OSAC 30.4.2020; vgl. ÖB 25.11.2020). Sowohl Terroranschläge als auch Militäroperationen führen immer wieder zu zivilen Opfern (FH 4.3.2020; vgl. OSAC 30.4.2020, ACLED 14.5.2020).

Im Jahr 2018 führte die „Operation Sinai 2018“ zu einer deutlichen Intensivierung der militärischen Aktivitäten im Nordsinai (OSAC 30.4.2020; vgl. MAE 16.1.2021, MEAE/FD 15.1.2021, ÖB 25.11.2020). Die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Anhängern des Islamischen Staates (IS) in der Region Nordsinai dauern weiterhin an (FH 4.3.2020; vgl. OSAC 30.4.2020, MEAE/FD 15.1.2021, AI 18.2.2020, ÖB 25.11.2020), wenn auch deren Häufigkeit reduziert wurde (AI 18.2.2020; vgl. ÖB 25.11.2020). Im Sog der Gesundheitskrise und öffentlichen Unordnung im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie konnte der Islamische Staat seine Aktivitäten auf der Halbinsel Sinai jedoch wieder verstärken (ACLED 14.5.2020, 9.4.2020).

Das Wüstengebiet von der libyschen Grenze im Westen bis zur sudanesischen Grenze im Süden ist ein Risikogebiet, in dem die Streitkräfte regelmäßig Operationen gegen Schlepper durchführen (MEAE/FD 15.1.2021; vgl. ÖB 25.11.2020) und Terroristen Anschläge verüben (OSAC 30.4.2020). Die Infiltration von terroristischen Elementen aus Libyen kann nicht ausgeschlossen werden (MEAE/FD 15.1.2021). Es kommt gelegentlich zu Attentaten in den Großstädten (ÖB 25.11.2020).

In Ägypten sind folgende terroristische Organisationen aktiv. Der Islamischer Staat - Wilayat Sinai (auch: Ansar Bayt al-Maqdis - ABM) ist die aktivste Terrorgruppe in Ägypten (OSAC 30.4.2020; vgl. ÖB 25.11.2020). Darüber hinaus gibt es den Islamischen Staat in Ägypten, Harakat Sawa'd Misr (HASM), Liwa al-Thawra, mit al-Qaida verbundene Gruppen, Harket Elmokawma Elsha'biya alias "Volkswiderstand" und andere verschiedene kleinere Terrorgruppen (OSAC 30.4.2020). Seit Mitte 2016 sind die neuen Terrorgruppen HASM und „Liwaa al-Thawra“ mit islamistisch-nationalistischer Ausrichtung im ägyptischen Kernland für mehrere schwere Anschläge, v.a. gegen Sicherheitskräfte u. Justiz, verantwortlich. Anschläge haben seit 2019 etwas abgenommen aber nicht aufgehört (ÖB 25.11.2020).

Das Antiterrorismusgesetz von 2015 sieht für Journalisten empfindliche Geldstrafen für das Abweichen von der offiziellen Linie der Berichterstattung, etwa über Terroranschläge, vor (AA 13.6.2020; vgl. RSF 2020) und gelegentlich wird die Berichterstattung vollständig untersagt (ACLED 14.5.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.6.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten (Stand: März 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2033569/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_%C3%84gypten_%28Stand_M%C3%A4rz_2020%29%2C_13.06.2020.pdf, Zugriff 18.1.2021

-        AA - Auswärtiges Amt Deutschland (22.1.2019): Ägypten - Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung und COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/aegypten-node/aegyptensicherheit/212622, Zugriff 29.1.2021

-        ACLED - Armed Conflict Location and Event Data Project (14.5.2020): CDT Spotlight: Egypt, https://acleddata.com/2020/05/14/cdt-spotlight-egypt/, Zugriff 29.1.2021

-        ACLED - Armed Conflict Location and Event Data Project (9.4.2020): CDT Spotlight: Islamic State Attacks, https://acleddata.com/2020/04/09/cdt-spotlight-renewed-attacks-by-the-islamic-state/, Zugriff 29.1.2021

-        AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019 - Egypt, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025829.html, Zugriff 19.1.2021

-        BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (18.12.2020): Reiseinformation, Ägypten - Sicherheit & Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/aegypten/, Zugriff 22.1.2021

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Egypt, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025912.html, Zugriff 18.1.2020

-        MAE - Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale [Außenministerium Italien] (16.1.2021): Viaggiare Sicuri informatevi – Egitto, http://www.viaggiaresicuri.it/country/EGY, Zugriff 29.1.2021

-        MEAE/FD - Ministère de l’Europe et des Affaires Étrangères / France diplomatique [Außenministerium Frankreich] (15.1.2021): Egypte - Sécurité, https://www.diplomatie.gouv.fr/fr/conseils-aux-voyageurs/conseils-par-pays-destination/egypte/#securite, Zugriff 29.1.2021

-        MSZ - Ministerstwo Spraw Zagranicznych / Außenministerium Polen (o.D.): Informacje dla podró?uj?cych – Egipt, https://www.gov.pl/web/dyplomacja/egipt, Zugriff 20.1.2021

-        ÖB - Österreichische Botschaft Kairo (25.11.2020): Asylländerbericht Ägypten 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042213/%C3%84GYPTEN__Asyll%C3%A4nderbericht_%28ALB%29_f%C3%Bcr_2020__finale_Version_%28GZ_Kairo-%C3%96B_KONS_1165_2020%29.pdf, Zugriff 21.1.2021

-        OSAC - Overseas Security Advisory Council (30.4.2020): Egypt 2020 Crime & Safety Report, https://www.osac.gov/Country/Egypt/Content/Detail/Report/d1dea62c-57dd-4b34-bbb1-189224fb1423, Zugriff 29.1.2021

-        RSF - Reporters sans frontières / Reporter ohne Grenzen (2020): Ägypten, https://www.reporter-ohne-grenzen.de/aegypten, Zugriff 28.1.2021

4. Rechtsschutz / Justizwesen

Die Verfassung sieht die Unabhängigkeit und Immunität der Richter vor. Einzelnen Gerichten fehlt es manchmal an Unparteilichkeit und diese gelangen zu politisch motivierten Ergebnissen. Die Regierung respektiert in der Regel Gerichtsbeschlüsse (USDOS 11.3.2020). Die Unabhängigkeit der Justiz ist vor allem im Bereich der äußerst weit verstandenen Terrorismusbekämpfung erheblich beeinträchtigt. Willkürliche Verhaftungen, Fälle von erzwungenem Verschwindenlassen von Personen durch die Staatssicherheit und politisch motivierte Gerichtsverfahren sind an der Tagesordnung. Folter und Misshandlungen in Haft sind verbreitet. Die Sicherheitsdienste genießen de facto Straffreiheit. Sie agieren zunehmend außerhalb jedweder rechtlicher Vorgaben und entziehen sich der Kontrolle durch Justiz und Politik (AA 13.6.2020; vgl. ÖB 25.11.2020). Im April 2019 führten Verfassungsänderungen zur Ausweitung der Befugnisse von Militärgerichten bei der Verfolgung von Zivilisten. Sie unterminierten die Unabhängigkeit der Justiz durch die Ausstattung des Präsidenten mit der Befugnis, Vorsitzende von Körperschaften der Justiz zu ernennen (AI 18.2.2020).

Die ägyptische Justiz ist in Zivil- und Strafgerichte einerseits und Verwaltungsgerichte andererseits unterteilt. Jeweils höchste Instanz ist das Kassationsgericht bzw. das Hohe Verwaltungsgericht. Darüber hinaus existieren Sonder- und Militärgerichte. Seit 1969 ist das Oberste Verfassungsgericht das höchste Gericht. Obwohl die Gerichte in Ägypten - mit gewissen Einschränkungen - als relativ unabhängig gelten und sich Richter immer wieder offen gegen den Präsidenten stellten, gab es immer wieder Vorwürfe gegen Richter, Prozesse im Sinn des Regimes zu manipulieren. Solche Vorwürfe werden auch heute noch in Bezug auf die Prozessführung gegen die angeklagten Spitzen des alten Regimes sowie hohe Offiziere der Sicherheitskräfte erhoben. Das Mubarak-Regime bediente sich immer wieder der durch den Ausnahmezustand legitimierten Militärgerichte, um politische Urteile durchzusetzen. Auch nach der Revolution wurden zahlreiche Zivilisten vor Militärgerichten angeklagt (GIZ 6.2020a).

In Ägypten existieren Straftatbestände, die als solche oder in ihrer konkreten Anwendung, eine Diskriminierung aufgrund bestimmter Merkmale darstellen. So wird der Blasphemieparagraph überproportional gegen Christen und Atheisten angewendet. Der Unzuchtparagraph wird nahezu ausschließlich auf homosexuelle Männer angewendet. Harte Strafen gegen Angehörige der Muslimbruderschaft und oppositionspolitische Aktivisten sind häufig Ausdruck einer politisierten Justiz, die nicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verfährt. Anlässlich ägyptischer Feiertage und Großereignisse werden immer wieder Gefangene amnestiert bzw. im formellen Sinne begnadigt. Allerdings profitieren hiervon in der Regel keine politischen Gefangenen, sondern ausschließlich „normale“ Strafgefangene. Allgemeine Voraussetzungen sind in der Regel die Verbüßung von mindestens der Hälfte der Haftzeit und gute Führung in Haft. Das Parlament hat im März 2020 Gesetzesänderungen verabschiedet, die eine vorzeitige Haftentlassung von Personen ausschließen, die aufgrund der Straftatbestände Terrorismus, Geldwäsche, Drogenhandel und illegales Demonstrieren verurteilt sind (AA 13.6.2020).

Gesetzlich ist das Recht auf ein faires Verfahren vorgesehen, aber die Justiz kann dieses Recht oft nicht gewährleisten. Das Gesetz geht von einer Unschuld der Angeklagten aus und die Behörden informieren sie in der Regel unverzüglich und im Detail über die Anklagen gegen sie. Die Angeklagten haben das Recht, bei den Verfahren anwesend zu sein. Die Teilnahme ist verpflichtend für Personen, die eines Verbrechens angeklagt werden, und fakultativ für diejenigen, die wegen Vergehen angeklagt sind. Zivilverhandlungen sind in der Regel öffentlich. Die Angeklagten haben das Recht, einen Anwalt zu konsultieren, und die Regierung ist zuständig für den Rechtsbeistand, wenn der Angeklagte sich keinen Rechtsanwalt leisten kann. Angeklagte haben das Recht auf Berufung. Verhandlungen vor dem Militärgericht sind nicht öffentlich (USDOS 11.3.2020). Die weitgehende Nutzung von außerordentlichen Gerichten, darunter Terrorismusgerichte [orig. terrorism circuits], Militärgerichte und Staatssicherheitsgerichte, führt zu unfairen Verfahren. Es kommt bei Verfahren der Terrorismusgerichte zu Vorwürfen von zwangsweisem Verschwindenlassen und Folter (AI 18.2.2020).

Auch lang andauernde Haft ohne Anklage aufgrund Veranlassung der Sicherheitsbehörden ist verbreitet, die Zahl solcher Haftfälle steigt. Urteile in politisch motivierten Verfahren basieren in der Regel nicht auf rechtsstaatlichen Grundsätzen (AA 13.6.2020).

Besonders in Oberägypten kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, deren Ursache häufig in Streitigkeiten auf lokaler Ebene liegen. Traditionelle Vorstellungen von (Blut-)Rache und (kollektiver) Vergeltung sind in den ländlichen Gebieten Oberägyptens nach wie vor vorherrschend. Traditionelle Streitschlichtungsmechanismen spielen auch aufgrund der Abwesenheit funktionierender staatlicher Institutionen eine große Rolle. Dabei kommt es regelmäßig zu strukturellen Benachteiligungen der Christen (AA 13.6.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.6.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten (Stand: März 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2033569/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_%C3%84gypten_%28Stand_M%C3%A4rz_2020%29%2C_13.06.2020.pdf, Zugriff 18.1.2021

-        AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019 - Egypt, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025829.html, Zugriff 19.1.2021

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020a): Ägypten - Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/aegypten/geschichte-staat/, Zugriff 18.1.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Kairo (25.11.2020): Asylländerbericht Ägypten 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042213/%C3%84GYPTEN__Asyll%C3%A4nderbericht_%28ALB%29_f%C3%Bcr_2020__finale_Version_%28GZ_Kairo-%C3%96B_KONS_1165_2020%29.pdf, Zugriff 21.1.2021

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Egypt, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026355.html, Zugriff 19.1.2021

11. Allgemeine Menschenrechtslage

Die Menschenrechtslage in Ägypten hat sich - bei bereits Besorgnis erregendem Niveau - [im Zeitraum 2019/2020] in fast allen Bereichen weiter verschlechtert (AA 13.6.2020).

Die nach 2011 angestoßene politische Konsolidierung hin zu einem auf einem Rechtsstaat basierenden demokratischen System ist zum Stillstand gekommen. Freiheitsrechte werden systematisch abgebaut. Die 2014 in Kraft getretene Verfassung sieht für das Land das Regierungssystem eines demokratischen Rechtsstaats vor. Viele der darin garantierten Grundrechte finden jedoch keine Anwendung, die Verfassung wird zunehmend ausgehöhlt. Die Präsidentschaftswahlen im März 2018 waren weder frei noch fair. Eine politische Debatte wurde rigoros unterbunden und eine Opposition nicht zugelassen. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Meinungs- und Pressefreiheit sind erheblich eingeschränkt (AA 13.6.2020; vgl. AI 18.2.2020).

Ägypten hat einige internationale Menschenrechtsübereinkommen ratifiziert, so etwa den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den Pakt über wirtschaftliche und soziale Rechte, die Konvention zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen, die UN-Folterkonvention und die UN-Behindertenrechtskonvention, wie auch das Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Erhebliche Vorbehalte zu diesen Instrumenten betreffen unter anderem Bestimmungen betreffend die Gleichstellung von Mann und Frau vor dem Hintergrund islamischen Rechts (Scharia-Vorbehalt) (AA 13.6.2020).

Obwohl Ägypten alle wichtigen internationalen Menschenrechtskonventionen unterzeichnete und Personen- und Freiheitsrechte in der Verfassung geschützt sind, wurde und wird das Land regelmäßig wegen Menschenrechtsverletzungen stark kritisiert. Internationale Menschenrechtsorganisationen sowie viele der über 30 ägyptischen Menschenrechtsorganisationen veröffentlichen regelmäßig englisch- und arabischsprachige Berichte zur Menschenrechtslage in Ägypten, darunter die Egyptian Organization for Human Rights EOHR, das Nadim Zentrum für Gewaltopfer, die Egyptian Initiative for Personal Rights EIPR und das Budgetary and Human Rights Observatory (GIZ 6.2020a).

Die bedeutendsten Menschenrechtsprobleme waren der übermäßige Einsatz von Gewalt durch Sicherheitskräfte, Defizite in ordentlichen Gerichtsverfahren und die Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten. Übermäßiger Einsatz von Gewalt umfasste rechtswidrige Tötungen und Folter. Zu den prozessbedingten Problemen gehört die übermäßige Verwendung von präventiver Haft und Untersuchungshaft. Das Problemfeld bei den bürgerlichen Freiheiten beinhaltet gesellschaftliche und staatliche Beschränkungen der Meinungs- und Medienfreiheit, sowie der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Andere Menschenrechtsprobleme beinhalteten das Verschwindenlassen, harte Gefängnisbedingungen, willkürliche Verhaftungen, eine Justiz, die in einigen Fällen zu Ergebnissen kam, die nicht durch öffentlich zugängliche Beweise gestützt wurden oder die politische Motivationen zu reflektieren schienen, Straflosigkeit für Sicherheitskräfte, Begrenzung der Religionsfreiheit, Korruption, Gewalt, Belästigung und gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen und Mädchen, einschließlich weiblicher Genitalverstümmelung, Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, Menschenhandel, gesellschaftliche Diskriminierung religiöser Minderheiten, Diskriminierung und Verhaftungen auf der Grundlage sexueller Orientierung (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 18.2.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt Deutschland (13.6.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten (Stand März 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2033569/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_%C3%84gypten_%28Stand_M%C3%A4rz_2020%29%2C_13.06.2020.pdf, Zugriff 29.12.2020

-        AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019 - Egypt, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025829.html, Zugriff 19.1.2021

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020a): Ägypten - Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/aegypten/geschichte-staat/, Zugriff 29.12.2020

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Egypt, https://www.ecoi.net/en/document/2026355.html, Zugriff 29.12.2020

18. Relevante Bevölkerungsgruppen

18.1. Frauen

Die Verfassung verpflichtet den Staat, die Gleichheit von Männern und Frauen zu gewährleisten (AA 13.6.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Sie haben jedoch nicht die gleichen gesetzlichen Rechte und Chancen wie Männer. Gesetze und traditionelle Praktiken beeinträchtigten Frauen im Familien-, Sozial- und Wirtschaftsleben und Frauen sehen sich weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung, Bedrohungen ihrer körperlichen Sicherheit und Vorurteilen am Arbeitsplatz ausgesetzt, die ihren sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt behindern (USDOS 11.3.2020). Frauen sind von Arbeitslosigkeit stärker betroffen als Männer (ET 15.12.2020).

Frauen werden auch durch Einzelvorschriften des ägyptischen Rechts diskriminiert. Insbesondere im Familienrecht kommt es zu einer systematischen Ungleichheit und auch im islamischen Erbrecht sind diskriminierende Regelungen vorhanden. Gesellschaftlich herrscht ein konservatives Rollenbild vor. Im öffentlichen Leben sind Frauen präsent, aber deutlich unterrepräsentiert. Bei der Beurteilung der Stellung der Frauen in der Gesellschaft ist nach der sozialen Stellung zu differenzieren. So sind die selbstbewusst und in angesehenen beruflichen Positionen oder öffentlichen Ämtern auftretenden Frauen in aller Regel Angehörige der Oberschicht (AA 13.6.2020).

Sexuelle Belästigungen und Übergriffe gegenüber Frauen finden häufig statt und werden in der Regel nicht strafrechtlich verfolgt (AA 13.6.2020; vgl. AI 18.2.2020, USDOS 11.3.2020). Die Regierung hat die Bemühungen zur Bekämpfung der sexuellen Belästigung priorisiert. Sexuelle Belästigung ist als Straftat definiert und kann mit bis zu sechs Monaten Haft geahndet werden (USDOS 11.3.2020). Dem Problem der verbreiteten sexuellen Gewalt wird vorherrschend durch Wegsehen und Verschweigen begegnet. Frauen, die sich öffentlich zu den Missständen und Übergriffen äußern, werden häufig in den Medien verunglimpft oder sogar strafrechtlich verfolgt. NGOs, die sich für die Rechte von Frauen und Gewaltopfern einsetzen, bemängeln das Fehlen einer Strategie der Regierung, sich dem Problem von Gewalt und Diskriminierung anzunehmen (AA 13.6.2020; vgl. AI 18.2.2020, ÖB 25.11.2020).

Genitalverstümmelung bei Frauen (englisches Akronym: FGM - Female Genital Mutilation) ist ein weit verbreitetes Phänomen, auch wenn die Praxis seit 2008 rechtlich verboten ist (AA 13.6.2020; vgl. USDOS 13.3.2019). Die Höchststrafe liegt bei 15 Jahren Haft. Einem Bericht von UNICEF aus dem Jahr 2016 zufolge befindet sich Ägypten unter den Ländern mit der höchsten FGM-Rate. Eine Umfrage der Regierung von 2015 schätzt, dass 87 % der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren betroffen sind. Die Praxis ist in allen sozialen Schichten und Religionen verbreitet, ist jedoch in den ländlichen Gegenden Oberägyptens besonders prominent. Im Durchschnitt wird der Eingriff im Alter von zehn Jahren durchgeführt (AA 13.6.2020; vgl. ÖB 25.11.2020).

Das Gesetz verbietet Vergewaltigung. Diese wird mit einer Freiheitsstrafe von 15 bis 25 Jahren bestraft. Das Gesetz wird jedoch nicht effektiv umgesetzt. Vergewaltigung in der Ehe ist nicht strafbar. Es gibt Berichte, dass die Polizei auf Opfer Druck ausübt, keine Anzeige zu erstatten (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 13.1.2021).

Häusliche Gewalt bleibt weiterhin ein Problem. Es gibt keine Gesetze, die häusliche Gewalt oder Missbrauch durch den Ehepartner verbieten. Sogenannte „Ehrverbrechen“ werden gesetzlich nicht anders geahndet als andere Verbrechen (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 13.1.2021).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.6.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten (Stand: März 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2033569/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_%C3%84gypten_%28Stand_M%C3%A4rz_2020%29%2C_13.06.2020.pdf, Zugriff 18.1.2021

-        AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019 - Egypt, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025829.html, Zugriff 19.1.2021

-        ET - Egypt Today (15.12.2020): Decline in 2020 unemployment rate shows Egypt's economic progress amid COVID-19 crisis : Cabinet, https://www.egypttoday.com/Article/3/95376/Decline-in-2020-unemployment-rate-shows-Egypt-s-economic-progress, Zugriff 1.2.2021

-        HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Egypt, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043578.html, Zugriff 18.1.2021

-        ÖB - Österreichische Botschaft Kairo (25.11.2020): Asylländerbericht Ägypten 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042213/%C3%84GYPTEN__Asyll%C3%A4nderbericht_%28ALB%29_f%C3%Bcr_2020__finale_Version_%28GZ_Kairo-%C3%96B_KONS_1165_2020%29.pdf, Zugriff 21.1.2021

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Egypt, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026355.html, Zugriff 19.1.2021

18.2. Kinder

Artikel 80 der Verfassung garantiert umfassende Rechte für Kinder, wie z.B. das Recht auf Gesundheit, Bildung, Familie und Unterkunft. Die „Ägyptische Demographische und Gesundheitliche Umfrage“ hat 2014 Daten zu Kinderarbeit nach einem von UNICEF entwickelten Modul erhoben. Danach sind 7 % der Kinder zwischen sieben und 15 Jahren (ca. 1,6 Millionen) Opfer von Kinderarbeit. 2015 hat Ägypten einige Mechanismen eingeführt, um das Vorgehen der Regierung gegen Kinderarbeit besser zu koordinieren. Dazu gehört das „Nationale Koordinierungskomitee zur Bekämpfung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit“. Verschiedene staatliche Institutionen implementieren Hilfsprogramme in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen. Arbeitsminister Mohammad Saafan hat im Juni 2017 verkündet, dass im Vorjahr 23.316 Kinder durch staatliche Razzien aus der Kinderarbeit gerettet wurden (AA 13.6.2020).

Auch die Zahl der Straßenkinder ist hoch und nach offiziellen Angaben in den vergangenen Jahren stark angestiegen; Schätzungen gehen von bis zu einer Million auf der Straße lebenden Kindern aus (AA 13.6.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Straßenkinder leben in einem Zustand der völligen Schutzlosigkeit. Sie sind häufig Opfer von Ausbeutung, körperlicher Gewalt und sexuellen Übergriffen (AA 13.6.2020). Das Ministerium bietet Straßenkindern Unterkünfte an, die von den Kindern jedoch häufig nicht genutzt werden, da Kinder laut der Zivilgesellschaft dort wie Kriminelle behandelt würden (USDOS 11.3.2020).

Der Bildungssektor stellt eine der größten Herausforderungen für Ägypten dar: Trotz gestiegener Investitionen ist die Infrastruktur an Bildungseinrichtungen noch lückenhaft (GIZ 6.2020g). Bildung, bzw. der Besuch der Grundschule ist verpflichtend und kostenlos (AA 13.6.2020; vgl. GIZ 6.2020g; USDOS 11.3.2020). Jedoch ist die Qualität der Schulbildung nicht ausreichend, um eine ausreichende Grundbildung zu gewährleisten (AA 13.6.2020; vgl. GIZ 6.2020g). Die bestehende Schulpflicht wird vielfach nicht durchgesetzt (AA 13.6.2020).

Die Verfassung schreibt vor, dass die Regierung Kinder vor allen Formen von Gewalt, Missbrauch, Misshandlung sowie kommerzieller und sexueller Ausbeutung schützt. Behörden registrieren jeden Monat Hunderte von Fällen von angeblichem Kindesmissbrauch (USDOS 11.3.2020).

Das gesetzliche Alter zur Eheschließung ist 18 Jahre (USDOS 11.3.2020). Gemäß Daten von 2014 waren 17 % aller Frauen vor ihrem 18. Geburtstag, und 2 % aller Frauen bereits vor ihrem 15. Geburtstag verheiratet (UNICEF 2.2020). Weiters sieht das Gesetz Freiheitsstrafen von mindestens fünf Jahren und Geldstrafen von bis zu 200.000 Ägyptischen Pfund wegen Verurteilung der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern und Kinderpornographie vor. Die Regierung setzt das Gesetz nicht ausreichend durch (USDOS 11.3.2020).

Es gibt keine Jugendstrafanstalten, die den besonderen Bedürfnissen Minderjähriger entsprechen. Immer wieder werden Minderjährige im Zuge von politischen Prozessen inhaftiert (AA 13.6.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Menschenrechtsorganisationen berichten, dass auch Minderjährige in Haft misshandelt werden (USDOS 11.3.2020).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden im März 2020 die Schulen bis zum Ende des Schuljahres geschlossen. Das neue Schuljahr begann im Oktober 2020 in hybrider Form mit einem Mix aus Online- und Präsenzunterricht (Ahram 4.11.2020). Nachdem im Herbst lange versucht wurde, neuerliche Schulschließungen zu vermeiden (Ahram 4.11.2020, EI 21.12.2020), wurden ab 2.1.2021 alle Schulen und Universitäten bis auf weiteres geschlossen (ES 1.1.2021).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.6.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten (Stand: März 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2033569/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_%C3%84gypten_%28Stand_M%C3%A4rz_2020%29%2C_13.06.2020.pdf, Zugriff 18.1.2021

-        Ahram Online (4.11.2020): Egyptian cabinet dismisses reports on closing schools, universities over coronavirus concerns, http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/390010/Egypt/Politics-/Egyptian-cabinet-dismisses-reports-on-closing-scho.aspx, Zugriff 25.1.2021

-        EI - Egyptian Independent (21.12.2020): Egypt’s Education Ministry: school attendance no longer mandatory amid COVID-19 surge, https://egyptindependent.com/egypts-education-ministry-school-attendance-no-longer-mandatory-amid-covid-19-surge/, Zugriff 25.1.2021

-        ES - Egyptian Streets (1.1.2021): Egypt Halts In-Class Education and Postpones Exams Amid Rising COVID-19 Cases, https://egyptianstreets.com/2021/01/01/egypt-halts-in-class-education-and-postpones-exams-amid-rising-covid-19-cases/, Zugriff 25.1.2021

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020g): LIPortal, das Länder-Informations-Portal: Ägypten – Gesellschaft, https://www.liportal.de/aegypten/gesellschaft/, Zugriff 20.1.2021

-        UNICEF - Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (2.2020): Global Databases – Child Marriage, https://data.unicef.org/wp-content/uploads/2020/04/Child-marriage-database_Apr2020.xlsx, Zugriff 25.1.2021

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Egypt, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026355.html, Zugriff 19.1.2021

21. Grundversorgung und Wirtschaft

Subventionen zur Absicherung der Grundversorgung der ägyptischen Bevölkerung haben eine lange Tradition und zehren einen erheblichen Teil des Staatshaushaltes auf. Daran ändert auch das mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vereinbarte Reformprogramm, das Kürzungen der staatlichen Subventionen für Elektrizität, Treibstoff, aber auch für Brotgetreide einschließt, nichts. So wurde z.B. nach Kürzung von Subventionen im Sommer 2017 und damit verbundenen Preissteigerungen die Zahl der Berechtigten für Lebensmittelkarten erhöht (bisher schon ca. 70 Mio. Personen) und auch der Umfang der über diese Karten zu beziehenden Güter nochmals ausgedehnt. Nicht-Ägypter haben keinen Zugang zu diesem System (AA 13.6.2020).

Ein weiteres Instrument der sozialen Sicherung liegt im Mietrecht begründet. Für einen Großteil von Mietverträgen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren geschlossen und seitdem innerhalb der Großfamilie weitergegeben wurden, gilt noch eine Mietpreisbindung, die im Altbestand zu teilweise grotesk niedrigen Mieten führt. Für neue Verträge seit ca. 1990 gelten ohnehin die Gesetze des Marktes. Im Rahmen der Erschließung von Wüstenregionen wird ein gewisser Prozentsatz an Land und Wohnungen an arme Bevölkerungsteile verlost (AA 13.6.2020).

Im Rahmen von zwei Sozialhilfeprogrammen KARAMA und TAKAFUL werden zudem verstärkte Schritte für eine gezielte Unterstützung der Ärmsten vorgenommen. Das Karama Projekt sieht monatliche Geldleistungen im Umfang von 40-80 USD an besonders Bedürftige sowie an ältere Menschen und Behinderte vor. Das konditionierte Takaful Projekt zielt auf die finanzielle Unterstützung von Familien mit Kindern ab, vorausgesetzt diese besuchen regelmäßig eine Schule (AA 13.6.2020).

Darüber hinaus existiert ein zwar in seiner Leistungsfähigkeit beschränktes, aber funktionierendes Sozialversicherungssystem, welches Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- und Unfallversicherungselemente enthält und von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam bezahlt wird. Die größten Probleme ergeben sich hier aus relativ geringen tatsächlichen Auszahlungen und der Nichterfassung der großen Anzahl an Personen ohne formelle Erwerbsaktivitäten (informeller Sektor) bzw. solche die arbeitslos sind (AA 13.6.2020; vgl. USSSA 9.2019). Einen erheblichen Beitrag zur sozialen Sicherung leisten karitative Einrichtungen, vornehmlich auf religiöser Basis und wohltätige Stiftungen (AA 13.6.2020).

Subventionsabbau droht - trotz langsam sinkender Inflation und sozialen Gegenmaßnahmen der Regierung die wirtschaftliche Situation vor allem der armen Segmente der Gesellschaft weiter zu verschlechtern. Bisher hat sich der latent in der Bevölkerung vorhandene Unmut nur punktuell manifestiert. Viel wird davon abhängen, wie schnell eine wirtschaftliche Erholung auch diese Schichten erfasst. Daneben zeichnet sich ab, dass Militär und auch Sicherheitsdienste in sozialen Bereichen, beispielsweise in der Verteilung von Lebensmitteln, einspringen und staatliche Aufgaben verstärkt substituieren (AA 13.6.2020).

Ägypten hat per se gute Voraussetzungen um im globalen Wettbewerb zu bestehen und verfügt über eine verhältnismäßig gut diversifizierte Wirtschaft, was bei der Absorbierung von externen wie internen Schocks hilft (WKO 9.2020). Der Dienstleistungssektor absorbiert einen erheblichen Teil der Erwerbstätigen und erwirtschaftet große Teile des Bruttoinlandsproduktes. Einen maßgeblichen Beitrag leistet hierbei der Tourismusbereich (AA 24.6.2019c). Der Dienstleistungssektor bietet rund 50 % der ägyptischen Arbeitskräfte eine Beschäftigung und trägt etwa die Hälfte des BIP bei (GIZ 11.2020c). Schätzungsweise 63 Prozent aller ägyptischen Arbeitskräfte gehören dem informellen Sektor an; er umfasst fast 50 Prozent aller nicht-landwirtschaftlichen Arbeitsplätze einen überwältigenden Anteil von 30-40 Prozent der Wirtschaft des Landes (MEI 22.6.2020; vgl. WKO 9.2019).

Die dramatischen Preiserhöhungen für Grundlebensmittel in den letzten Jahren verschärften den Kaufkraftverlust und trafen vor allem die unteren Einkommensschichten, die mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben. Die Einkommensverteilung hat sich in den letzten drei Jahrzehnten immer stärker zuungunsten der unteren Einkommensschichten entwickelt (GIZ 11.2020c).

Die staatlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung werden heute weithin als unzulänglich kritisiert. Sie bestehen im wesentlichen aus nicht zielgruppenorientierten Subventionen für Grundnahrungsmittel und Energie, extrem niedrigen Sozialhilfe- und Pensionszahlungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen sowie Kredit-, und Entwicklungsprogrammen des Sozialfonds für Entwicklung (SfD), die jedoch weit hinter dem Bedarf zurück bleiben (GIZ 11.2020c).

Die Armutsquote (2019) ist auf ca. 32,5 % gestiegen (die höchste seit 2000). Rund 8,6 % der Bevölkerung sind arbeitslos und ca. 17 % der Familien werden von Frauenarbeit (im informellen Sektor) unterstützt (GIZ 11.2020c). Über USD 20 Mrd. werden jährlich von ägyptischen Migranten aus dem Ausland rücküberwiesen. Diese Überweisungen sind für die Bevölkerung und den Konsum unverzichtbar (WKO 9.2020).

Das dreijährige IWF-Hilfs- und Reformprogramm inklusive Subventionskürzungen ist abgeschlossen. Nun müssen die positiven makroökonomischen Effekte auch die Bevölkerung erreichen. Weiterhin ist der Plan mit einem Wirtschaftswachstum von 6% dem hohen Bevölkerungswachstum entgegenzuwirken. Im Wirtschafts- und Finanzjahr (Juli bis Juni) 2018/2019 konnte mit einem BIP-Wachstum von 5,6 % der höchste Wert in 10 Jahren erreicht werden. Mittelfristig verfolgt Ägypten einen Top-Down-Ansatz mit Megaprojekten (Infrastruktur, Landwirtschaft) durch den Staat und das Militär (WKO 9.2020).

Im Wirtschafts- und Finanzjahr (Juli bis Juni) 2019/2020 konnte trotz COVID-19 im 2. Quartal 2020 noch ein Wachstum von 3,5 % (Ziel war 6 %) erreicht werden. Laut IWF soll Ägypten mit einem Plus von 2 Prozent im Jahr 2020 eines der wenigen Länder mit einem Wirtschaftswachstum sein. Obgleich ein so geringes Wachstum kein Grund zum Feiern ist, steht Ägypten im internationalen Vergleich laut div. Analysten verhältnismäßig gut da. Bemerkenswert ist ein vom Präsidenten angekündigtes und bereits teilweise umgesetztes Rettungs- bzw. Konjunkturpaket über 100 Mrd. Ägyptische Pfund (ca. 6 Mrd. Euro). Manche Analysten beurteilen die Lage etwas prekärer und sehen 30 % des nominalen BIP gefährdet. Da sämtliche Einnahmequellen Ägyptens wohl teils massive Einbrüche (v.a. Tourismuseinnahmen, Remittances, Suezkanalgebühren, ausländische Investitionen) verzeichnen werden, steht die ägyptische Wirtschaft jedenfalls vor neuen Herausforderungen (WKO 9.2020).

Im Zuge der COVID-19-Pandemie ist die offizielle Arbeitslosenrate zum Ende des 2. Quartals 2020 auf 9,6 % gestiegen; von 7,5 % zum selben Zeitpunkt im Jahr zuvor bzw. 7,7 % zum Ende des 1. Quartals 2020 (AN 17.8.2020). Zum Ende des 3. Quartals 2020 ist die Arbeitslosenrate auf 7,3 % gesunken, wobei die Arbeitslosenrate unter Männern bei 5,8 % und bei Frauen bei 15,2 % lag (ET 15.12.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.6.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten (Stand: März 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2033569/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_%C

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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