Entscheidungsdatum
09.07.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
I419 2183978-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. IRAK, vertreten durch BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 09.01.2018, Zl. XXXX , zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem bekämpften Bescheid wies das BFA den Antrag betreffend den Status des Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt I) und zuerkannte dem Beschwerdeführer jenen des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II), wobei es ihm eine Aufenthaltsberechtigung erteilte (Spruchpunkt III), die es später verlängert hat, zuletzt bis 15.01.2023.
2. Die Beschwerde richtet sich gegen Spruchpunkt I. Beschwerdehalber wird vorgebracht, der Beschwerdeführer sei schon 2005 von Mitgliedern der Al Mahdi Miliz, derzeit Saraya al-Salam, entführt und gefoltert worden. Nach seiner Freilassung sei er nach Syrien geflohen und 2012 in den Irak zurückgekehrt. Er habe sich bei den Geschwistern versteckt und erkannt, dass sein Leben unmittelbar in Gefahr sei. Daher sei er nochmals geflüchtet.
Er fürchte Verfolgung wegen seiner sunnitischen Konfession und ferner wegen seiner Miliz-feindlichen Haltung.
3. Zur Beschwerdeverhandlung beantragte er durch seine Rechtsvertretung eine Vernehmung mittels Videokonferenz und erschien nicht.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Ende 50, zum zweiten Mal verheiratet, Sunnit und Araber. Er stammt wie seine erste Frau, die sich von ihm scheiden ließ, und mit der er einen 11 Jahre alten Sohn hat, aus dem Irak, dessen Staatsangehöriger er ist. Seit Ende 2011 ist er mit einer Staatsangehörigen Syriens verheiratet, die in Syrien lebt. Diese lernte er 2011 in Syrien kennen, wohin er 2010 mit der damaligen Gattin gezogen war. Seine erste Frau und der Sohn kehrten vor ihm in den Irak zurück, wo sie geblieben sind, er selbst tat dies Anfang 2012.
Im Herkunftsstaat leben seine Mutter, Mitte 70 und Hausfrau, zwei Brüder und drei Schwestern des Beschwerdeführers. Die Brüder, Anfang 50, sind berufstätig. Einer arbeitet als Buchhalter, der andere hat ein Lebensmittelgeschäft, in dem der Beschwerdeführer von 2012 bis zu seiner Ausreise gearbeitet hat. Seine Schwestern, Ende 40 bis Mitte 50, sind Hausfrauen, ausgenommen die älteste, die eine staatlichen Einrichtung leitet.
Alle diese Angehörigen des Beschwerdeführers leben in Bagdad und sind Sunniten. Der ältere Bruder, der mit einer Schiitin verheiratet ist, und eine Schwester wohnen seit mindestens 2012 im Viertel Al Jamaa (Hay Al-Jami'a) im Stadtbezirk Mansour, einem Viertel, das 2015 mehrheitlich sunnitisch besiedelt war, die Mutter im Viertel Tobji (Topchi) im Bezirk Kadhimya (Kadhimian), das 2015 eine schiitische Mehrheit hatte.
Der Beschwerdeführer und seine Familie waren nie politisch, religiös oder militärisch aktiv. Er hat in Bagdad zehn Jahre die Schule besucht und war anschließend berufstätig als Profi-Boxer. Während des Irak-Iran-Kriegs (1980-88, Anm.) gelang es ihm, dem Wehrdienst zu entgehen. Seinen Wunsch, Boxtrainer zu werden, konnte er nicht verwirklichen. Während er in Syrien lebte, betrieb er eine Möbelhandlung und ein Geschäft mit Klimaanlagen, was ihm ein beträchtliches Einkommen („gutes Geld“) verschaffte.
Er begab sich Mitte September 2015 über Erbil in die Türkei und hält sich seit Oktober 2015 in Österreich auf, wo er einer Sportgruppe beitrat, mit der er mehrmals wöchentlich trainierte. In seiner Unterkunft arbeitete er gegen Remuneration. Er gab an, gerne als Trainer arbeiten zu wollen, bezieht Grundversorgung und führt weder eine Lebensgemeinschaft noch sonst ein Familienleben.
Am 08.06.2020 erlitt er einen Herzinfarkt und war sechs Tage im Spital. Ihm wurden vier Gefäßstützen, sog. „Stents“ implantiert.
Der Beschwerdeführer leidet an Fettleibigkeit (Adipositas), Fettstoffwechselstörung (Hyperlipidämie), krankhafter Reduzierung einer Herzwandbeweglichkeit (Hypokinesie) und einer Gewebevergrößerung, die den Herzmuskel der linken Herzkammer betrifft (Linksventrikuläre Hypertrophie). Ferner wurde eine Dreigefäßerkrankung diagnostiziert, das ist eine Form der koronaren Herzerkrankung, konkret eine hochgradige Verengung in drei Hauptästen der Herzarterien.
Außer mehreren Medikamenten wurde ihm eine Reduktion der Risikofaktoren durch absoluten Verzicht auf Nikotin empfohlen, ferner Ausdauersport von wöchentlich mindestens 150 min mittlerer Intensität oder mindestens 75 min höherer Intensität sowie das Erreichen bestimmter Cholesterin- und Blutdruckwerte. Aus internistischer Sicht sei längeres Autofahren nicht zu empfehlen, um eine mögliche gesundheitliche Verschlechterung zu vermeiden.
Der Beschwerdeführer benötigte bereits kurz nach seiner Antragstellung psychotherapeutische Hilfe, unter anderem wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung und eines Missbrauchssyndroms nach Folterung. Er ist seit Anfang vorigen Jahres in regelmäßiger Behandlung eines Psychiaters, weil er an einer wiederkehrenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradig (ICD: F33.1), sowie einer Reaktion auf nicht näher bezeichnete schwere Belastung leidet (ICD: F43.9). Dagegen helfen Medikamente, die er regelmäßig nehmen soll, und die seinen psychischen Zustand verbessern, solange er sie einnimmt.
Ein praktischer Arzt hat aus der koronaren Herzerkrankung und der (seiner Annahme nach schweren) Depression den Schluss gezogen, dass der Beschwerdeführer nicht sieben Stunden mit dem Zug fahren könne. Die Zugfahrt von der Wohngemeinde des Beschwerdeführers zum Gerichtsstandort dauert regulär 4:14 h und kann an mehreren Stellen unterbrochen und nach einer Stunde mit dem nächsten Zug fortgesetzt werden.
1.2 Zur Situation im Herkunftsstaat:
Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zum Irak auf Stand 24.08.2017 zitiert. Aktuell steht ein am 17.03.2020 erschienenes zur Verfügung. Im gegebenen Zusammenhang sind davon die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:
1.2.1 Sicherheitslage
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020). [...]
Sicherheitslage Bagdad
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).
Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen. […]
1.2.2 Sicherheitskräfte und Milizen
Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).
Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).
Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).
Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).
Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).
Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).
Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr-Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).
Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).
In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).
Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).
Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).
Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).
Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).
Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahestehen (MEE 16.2.2020).
Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahestehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020). [...]
Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali as-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam sind der militärische Arm der Sairoun Partei (Allianz für Reformen, Marsch in Richtung Reform). Diese ist eine multiethnische, nicht-konfessionelle (wenn auch meist schiitische), parlamentarische Koalition, die sich aus anti-iranischen Schiiten-Parteien, der Kommunistischen Partei und einigen anderen kleineren Parteien zusammensetzt (FPRI 19.8.2019). Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam bilden mindestens drei Brigaden und stellen damit das zweitgrößte Kontingent der PMF. Muqtada as-Sadr verkündete, dass die Saraya as-Salam-Brigaden die Durchführungsverordnung von Premierminister Mahdi sofort annehmen würden und fortan nur noch unter den ihnen zugeteilten Nummern, 313, 314 und 315, bekannt sein würden. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass Sadr auch weiterhin großen Einfluss auf diese Milizen haben wird (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass schätzungsweise 15.000 weitere seiner Kämpfer außerhalb der PMF-Brigaden organisiert sind (Wilson Center 27.4.2018). [...]
Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontollieren, was von diesen zurückgewiesen wird (Reuters 29.8.2019). Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger auszuüben (ACCORD 11.12.2019). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).
Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 8.2017).
1.2.3 Folter und unmenschliche Behandlung
Folter und unmenschliche Behandlung sind laut der irakischen Verfassung ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren angewandt, etwa bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte (AA 12.1.2019), oder auch um Geständnisse zu erzwingen (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020; AI 10.4.2019) und Gerichte diese als Beweismittel akzeptieren (USDOS 11.3.2020) auch für die Vollstreckung von Todesurteilen (AI 10.4.2019). Laut Informationen von UNAMI sollen u.a. Bedrohung mit dem Tod, Fixierung mit Handschellen in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks an allen Körperteilen zu den Praktiken gehören (AA 12.1.2019). Ehemalige Häftlinge berichten auch über Todesfälle aufgrund von Folter (AI 26.2.2019). Auch Minderjährige werden Folter unterzogen, um Geständnisse zu erpressen (HRW 6.3.2019).
Weiterhin misshandeln und foltern die Sicherheitskräfte der Regierung, einschließlich der mit den Volksmobilisierungskräften (PMF) verbundenen Milizen und Asayish, Personen während Verhaftungen, Untersuchungshaft und nach Verurteilungen. Internationale Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Fälle von Folter und Misshandlung in Einrichtungen des Innenministeriums und in geringerem Umfang in Haftanstalten des Verteidigungsministeriums sowie in Einrichtungen unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung (KRG). Ehemalige Gefangene, Häftlinge und Menschenrechtsgruppen berichteten von einer Vielzahl von Folterungen und Misshandlungen (USDOS 11.3.2020). Eine Studie zu Berufungsgerichtsentscheidungen zeigt, dass Richter bei fast zwei Dutzend Fällen aus den Jahren 2018 und 2019 Foltervorwürfe ignorierten und auf Grundlage von Geständnissen ohne weitere Beweise Schuldsprüche erließen. Einige dieser Foltervorwürfe waren durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet. Die Berufungsgerichte sprachen die Angeklagten in jedem dieser Fälle frei (HRW 14.1.2020). Das im August 2015 abgeschaffte Menschenrechtsministerium hat nach eigenen Angaben 500 Fälle unerlaubter Gewaltanwendung an die Justiz übergeben, allerdings wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen (AA 12.1.2019).
Trotz der Zusage des damaligen Premierministers Haidar Abadi im September 2017, den Vorwürfen von Folter und außergerichtlichen Tötungen nachzugehen, haben die Behörden im Jahr 2019 keine Schritte unternommen, um diese Missstände zu untersuchen (HRW 14.1.2020).
1.2.4 Minderheiten
Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).
Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20%) (AA 12.1.2019). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).
Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt. Zudem ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen – eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.1.2019). [...]
Sunnitische Araber
Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt (AA 12.1.2019). Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält (USDOS 21.6.2019). Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019).
Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga (USDOS 11.3.2020). Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul (USCIRF 4.2019).
1.2.5 Dem Themendossier von ACCORD zum Irak „Schiitische Milizen“ vom 10.06.2021 ist zu diesen Milizen Folgendes zu entnehmen:
Die Saraya Al-Salam gingen im Zuge der gegen die Regierung gerichteten Proteste im Frühjahr 2020 in Bagdad und weiteren Städten im Südirak unter dem Namen „Blaue Schirmmützen“ gewaltsam gegen DemonstrantInnen vor und besetzen Protestlager. Anfang Februar 2021 marschierte eine Vielzahl von Mitgliedern der Saraya Al-Salam in den Provinzen Karbala und Nadschaf sowie in Bagdad auf, nachdem sie angeblich Informationen über eine Bedrohung der heiligen Stätten erhalten hatten. (1.4)
Betreffend Bagdad berichtet diese Abhandlung von mehreren Wirkungsfeldern der Milizen. Sie konkurrieren mit offiziellen Sicherheitskräften, haben Mitglieder beziehungsweise Verbündete in wichtigen politischen Ämtern und sind teilweise für Übergriffe auf StadtbewohnerInnen verantwortlich, in letzter Zeit konkret für folgende:
- Am 6. Juli 2020 wird der bekannte irakische Analytiker und Politikforscher Hisham al-Hashimi von bewaffneten Männern vor seinem Haus in Bagdad ermordet. Am 1. Juli 2020 wurde seine letzte Studie zu „Internen Meinungsverschiedenheiten in den Volksmobilisierungskräften“ veröffentlicht.
- Am 17. November 2020 kam es zu Raketenangriffen in Richtung US-Botschaft in Bagdad. Von sieben Raketen landen vier in der Grünen Zone und verletzen zwei Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte. Eine weitere Rakete trifft den al-Zawra Park, einen beliebten Park außerhalb der Grünen Zone, bei dem eine achtzehnjährige Frau getötet und fünf ZivilistInnen verletzt werden. Eine Rakete landet in der Medical City, während die siebte Rakete in der Luft explodiert (EPIC, 19. November 2020). Ashab al-Kahf, eine Untergruppe der Kata‘ib-Hisbollah, übernimmt zunächst die Verantwortung, doch Kata‘ib Hisbollah und die Fatah-Koalition bestreiten später die Beteiligung schiitischer Milizen an dem Angriff.
- Am 25. November 2020 wird der irakische Aktivist Akram Adhab von zwei maskierten Männern im Bezirk al-Talbiya, im Osten Bagdads, angeschossen, nachdem er am Tag zuvor die Milizgruppe Rab’Allah auf Facebook kritisierte.
- Am 26. November überfällt Rab'Allah, eine Gruppe mit Verbindungen zu den irakischen Volksmobilisierungskräften (PMF), einen Massagesalon in Bagdad, ruft religiöse Parolen und schlägt die dort arbeitenden Frauen mit Knüppeln und Stöcken.
- Im Dezember wird berichtet, dass militante Gruppen wie Rab'Allah ihre Angriffe auf Spirituosengeschäfte und Nachtclubs in der irakischen Hauptstadt eskaliert haben und als Beispiel vier Explosionen in der Nähe von Spirituosengeschäften und die Tötung eines Inhabers eines Spirituosengeschäftes allein am 15. Dezember genannt. Die Angriffe auf Spirituosengeschäfte werden auch im neuen Jahr weitergeführt.
- Am 15. Dezember 2020 wird Salih al-Iraqi, ein prominenter Protestführer und Kritiker politischer Parteien und Milizen, im Distrikt Bagdad al-Dschadida, im Südosten Bagdads, von zwei Aufständischen erschossen. (2.1)
1.3 Zum Fluchtvorbringen:
1.3.1 Erstbefragt hat der Beschwerdeführer im Oktober 2015 angegeben, schiitische Milizen hätten ihn 2005 entführt und erst nach 5 Jahren sowie Bezahlung von US$ 30.000,-- durch seine Familie wieder freigelassen. Vor „ein paar Monaten“ habe man erneut versucht, ihn zu entführen, jedoch sei ihm die Flucht gelungen. Es gebe „keine Sicherheit mehr“, und bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Den Ausreiseentschluss habe er vor 10 Jahren (also 2005) gefasst.
1.3.2 Beim BFA gab er gut 1,5 Jahre später an, er sei 2005 von uniformierten Bewaffneten mit staatlichen Ausweisen vom Arbeitsplatz mitgenommen, in einem Auto entführt und geschlagen worden. An einem amerikanischen Kontrollpunkt habe er die Amerikaner auf seine Entführung aufmerksam machen können. Diese hätten die Entführer und deren Ausweise fotografiert. Anschließend seien sie ihnen nachgefahren bis in den Adhamiyah-Palast (Gunner Palace, Fort Apache, von den US-Truppen 2005 an die Armee des Irak übergeben, Anm.). Obwohl die Amerikaner ihm bestätigt hätten, dass nichts gegen ihn vorliege, wäre er ins Gefängnis in (dem Stadtbezirk) Khadimiyah verlegt worden, wo man ihn geschlagen und gefoltert habe. Als die Amerikaner dorthin gekommen seien, hätten die Milizen diesen seine Freilassung angekündigt, ihn aber stattdessen in ein Geheimgefängnis gebracht, wo er über zwei Jahre verbracht und Schläge und Hunger erlitten habe.
Dieses Gefängnis hätten die Amerikaner dann entdeckt und einige der Offiziere der Miliz festgenommen, während die Gefangenen für ein Jahr in ein Gefängnis der Wolfsbrigaden (liwaa' adh-dhi'ib, Eliteeinheit des Innenministeriums, Anm.) verlegt und dort ebenfalls gefoltert worden und sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen seien. Auch dieses Gefängnis hätten die Amerikaner geschlossen, worauf der Beschwerdeführer in ein öffentliches Gefängnis ohne Folter gekommen, vor Gericht gestellt und im Oktober 2009 freigesprochen worden sei. Entlassen habe man ihn aber erst nach Zahlung von Lösegeld, welches Geschwister, Onkel und Verwandte für ihn gesammelt hätten.
1.3.3 Anschließend habe er sich den mit 21.04.2010 datierten Personalausweis und einen Reisepass ausstellen lassen. Danach habe er einen seiner Aufseher wiedergesehen, einen Polizisten, der ihn wieder ins Gefängnis bringen habe wollen. Dieser sei Angehöriger der Mahdi-Armee gewesen, habe des Beschwerdeführers Telefonnummer verlangt, ihn mehrmals angerufen und ihn treffen wollen. Der Beschwerdeführer habe zum Schein zugestimmt und sei tags darauf nach Syrien gereist.
1.3.4 Auch in Syrien sei er entführt worden, und zwar etwa einen Monat nachdem er Ende 2011 seine zweite Frau geehelicht habe. Die syrische Al-Abbas-Brigade (Liwa Abu al-Fadl al-Abbas, gegründet Ende 2012, Anm.) habe ihn misshandelt, drei Monate festgehalten und dann gegen Lösegeld entlassen. Anschließend sei er zum Arzt gegangen und nach Bagdad zurückgekehrt, etwa Anfang 2012.
1.3.5 Dort habe er das Viertel Al Jamaa kaum verlassen und sei nur in die Arbeit und zum Arzt außer Haus gegangen. Zuletzt habe er am Arbeitsplatz genächtigt. „Sie“ hätten ihn gesucht, aber nicht gefunden. Ende 2014 habe er die von einem Verwandten betriebene Wechselstube im Nachbarviertel aufgesucht, etwa 30 min zu Fuß entfernt, um seiner Frau Geld zu überweisen, wie er es jeden Monat getan habe. Eine Person in einem vorbeifahrenden Auto habe ihn erkannt. „Sie“ hätten dann in der Wechselstube nach ihm gefragt, und der Verwandte habe ihnen erzählt, dass der Beschwerdeführer Geld überwiesen habe und wieder weggegangen sei. Danach habe sein Bruder die Überweisungen getätigt.
Die Milizen seien nicht zum Beschwerdeführer gekommen, aber zu seiner Mutter in das Viertel Tobji, wann zuletzt wisse er nicht. Sie hassten ihn wegen seiner Religion: Die Schiiten hassten die Sunniten. Auch an seinem Namen sei zu erkennen, dass er Sunnit sei. Sunniten seien nirgends im Irak sicher. Ob seine Angehörigen im Irak bedroht würden, wisse er nicht, aber er würde bei einer Rückkehr getötet werden.
1.3.6 Ergänzend brachte er im Monat darauf vor, er werde im Irak seit Jahren wegen seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit als sunnitischer Araber verfolgt, bedroht, verhaftet und gefoltert. Dazu zitierte er Berichte, wonach 2016 unter anderem in den Provinzen Anbar, Muqdadiya, Babil und Diyala Übergriffe auf Sunniten aus Rache für die Verbrechen des Daesh an den Schiiten vorkamen. Bagdad, wo Sunniten auch von Sicherheitskräften und Milizen mit Misstrauen behandelt würden, hätten Tausende verlassen und in Erbil (im Kurdengebiet, Anm.) Zuflucht gesucht.
1.3.7 In der Beschwerde wird schließlich vorgebracht, der Beschwerdeführer habe sich nach seiner Rückkehr 2012 bei seinen Geschwistern versteckt und sei geflüchtet, weil er erkannt habe, dass sein Leben unmittelbar in Gefahr sei. Die Geldüberweisungen habe in der Regel der Bruder erledigt, nur zwei- oder dreimal sei der Beschwerdeführer selbst zur Bank gegangen.
Hätte er diese nicht rechtzeitig verlassen, wäre er neuerlich von seinen Verfolgern aufgegriffen worden. Das habe er erstbefragt mit der versuchten Entführung vor einigen Monaten gemeint. Die Verfolgung wegen seiner Konfession und Miliz-feindlichen Einstellung drohe dem Beschwerdeführer im ganzen Irak. Die Miliz, die ihn verfolge, stehe den Sicherheitskräften derart nahe, dass es ihr leichtfiele, ihn mit deren Hilfe zu verfolgen.
1.3.8 Der Beschwerdeführer wurde 2005 im Irak und nach dem April 2010 in Syrien entführt und jeweils gegen Lösegeld freigelassen, im Irak spätestens 2009. Mindestens bei einer der Entführungen wurde er in Gefangenschaft misshandelt und schwer verletzt. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Entführung des Beschwerdeführers im Irak aus anderen Gründen erfolgte als zur Erpressung von Geld. Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer seit 2009 von Milizangehörigen im Irak weder Bedrohungen noch Schäden oder Angriffe erlitt.
1.3.9 Er hat keine an asylrelevanten Merkmalen anknüpfende Verfolgung glaubhaft machen können. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat derzeit aus, sei es auch nur unterstellten, Gründen der politischen Gesinnung, Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe staatliche oder eine private Verfolgung drohen würde, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könnte oder wollte, auch nicht als Sunnit und Araber, der eine Abneigung gegen das Militär und die Milizen hat.
2. Beweiswürdigung:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang und der festgestellte Sachverhalt ergeben sich zunächst aus dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des BFA sowie der Beschwerde, ferner den nachgereichten Mitteilungen und genannten Länderinformationen sowie der Beschwerdeverhandlung, wo der Beschwerdeführer sich vertreten ließ.
Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Fremdenregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Register der Sozialversicherungen und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Lebensumstände des Beschwerdeführers samt Ausbildung, Arbeitserfahrung sowie Privat- und Familienleben ergaben sich – soweit hier nicht näher darauf eingegangen wird – aus seinen Angaben, den unstrittigen Feststellungen im Bescheid, dem übrigen Verwaltungsakt und den Abfragen der Register. Zu seiner Gesundheit lagen die Urkunden der Krankenanstalten, der Fachärzte und des Allgemeinmediziners vor, zu seinen Reisemöglichkeiten wurde eine Abfrage auf oebb.at durchgeführt.
Da er die im Rahmen des Parteiengehörs gestellten Fragen unbeantwortet ließ und auch bei der Verhandlung keine aktuelleren Angaben bekannt wurden, war davon auszugehen, dass in den privaten und familiären Umständen keine weiteren Änderungen eingetreten sind.
2.2 Zum Herkunftsstaat
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Irak samt den dort publizierten Quellen und Nach-weisen Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von Nichtregierungsorganisationen, wie z. B. Open Doors, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstands, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Ferner wurden die im Vormonat publizierten Feststellungen von ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation), „ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen“ vom 10.06.2021 herangezogen (www.ecoi.net/de/laender/irak/themendossiers/schiitische-milizen-im-irak), die im Wege der Staatendokumentation des BFA zu finden waren.
Der Beschwerdeführer hat in der Verhandlung durch seine Rechtsvertreterin zu den Länderfeststellungen vorgebracht, im Irak seien nach wie vor schiitische Milizen an der Macht, denen er bekannt sei. Freunde im Irak hätten im mehrfach gesagt, er solle niemals zurückkehren, weil man ihn sonst töten werde. Nach wie vor werde „ständig nach ihm gefragt und gesucht“.
Damit (und auch mit den einschlägigen Zitaten in der Beschwerde, die naturgemäß älteren Datums sind) ist er den Länderfeststellungen nicht qualifiziert entgegengetreten.
2.4 Zum Fluchtvorbringen und zur Rückkehrperspektive
2.4.1 Wie bereits beim BFA vermochte der Beschwerdeführer auch im Beschwerdeverfahren kein plausibles Verfolgungsszenario seine Person betreffend darzulegen, welches auf eine Flüchtlingseigenschaft schließen ließe (und nicht nur auf einen – vom BFA ohnedies angenommenen – Anspruch auf subsidiären Schutz).
Der Beschwerdeführer machte geltend, es gäbe (Art. 4 Abs. 4 Status-RL zufolge) eine „Vermutungswirkung“, wonach eine „erlittene Verfolgung“ ein ernsthafter Hinweis darauf sei, dass die Furcht vor Verfolgung begründet sei. Dabei ist – mit Blick auf den Unterschied zwischen „Verfolgung“ (als Asylgrund) und „ernsthaftem Schaden“ (als Grund für subsidiären Schutz) – zu sehen, dass eine frühere Verfolgung aus einem Asylgrund weder vom BFA festgestellt wurde, noch nunmehr feststeht.
Wenn Art. 4 Abs. 4 Status-RL vorsieht, dass eine „Vorverfolgung“ der schutzsuchenden Person einen „ernsthaften Hinweis“ für die Begründetheit der Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens darstellt, so handelt es sich dabei lediglich um ein Indiz für die in freier Beweiswürdigung durch die Asylbehörde bzw. das Gericht zu treffenden Sachverhaltsfeststellungen aufgrund deren die Beurteilung vorzunehmen ist, ob dem oder der Betroffenen bei Rückkehr weiterhin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im asylrechtlichen Sinn oder ein ernsthafter Schaden als Voraussetzung des subsidiären Schutzes drohen könnte. Liegen dem Gericht „stichhaltige Gründe“ vor, die gegen eine weitere Verfolgung sprechen, kommt dem Umstand einer „Vorverfolgung“ hingegen keine entscheidende Beweiskraft mehr zu (VwGH 13.12.2016, Ro 2016/20/0005mwN).
Für die Entführung des Beschwerdeführers im Jahr 2005 sind keine über die finanziellen hinausgehenden Gründe feststellbar, weil sich der Beschwerdeführer erst beim BFA und selbst dort nur sehr allgemein über die Motive der Täter äußerte („Was wollten die Milizen konkret von Ihnen?“ „Sie hassten mich wegen meiner Religion.“, AS 137) und Probleme wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit ausdrücklich verneinte (AS 138). Zu sehen ist auch, dass seine Angehörigen weiterhin in Bagdad leben (die Mutter in einem mehrheitlich schiitischen Viertel), er selbst als bedrohlich nur die Aufforderung des Polizisten von 2010 (AS 135) nennen konnte, ihn zu treffen, nach eigenen Angaben von 2012 bis Ende 2014 „nicht gefunden“ wurde und auch nach dem behaupteten Vorfall von Ende 2014 (bei dem nach ihm gefragt worden sei) noch bis Mitte September 2015 unbehelligt blieb, als er (erst unerklärt spät) ausreiste (nach seinen Angaben hätte er zuvor bereits z. B. nach Jordanien gekonnt, AS 134).
Es erscheint nachvollziehbar, dass sich der Beschwerdeführer nach seiner Entführung im Herkunftsstaat und einer weiteren in Syrien subjektiv gefährdet sieht, neuerlich einer solchen zum Opfer zu fallen. Da dies aber wegen des vorhandenen subsidiären Schutzes nicht infrage kommt, braucht der Frage nicht nachgegangen werden, ob ihm tatsächlich ein ernsthafter Schaden weiterhin drohen könnte oder stichhaltige Gründe dagegensprechen (wie etwa, dass die Entführung im Irak ca. 12 Jahre her ist). (Vgl. VwGH 03.05.2016, Ra 2015/18/0212) Der spätere Vorfall in Syrien ist nicht einmal behauptetermaßen ein Indiz für Gefahren im Irak.
Neben diesen Erwägungen wirkt betreffend die vorgebrachten Fluchtgründe auch zu Lasten seiner Glaubwürdigkeit, dass einige Widersprüche die Nachvollziehbarkeit des Erzählten erschweren. Neben der behaupteten Freilassung trotz des „Freispruchs“ vom 18.10.2009 erst gegen Lösegeld (AS 69, 135, 156) bzw. nach 5 Jahren (11), was der Geburt des Sohnes spätestes im Mai 2010 (AS 133) widerspricht, ist auf die konträren Angaben zu einer Verfolgung aus Gründen der Volksgruppenzugehörigkeit zu achten (AS 138 versus 141).
Dem BFA ist auch beizupflichten, dass sich in der Einvernahme vom Mai 2017 kein Hinweis auf die in der Erstbefragung im Oktober 2015 behauptete versuchte Entführung vor „ein paar Monaten“ findet. Die in der Beschwerde dafür genannte Nachfrage nach dem Beschwerdeführer Ende 2014 kommt weder von der Handlung her infrage noch vom Zeitpunkt.
Auch die Vornahme der Überweisungen wird unterschiedlich erzählt. Beim BFA gab der Beschwerdeführer aus: „... und gegangen bin. Dann hat mein Bruder die Überweisungen gemacht. Das war Ende 2014. Gefragt gebe ich an, dass ich jedes Monat Geld überwiesen habe und die Wechselstube ca. 30 Minuten Fußmarsch entfernt war.“ (AS 137) In der Beschwerde heißte es dazu, „... dass der BF seiner Frau zwar regelmäßig Geld schickte, jedoch der Bruder des BF in der Regel zur Bank ging und dies für den BF erledigte. Nur zwei oder drei Mal ging der BF selbst zur Bank. Das Geschäft des Bruders war zudem nur wenige Gehminuten entfernt ...“. (S. 9, AS 237)
Daneben belastet die Steigerung des Vorbringens, bis hin zum eifersüchtigen Nebenbuher, der Karriere bei der Miliz gemacht und behauptet habe, dass der den Beschwerdeführer umbringen werde (AS 138) und zu „täglicher Verfolgung“ in der Stellungnahme vom Juni 2017 (AS 144) auch dessen Glaubhaftigkeit. Grundsätzlich ist nämlich davon auszugehen, dass kein Asylwerber eine Gelegenheit ungenützt ließe, zentral entscheidungsrelevantes Vorbringen zu erstatten.
Dies alles verhindert, dass die behauptete Verfolgung des Beschwerdeführers – als zumindest glaubhaft – festgestellt werden könnte, wogegen es der Beschwerde nicht gelang, die Annahme des BFA zu erschüttern, dass die Fluchtgründe des Beschwerdeführers keine asylrelevanten sind.
Bei diesem Ergebnis braucht auf weitere Unstimmigkeiten nicht eingegangen zu werden, wie z. B. den Gegensatz beim Verbleib des Reisepasses (AS 7 versus 131).
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
3.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK droht, und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
3.2 Es ist nach der Rechtsprechung für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn ein Asylwerber im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, dass er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste. (VwGH 13.12.2016, Ro 2016/20/0005 mwN)
3.3 Zum Vorbringen des Beschwerdeführers ist festzuhalten, dass das Geschilderte (Nachstellungen unterschiedlicher Intensität, Entführungsversuch) soweit es die behaupteten Erlebnisse im Jahr vor der Ausreise und deren Kausalität als Fluchtgründe betrifft - wie es bereits das BFA sah - als unglaubwürdig und damit als nichtzutreffend erscheint. Sogar gegebenenfalls wäre es aber nicht als Grund anzusehen, dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, weil keine glaubhafte Verfolgung aus dem Grund der Konfession oder der Ethnie des Beschwerdeführers oder seiner politischen Gesinnung (Einstellung zu Milizen) vorläge. Demnach würde es sich um eine solche (eventuell private) Verfolgung handeln, für die keiner der in 3.1 genannten Gründe feststellbar ist, und vor welcher der subsidiäre Schutz den Beschwerdeführer bewahrt.
3.4 Wie die Feststellungen zeigen, hat der Beschwerdeführer damit also keine Verfolgung oder Bedrohung glaubhaft gemacht, die asylrelevante Qualität hätte. Da auf eine asylrelevante Verfolgung auch sonst nichts hinweist, ist davon auszugehen, dass ihm keine Verfolgung aus den in der GFK genannten Gründen droht. Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Deshalb war die Beschwerde wie geschehen als unbegründet abzuweisen.
3.5 Gemäß § 45 Abs. 2 VwGVG hindert nach der Rechtsprechung dann, wenn eine Partei trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen ist, dies weder die Durchführung der Verhandlung noch die Fällung des Erkenntnisses. Nach dem gemäß § 17 VwGVG im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht anzuwendenden § 19 Abs. 3 AVG hat, wer nicht durch Krankheit, Gebrechlichkeit oder sonstige begründete Hindernisse vom Erscheinen abgehalten ist, die Verpflichtung, der Ladung Folge zu leisten. (VwGH 11.01.2018, Ra 2017/11/0296) Eine rechtswirksam geladene Partei hat die zwingenden Gründe für ihr Nichterscheinen darzutun. Die Triftigkeit des Nichterscheinens muss überprüfbar sein. (VwGH 26.05.2020, Ra 2020/21/0144 mwN)
Ob eine Entschuldigung die Abwesenheit rechtfertigt oder nicht, unterliegt der Beurteilung der Behörde. (VwGH 26.02.2014, 2012/02/0079) Da die für den Beschwerdeführer erforderliche Anreisedauer die vom praktischen Arzt angegebene Dauer bei weitem nicht erreicht (welche für sich genommen auch nicht nachvollziehbar begründet wurde, vgl. VwGH 17.02.2016, Ra 2015/08/0006) und noch dazu in kürzere Intervalle mit Pausen aufteilbar ist, lag fallbezogen kein sonstiges begründetes Hindernis im Sinn des § 19 Abs. 3 AVG vor, eine Gebrechlichkeit in diesem Sinn schied mit Blick auf die empfohlenen 150 min Ausdauersport mittlerer Intensität pro Woche aus.
Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begr