TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/21 W248 2195222-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.07.2021
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Entscheidungsdatum

21.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W248 2195222-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg vom 23.04.2018, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.06.2021 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1.       Verfahrensgang:

1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsbürger, stellte am 11.03.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, Landespolizeidirektion XXXX XXXX am 12.03.2017, gab der Beschwerdeführer an, aus dem Dorf XXXX welches im Distrikt Chak in der afghanischen Provinz Maidan Wardak liege, zu stammen. Seine Muttersprache sei Pashto. Er gab weiters an, den Namen XXXX zu führen, ledig, afghanischer Staatsbürger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Moslem zu sein. Seine Eltern, seine zwei jüngeren Brüder und seine Schwester würden sich noch in seinem Heimatdorf in Afghanistan befinden. Der Beschwerdeführer habe zehn Jahre lang eine Grundschule besucht und verfüge über keine Arbeitserfahrung. Den Entschluss, Afghanistan zu verlassen, habe der Beschwerdeführer etwa einen Monat vor seiner Ausreise gefasst. Die Reise nach Österreich habe etwa 17 Monate gedauert, da er etwa vier Monate in Türkei, acht Monate in Griechenland, drei bis vier Monate in Serbien und etwa viereinhalb Monate in Ungarn verbracht habe. Insgesamt habe er bereits zwei negative Asylbescheide erhalten. Die Kosten der Schleppung hätten etwa EUR 10.000,- betragen.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Herkunftsdistrikt von den Taliban eingenommen worden sei. Die Taliban würden sämtliche junge Männer zwingen, für sie zu arbeiten und für sie zu kämpfen. Sie hätten den Beschwerdeführer zweimal geschlagen und ihn aufgefordert, für sie zu kämpfen. Für den Falle einer Weigerung sei er von den Taliban mit dem Tod bedroht worden. 15 Tage nach dem Vorfall habe er sich entschlossen, aus Afghanistan zu flüchten. Die Taliban hätten nicht erlaubt, dass er die Schule besuche. Da der Beschwerdeführer der älteste Sohn sei, hätte er sich den Taliban anschließen müssen. Die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan sei schlecht. Im Falle einer Rückkehr fürchte er sich, aufgrund seiner Weigerung von den Taliban getötet zu werden. Als Europarückkehrer könne der Beschwerdeführer in Afghanistan nicht überleben.

3. Am 06.02.2018 übermittelte der Beschwerdeführer diverse Integrationsunterlagen.

4. Am 13.04.2018 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einem Dolmetscher für die Sprache Pashto statt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass in seinem Herkunftsdistrikt die Taliban herrschen würden. Die Taliban würden die jungen Männer rekrutieren, wenn es nötig sei auch mit Zwang. Der Beschwerdeführer sei zweimal von den Taliban geschlagen worden, einmal auf dem Schulweg und das zweite Mal im Dorf. Sie hätten ihn aufgefordert, sich ihnen anzuschließen. Nach seiner Weigerung sei er mit dem Tod bedroht worden. Der zweite Rekrutierungsversuch habe sich etwa 20-21 Tage nach dem ersten Versuch ereignet, etwa 15 Tage nach der zweiten Drohung habe der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen. Seit sich der Beschwerdeführer erinnern könne, seien die Taliban in seinem Distrikt an der Macht. Lediglich ein Jahr lang habe die Regierung den Distrikt zurückerobern können. Im Falle einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer von den Taliban verfolgt und getötet werden. Die Taliban würden insbesondere Europarückkehrer als „Ungläubige“ bezeichnen und verfolgen. Nach der Ausreise des Beschwerdeführers sei sein Vater von den Taliban mitgenommen worden. Durch die Vermittlung der „Weißbärtigen“ sei der Vater jedoch nach etwa einem Monat wieder freigelassen worden. Vor etwa sieben Monaten sei auch der Bruder des Beschwerdeführers von den Taliban mitgenommen worden. Was mit ihm geschehen sei, wisse niemand. Die Familie des Beschwerdeführers sei gegen die Taliban, äußere sich jedoch nicht darüber. Vor der Ausreise des Beschwerdeführers hätten die Dorfältesten sich bei den Taliban dafür verbürgt, dass sich der Beschwerdeführer freiwillig den Taliban anschließe.

5. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in der Einvernahme ausgeführt habe, dass es seiner Familie gut gehe und seine Brüder die Schule besuchen würden. Etwas später in der Einvernahme habe er überraschend angegeben, dass sein Bruder vor etwa sieben Monaten von den Taliban entführt worden sei. Der Beschwerdeführer habe zuvor widersprüchlich angeführt, dass kein Familienmitglied Kontakt zu den Taliban gehabt habe. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer die Entführung seines Vaters und seines Bruders nicht bereits in der freien Erzählung angegeben habe. Die Tatsache, dass die Familie des Beschwerdeführers weiterhin im Herkunftsdorf lebe, spreche gegen die behauptete Entführung des Bruders. Wäre der Bruder entführt worden, würden die Eltern wohl nicht weiterhin in ihrem Herkunftsdorf leben. Die Aussagen des Beschwerdeführers betreffend die Entführung seines Vaters und seines Bruders würden daher als Schutzbehauptung gewertet. Nicht nachvollziehbar sei weiters, dass der Beschwerdeführer nicht bereits nach der ersten Bedrohung durch die Taliban sein Herkunftsdorf verlassen habe, zumal die Dorfältesten mit den Taliban vereinbart hätten, dass er sich freiwillig anschließen werde. Auch nach der zweiten Bedrohung habe der Beschwerdeführer nicht umgehend sein Herkunftsdorf verlassen, sondern sei weitere 15 Tage geblieben. Er habe daher eine persönlich ihn betreffende Rekrutierung durch die Taliban nicht glaubhaft darlegen können. Dass die Taliban den Beschwerdeführer in ganz Afghanistan suchen würden, sei nicht anzunehmen, zumal er über keinerlei besondere Fähigkeiten verfüge. Selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens würden unspezifisch gegen eine Person gerichtete Aufforderungen, sich den Taliban anzuschließen, noch keine individuelle Verfolgung darstellen, zumal keine individualisierte Bedrohung oder Verfolgung gegeben sei. Als einzigen Grund für die Rekrutierungsversuche habe der Beschwerdeführer angeführt, dass er jung gewesen sei. Er habe insgesamt keine konkrete Verfolgungsgefahr durch die Taliban glaubhaft machen können. Der Beschwerdeführer könne daher nach Afghanistan zurückkehren.

Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer nach Afghanistan zurückkehren könne, eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Maidan Wardak erscheine aufgrund der volatilen Sicherheitslage jedoch nicht durchführbar. Dem Beschwerdeführer stehe allerdings eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul zur Verfügung. Er sei jung, gesund, arbeitsfähig und verfüge über Schulbildung und Arbeitserfahrung. Er könne zudem mit finanzieller Unterstützung seiner Eltern rechnen. Weiters werde auf das Paschtunwali verwiesen.

Der Bescheid des BFA wurde dem Beschwerdeführer am 30.04.2018 zugestellt.

6. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 26.04.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der XXXX amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.

7. Mit Schreiben vom 07.05.2018 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den XXXX , Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA und legte eine Vollmacht für die genannte Organisation vor.

Der Beschwerdeführer führte in seiner Beschwerde aus, dass die Beweiswürdigung der belangten Behörde nicht nachvollziehbar sei, zumal er sein Fluchtvorbringen glaubhaft und substantiiert dargelegt habe. Er habe einer Hinrichtung durch die Taliban nur durch die Flucht entgehen können. Er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, da sein Herkunftsdorf von den Taliban regiert werde und ihm daher seine dortigen sozialen Anknüpfungspunkte nichts bringen würden. Der Beschwerdeführer habe keine Verwandten oder Freunde in Kabul oder in anderen afghanischen Städten. Als Europarückkehrer gehöre er einer vulnerablen Personengruppe an, zudem befinde er sich im wehrfähigen Alter und wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit von Zwangsrekrutierung betroffen. Der Beschwerdeführer verwies auf die schlechte Sicherheits- und Wirtschaftslage in afghanischen Städten.

8. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 15.05.2018 mit Schreiben des BFA vom 08.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

9. Am 22.07.2018 übermittelte der Beschwerdeführer medizinische Unterlagen vom 03.06.2018, wobei ein XXXX diagnostiziert und behandelt wurde.

10. Am 19.09.2018 übermittelte der Beschwerdeführer ein ÖSD-Zertifikat A1 vom 09.05.2018.

11. Mit Schreiben 16.07.2020 gab der Beschwerdeführer bekannt, dass er XXXX , mit seiner Vertretung beauftragt habe, und übermittelte weitere Integrationsunterlagen.

12. Am 14.06.2021 übermittelte der Beschwerdeführer ein ÖSD Zertifikat A2 vom 02.10.2019 sowie die Bestätigung, dass er voraussichtlich im Juli 2021 seinen Pflichtschulabschluss positiv abschließen werde.

13. Am 21.06.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertretung und einer Dolmetscherin für die Sprache Pashto statt. In dieser Verhandlung wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und hatte die Möglichkeit, diese Gründe umfassend darzulegen. Das BFA als belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Der Beschwerdeführer führte zu seinem Gesundheitszustand aus, gesund und arbeitsfähig zu sein. Die Exzision des XXXX habe bereits stattgefunden, gelegentlich habe er auch noch Beschwerden, sodass er nicht vollständig gesund sei. Er gab weiters an, seit etwa einem Jahr keinen Kontakt mehr zu seiner Familie zu haben. Von seinem Vater habe er erfahren, dass sein Bruder XXXX getötet worden sei. Die übrigen Familienmitglieder würden sich noch in seinem Herkunftsdorf aufhalten. Die finanzielle Situation seiner Familie sei mittelmäßig gewesen. Da der Beschwerdeführer seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen habe, kenne er sich damit aus.

Befragt zu seinen Fluchtgründen wiederholte der Beschwerdeführer, dass er zweimal von Taliban angesprochen und zur Mitarbeit aufgefordert worden sei. Die Taliban seien seit der Machtübernahme von Hamid Karzai in seinem Herkunftsdistrikt aktiv. Der erste Zwangsrekrutierungsversuch habe sich auf den Schulweg ereignet, er sei geschlagen worden und anschließend nach Hause gegangen. Der zweite Versuch habe sich im familieneigenen Obstgarten ereignet, wo er erneut geschlagen und bedroht worden sei. Die Weißbärtigen hätten auf ihren Feldern in der Nähe gearbeitet und seien dem Beschwerdeführer zu Hilfe gekommen. Mit den Weißbärtigen habe es auch nach der Flucht des Beschwerdeführers keine Schwierigkeiten gegeben. Der Beschwerdeführer denke nicht, dass seine Familie ihn aktuell unterstützen könnte. Der Beschwerdeführer könnte auch nicht in Mazar-e Sharif oder einer anderen Großstadt leben, da die Taliban aktuell sehr mächtig seien.

Der Beschwerdeführer verwies auf die zahlreichen aktuellen Medienberichte, nach denen es seit Beginn des Abzuges der Internationalen-Truppen zunehmend zur Gewalt in Afghanistan gekommen sei. Er verwies insbesondere auf eine Entschließung des EU-Parlaments von 10.06.2021 zur Lage in Afghanistan, Zahl: 2021/2712 (RSP). Das EU-Parlament sei der Ansicht, dass sich Afghanistan in einer kritischen Lage befinde, da eine instabile innerstaatliche Situation, eine sich verschlechternde Sicherheitslage und die Entscheidung, die Truppen der Vereinigten Staaten und der NATO bis zum 11.09.2021 abzuziehen, aufeinander treffen würden, was zu neuer Unsicherheit, der Gefahr einer Zuspitzung interner Konflikte und einem Vakuum führen könne, das im schlimmsten Fall von den Taliban gefüllt werde. Es werde in dieser Entschließung auch insbesondere auf den gravierenden Anstieg der Gewalt in Afghanistan, einschließlich der gezielten Ermordung von Angehörigen der Zivilgesellschaft verwiesen. Darüber hinaus habe das EU-Parlament festgestellt, dass die COVID-19-Pandemie die Armutsquote dramatisch erhöht habe, da Covid-19-bezogene Maßnahmen und die sich verschlechternde Sicherheitslage zur Einschränkungen des Zugangs der afghanischen Bevölkerung zu humanitären Hilfe geführt hätten. Zudem werde auf eine aktuelle Studie der Diakonie Deutschland von Juni 2021 verwiesen, wonach Abgeschobene und deren Angehörige in Afghanistan allein auf Grund der Tatsache, dass sie in Europa gewesen seien, nicht nur durch die Taliban, sondern auch durch staatliche Akteure und das soziale Umfeld von Gewalt bedroht würden.

Der Beschwerdeführer legte zwei Unterstützungsschreiben vor.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht mit hinreichender Sicherheit fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Pashto. Er spricht zudem Dari, Englisch und Deutsch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX welches sich im Distrikt , in der afghanischen Provinz (Maidan) Wardak befindet, wo er gemeinsam mit seinen Eltern, seinen beiden Brüdern und seiner Schwester lebte. Zumindest bis vor einem Jahr lebten seine Familienangehörigen noch in seinem Herkunftsdorf. Die Familie des Beschwerdeführers ist für afghanische Verhältnisse wohlhabend und besitzt ein Haus, landwirtschaftlich genutzte Grundstücke und drei Kühe. Der Beschwerdeführer hat einen Onkel väterlicherseits, fünf Tanten väterlicherseits und zwei Onkel mütterlicherseits, welche in der Provinz Maidan Wardak in verschiedenen Dörfern leben. Der Beschwerdeführer hat daher familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine zehnjährige Schulbildung und über Arbeitserfahrung als Hilfsarbeiter in der familieneigenen Landwirtschaft.

Der Beschwerdeführer ist jung, hinreichend gesund, arbeitsfähig und befindet sich im erwerbsfähigen Alter. Der Beschwerdeführer zählt zu keiner COVID-19-Risikogruppe.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer ist unbescholten.

2.2.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich seit vier Jahren und vier Monaten durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 11.03.2017 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich bisher Deutschkurse bis zum Niveau A2 besucht und die Deutschprüfung A2 absolviert. Er besucht aktuell einen Pflichtschulabschlusslehrgang und hat bereits einige Prüfungen abgelegt. Der Beschwerdeführer wird seinen Pflichtschulabschluss voraussichtlich im Juli 2021 beenden. Er hat weitere Deutsch- und Integrationskurse besucht. Er ist aktuell nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation.

Der Beschwerdeführer ist nicht erwerbstätig und lebt von der Grundversorgung. Er legte keine Einstellungszusagen vor.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Verwandten oder sonstige enge soziale Bindungen. Er hat in Österreich keine Sorgepflichten und kann bisher keine außergewöhnlichen Integrationserfolge aufweisen.

2.3.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es fanden keine Zwangsrekrutierungsversuche der Taliban statt, die zur Ausreise des Beschwerdeführers geführt hätten. Die Dorfältesten bürgten nicht für den Beschwerdeführer. Der Beschwerdeführer ist nicht (in asylrelevanter Weise) ins Blickfeld der Taliban oder sonstiger radikaler Gruppierungen geraten und wird auch nicht von ihnen gesucht.

Der Vater des Beschwerdeführers wurde nicht von den Taliban entführt und aufgrund der Vermittlung der Dorfältesten wieder freigelassen. Ob sein Bruder XXXX getötet wurde bzw. von wem sein Bruder getötet wurde, kann nicht festgestellt werden.

Weiters kann nicht festgestellt werden, ob es in der Vergangenheit Zwangsrekrutierungsversuche der Taliban im Herkunftsdorf des Beschwerdeführers gab.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr verlassen.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im September oder Oktober 2015 und reiste schlepperunterstützt nach Europa. Die Reise dauerte etwa 17 bis 18 Monate.

2.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Volksgruppenzugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Es liegt keine „westliche“ Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden wäre.

Der Beschwerdeführer kann daher nach Afghanistan zurückkehren. Die Sicherheitslage ist innerhalb der Provinzen sehr unterschiedlich, sodass konkret zwischen volatilen und relativ sicheren Provinzen zu unterscheiden ist.

Seine Herkunftsprovinz (Maidan) Wardak wird in den vorliegenden, aktuellen Länderinformationen als eine der am heftigsten umkämpften Provinzen Afghanistans bezeichnet, welche zum größten Teil von den Taliban kontrolliert wird, sodass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr dorthin aufgrund der volatilen Sicherheitslage nicht möglich ist. Die Sicherheitslage hat sich im Lauf des Jahres 2019 verschlechtert, und seit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020 hat der Einfluss der Taliban in Wardak zugenommen. Schätzungen zufolge befinden sich die Distrikte Daimir Dad, Nerkh, Jalrez und Sayyid Abad mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Chak-e-Wardak, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu und Maidan Shahr umkämpft sind.

Dem Beschwerdeführer steht die Stadt Mazar-e Sharif als innerstaatliche Ansiedlungsalternativen zur Verfügung.

Die Sicherheitslage in Mazar-e Sharif kann nicht gänzlich isoliert von den anderen Distrikten der Provinz Balkh betrachtet werden. Die Sicherheitslage hat sich in der Provinz Balkh in den letzten Jahren stetig verschlechtert. Auch in Mazar-e Sharif wurde eine Verschlechterung der Sicherheitslage in den letzten Jahren dokumentiert. Trotz des Anstiegs der Kriminalität und der sicherheitsrelevanten Vorfälle gilt diese Stadt jedoch noch als vergleichsweise sicher. Mazar-e Sharif verfügt über einen internationalen Flughafen. Die Anreise nach Mazar-e Sharif kann weitgehend gefahrfrei erfolgen.

Die Wohnraum-, Arbeitsmarkt- und Versorgungslage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif waren bereits vor der Covid-19 Pandemie angespannt. Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Die sozioökonomischen Auswirkungen von Covid-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit. Die Auswirkungen von Covid-19 und der damit einhergehende Lockdown hatten gravierende Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der afghanischen Bürger. Aufgrund des Lockdowns verloren viele Menschen Arbeit und Einkommen. Der Anstieg der Preise bei Grundnahrungsmitteln wie Öl und Kartoffeln verschärfte die wirtschaftliche Notlage eines erheblichen Teils der afghanischen Bevölkerung. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege für Lebensmittel scheinen seit April 2020 zwar nachgelassen zu haben, wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis …) um 18-31% gestiegen sind. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert. Die Situation der Ernährungssicherheit ist jedoch nach wie vor besorgniserregend und wird sich in der mageren Jahreszeit 2021-2022 voraussichtlich weiter verschlechtern.

Laut Prognose des FEWS befindet sich die Versorgungslage in Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2021 bis September 2021 in der zweitniedrigsten Stufe 2 „stressed“ (Stufe 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“) des Klassifizierungssystems für Nahrungsmittelversorgung.

Die Arbeitsmarktsituation ist auch in Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber, und ohne Kontakte ist es schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch. Die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden. Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Es gebe nur sehr begrenzt offizielle Arbeitsplätze. Da die Aufnahmegemeinden hier mit den gleichen Problemen konfrontiert seien und für sich beanspruchen würden, vorrangig behandelt zu werden, sei es für IDPs und manche Rückkehrende noch schwieriger, Zugang zu Arbeitsplätzen zu erhalten. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig.

In Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Auch eine Person, die in Mazar-e Sharif keine Familie hat, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden. Des Weiteren gibt es in Mazar-e Sharif eine Anzahl von Hotels sowie Gast- oder Teehäusern, welche unter anderem von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Die Teehäuser waren während des Lockdowns in Afghanistan im März 2020 vorübergehend geschlossen, sind jedoch aktuell wieder geöffnet.

Es gibt aktuell in Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. 

UNHCR und IOM leisten für Rückkehrer in der ersten Zeit nach der Rückkehr nach Afghanistan Unterstützung.

Eine eventuell notwendige medizinische Versorgung wäre für den Beschwerdeführer in Mazar-e Sharif gewährleistet.

Der Beschwerdeführer verfügt zwar über keine Ortskenntnisse in Mazar-e Sharif, er ist jedoch sehr anpassungsfähig, da er sich trotz seines jungen Alters nach der Ausreise aus Afghanistan ohne entsprechende Sprachkenntnisse behaupten und mehrere Monate in diversen fremden Ländern leben konnte. Durch seinen Aufenthalt in Österreich verfügt er über mehr Lebenserfahrung, welche ihm insbesondere in der aktuell angespannten Situation behilflich sein wird, um ein geregeltes Einkommen zu sichern.

Der Beschwerdeführer verfügt über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Jedenfalls bis vor einem Jahr hat seine Kernfamilie noch in seinem Herkunftsdorf gelebt. Es kann nicht festgestellt werden, dass seine Familie mittlerweile das Herkunftsdorf verlassen hat sowie, dass der Beschwerdeführer seit etwa einem Jahr keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hat. Der Vater konnte für den Beschwerdeführer die Kosten der Flucht in Höhe von EUR 10.000,- bezahlen, sodass die Familie für afghanische Verhältnisse als wohlhabend bezeichnet werden kann. Der Beschwerdeführer verfügt im Vergleich zu sehr vielen anderen Afghanen über eine gute Schulbildung und spricht sowohl Pashto als auch Dari. Er verfügt zudem über Arbeitserfahrung als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter. Er ist hinreichend gesund, arbeitsfähig und im erwerbsfähigen Alter. Der Beschwerdeführer könnte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit finanzieller Unterstützung seiner Familie rechnen. Er verfügt zudem über weitere Verwandte in Afghanistan. Der Beschwerdeführer wäre auch ohne familiäre Unterstützung, insbesondere aufgrund seiner Bildung, auf sich gestellt in der Lage zurechtzukommen und seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Nach Ansicht des Gerichtes wäre der Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Verhältnisse trotz der aktuell angespannten Wirtschaftslage im Stande, sich grundsätzlich und auch in der derzeitigen Situation selbstständig eine Existenz in Afghanistan aufzubauen. Wie von UNHCR gefordert, ist der notwendige Zugang zu Nahrungsmitteln, zu einer Arbeit, zu einer Unterkunft und zu medizinsicher Versorgung, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten, auch ohne finanzielle Unterstützung seiner Angehörigen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit für den Beschwerdeführer gewährleistet. Das erkennende Gericht geht davon aus, dass er in Mazar-e Sharif ein Leben ohne unbillige Härte führen können wird, wie es auch anderen Landsleuten möglich ist, und nicht in eine ausweglose Situation geraten würde.

Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und der Berichte des EASO aus Dezember 2020 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist dem Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Verhältnisse eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Mazar-e Sharif zumutbar.

2.5      Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR)

-        EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis vom Dezember 2020 (EASO)

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020

-        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 27.01.2021

-        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 06.05.2021

-        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 06.05.2021

-        ACCORD Anfragebeantwortung Afghanistan: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamischen Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa vom 15.06.2020

-        Landinfo-Report vom 29.06.2017 zur Zwangsrekrutierung durch die Taliban

2.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel Politische Lage).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Drei Behörden verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und das Nationale Direktorat für Sicherheit (NDS). Die dem Innenministerium unterstellte Afghanische Nationalpolizei (ANP) trägt die Hauptverantwortung für die innere Ordnung und für die Afghan Local Police (ALP), eine gemeindebasierte Selbstverteidigungstruppe, die rechtlich nicht in der Lage ist, Verhaftungen vorzunehmen oder Verbrechen unabhängig zu untersuchen. Die Afghanische Nationalarmee (ANA), die dem Verteidigungsministerium untersteht, ist für die äußere Sicherheit zuständig, ihre Hauptaufgabe ist jedoch die Aufstandsbekämpfung im Inneren. Das NDS fungiert als Nachrichtendienst und ist für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, die die nationale Sicherheit betreffen. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel Sicherheitsbehörden).

Im Juni 2020 kündigte Präsident Ghani Pläne an, die afghanische Lokalpolizei in andere Zweige der Sicherheitskräfte einzugliedern, vorausgesetzt, die Personen können eine Bilanz vorweisen, die frei von Vorwürfen der Korruption und Menschenrechtsverletzungen ist. Ende 2020 war die Umsetzung dieser Pläne im Gange (LIB, Kapitel Sicherheitsbehörden).

Am 30. September endete die Finanzierung der afghanischen Lokalpolizei (Afghan Local Police - ALP), der größten und am längsten bestehenden afghanischen lokalen Verteidigungseinheit. Die Truppe hat eine gemischte Bilanz vorzuweisen: Einige Einheiten haben ihre Gemeinden effektiv und entschlossen verteidigt, während andere sich so schlecht verhielten, dass sie Unterstützung für die Taliban hervorriefen. Doch wie auch immer die Bilanz der einzelnen Einheiten ausfällt, die Auflösung der Truppe wird zwangsläufig Auswirkungen auf die Sicherheit haben Der Plan sieht vor, dass ein Drittel der ALP entwaffnet und in den Ruhestand versetzt wird, ein Drittel in die Afghanische Nationalpolizei (ANP) und ein Drittel in die Afghanische Nationale Armee (Afghan National Army Territorial Force - ANA-TF) überführt wird. Die Innen- und Verteidigungsministerien haben nun drei Monate Zeit, um die rund 18.000 bewaffneten Männer zu sortieren, zu versetzen und umzuschulen oder zu entwaffnen und in den Ruhestand zu versetzen, die sich in 31 der 34 Provinzen Afghanistans aufhalten - inmitten eines Krieges und einer immer noch andauernden Pandemie (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 06.05.2021).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel Zivile Opfer).

Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13% (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (LIB, Kapitel Zivile Opfer).

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (LIB, Kapitel Die Sicherheitslage im Jahr 2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten. Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand. Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (LIB, Kapitel Die Sicherheitslage im Jahr 2020).

2.5.1.1. Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wieder aufgenommen worden. Am 18.03.2021 empfing die russische Regierung Vertreter der afghanischen Regierung, der Taliban und von Partnerländern zu einem Gipfeltreffen, das die Friedensgespräche voranbringen sollte. Der 12-köpfigen afghanischen Regierungsdelegation gehörte eine Frau, Dr. Habiba Sarabi, an - ein Rückschritt gegenüber der Teilnahme von vier Frauen unter den 20 Mitgliedern beim innerafghanischen Dialog in Doha, Katar, im September 2020. Die 10-köpfige Taliban-Delegation war wie in der Vergangenheit ausschließlich männlich. Afghanische Frauenrechtsaktivistinnen haben die Sorge geäußert, dass Frauen von den geplanten Friedensgesprächen in der Türkei weitgehend ausgeschlossen werden, wodurch die Rechte der Frauen bei einer endgültigen Einigung stark gefährdet sind. Beobachter sehen bei den Taliban eine bewusste Strategie des Teilens und Herrschens am Werk, die Einladungen zu privaten Gesprächen an verschiedene regionale Warlords und Herrscher verschickt haben. Offenbar ist das Ziel, Präsident Ghani zu isolieren. Die USA, die Türkei, Katar und Pakistan versuchten Berichten zufolge, die Taliban zur Teilnahme an einer Konferenz zu bewegen, um eine Einigung zwischen den Taliban-Aufständischen und der afghanischen Regierung zu erzielen, was jedoch scheiterte. Sie wurde offiziell nicht abgesagt, sondern verschoben. Die Taliban haben die Teilnahme an einem zukünftigen Gipfel in der Türkei nicht ausgeschlossen (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.09.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.04.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Wie diese aussehen würde, haben die Taliban noch nicht näher ausgeführt. Ähnliche Bedenken werden in Bezug auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert. Die Verhandlungen mit den USA haben bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs ausgelöst. Indem sie mit den Taliban verhandeln, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt. Gleichzeitig haben die Verhandlungen aber auch die afghanische Regierung unterminiert, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde. Der Abzug wird eine große Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte sein. US-Generäle und andere Offizielle äußerten die Befürchtung, dass er zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung und einer Übernahme durch die Taliban führen könnte. Viele befürchten, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan eine neue Phase des Konflikts und des Blutvergießens beginnen wird. Mit dem Abzug der US-Truppen in den nächsten Monaten können die ANDSF mit einem Rückgang der Luftunterstützung und der Partner am Boden rechnen, während die Taliban in jüngsten Äußerungen [Anm.: Ende April 2021] von einem bevorstehenden Sieg sprachen. Es gab auch einen Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden und verstärkte Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im April. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 01.05.2021 bis Anfang Juni mindestens 12 Distrikte erobert. Es wird erwartet, dass unter einer künftigen Taliban-Herrschaft die Rechte der Frauen im Land einen schweren Rückschlag erleiden werden. Außerdem werden die Auswirkungen für Frauen in ländlichen Gebieten, in denen die Taliban die absolute Kontrolle haben, noch schlimmer sein als für Frauen in den großen städtischen Zentren wie Kabul. Im Mai 2021 warnte Human Rights Watch (HRW), dass sich die Gesundheitsversorgung für Frauen und Mädchen in Afghanistan aufgrund fehlender Spendengelder als Folge des Abzugs der internationalen Truppen und der unklaren Lage im Land verschlechtern wird (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

Viele der schätzungsweise 18.000 afghanischen Dolmetscher, Kommandosoldaten und andere, die mit den US-Streitkräften zusammengearbeitet haben, haben Visa beantragt, um in die USA auszuwandern - ein Prozess, der nach Angaben von Gesetzgebern mehr als zwei Jahre dauern könnte, was sie möglicherweise Racheakten der Taliban aussetzen würde. US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen. In den vergangenen Wochen gab es mehrere Demonstrationen afghanischer Ortskräfte in der Hauptstadt Kabul. Sie forderten die ausländischen Truppen und Botschaften auf, sie im Ausland in Sicherheit zu bringen. Im Mai 2021 schätzt das US-Militär, dass es bis zu einem Viertel seines Abzugs aus Afghanistan abgeschlossen hat und fünf Einrichtungen an das afghanische Verteidigungsministerium übergeben wurden, darunter die riesige Militärbasis Kandahar Airfield [KAF] im Süden Afghanistans (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

2.5.1.2. Die Sicherheitslage im Jahr 2021

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung. Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte. Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 01.05.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LIB, Kapitel Die Sicherheitslage im Jahr 2021).

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (LIB, Kapitel Zivile Opfer).

Die Vereinten Nationen verzeichneten zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.02.2021 7.138 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Anstieg um 46,7 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 und im Gegensatz zu den traditionell niedrigeren Zahlen während der Wintersaison. Die etablierten Trends der Art der Vorfälle blieben unverändert, wobei bewaffnete Zusammenstöße 63,6 Prozent aller Vorfälle ausmachten. Regierungsfeindliche Elemente waren für 85,7 Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle verantwortlich, einschließlich 92,1 Prozent der bewaffneten Zusammenstöße. Die südlichen, gefolgt von den östlichen und nördlichen Regionen, verzeichneten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle. Auf diese Regionen entfielen zusammen 68,9 Prozent aller registrierten Vorfälle, wobei die meisten Vorfälle in den Provinzen Helmand, Kandahar, Nangarhar und Balkh verzeichnet wurden. Keine Konfliktpartei konnte nennenswerte Gebietsgewinne erzielen. Die Taliban hielten den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, darunter auch gefährdete Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Fernstraßen zu sichern und Taliban-Gewinne wieder zurückzubringen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar. Zwischen dem 01.01.2021 und dem 31.03.2021 verzeichnete die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte), was die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verringerung der Gewalt und die ultimative, übergeordnete Notwendigkeit, ein dauerhaftes Friedensabkommen zu erreichen, unterstreicht. Die Zahl der getöteten und verletzten ZivilistInnen stieg im Vergleich zum ersten Quartal 2020 um 29 Prozent; dies umfasste auch einen Anstieg in den Opferzahlen sowohl bei Frauen (plus 37 Prozent) als auch bei Kindern (plus 23 Prozent). Mindestens 301 regierungsnahe Kräfte und 89 ZivilistInnen wurden im April in Afghanistan getötet (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 06.05.2021).

High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu (LIB, Kapitel High-Profile Angriffe (HPAs)).

2.5.1.3. COVID-19

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht, ohne Krankenhausaufenthalt, bei ca. 15 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich, allerdings benötigen diese Personen Sauerstoffzufuhr. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf, einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 01.04.2021).

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel COVID-19).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen. Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (LIB, Kapitel COVID-19).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen. Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen. Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an. Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen. Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (LIB, Kapitel COVID-19).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (LIB, Kapitel COVID-19).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (LIB, Kapitel COVID-19).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China. Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht. Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertrieb

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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