Entscheidungsdatum
27.07.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W270 2195973-1/27E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. AFGHANISTAN, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 11.04.2018, Zl. XXXX , in Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX (in Folge: „Beschwerdeführer“) stellte am 11.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Bei seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 12.11.2015 gab er befragt zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass seine Freundin schwanger geworden sei. Der Beschwerdeführer habe deswegen Probleme mit den Eltern seiner Freundin bekommen und sei sogar angeschossen und mit dem Umbringen bedroht worden.
3. Bei seiner ersten Einvernahme vor der belangten Behörde am 29.08.2017 gab der Beschwerdeführer zu den Gründen für seine Asylantragstellung befragt im Wesentlichen an, dass seine Freundin schwanger gewesen sei und er sie in Anwesenheit nur seiner Familie geheiratet habe. Die Familie seiner Frau sei gegen die Heirat gewesen, sie hätten den Beschwerdeführer und seine Frau dann auch bei dessen Eltern aufgesucht und mit dem Umbringen bedroht. Der Beschwerdeführer sei mit seiner Frau nach Helmand ausgereist, dort sei auch die gemeinsame Tochter zur Welt gekommen. Die Familie seiner Frau habe sie jedoch auch in Helmand gefunden und so sei der Beschwerdeführer mit Frau und Kind wieder zu seinen Eltern nach Kabul gezogen. Nach weiteren Morddrohungen habe seine Familie entschieden, dass er Afghanistan verlassen müsse.
4. Bei seiner zweiten Einvernahme vor der belangten Behörde am 10.04.2018 gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt wiederum an, dass seine Freundin schwanger geworden sei. Da ihre Familie nicht mit einer Hochzeit einverstanden gewesen sei, hätten sie heimlich geheiratet. Nachdem er angegriffen und auf ihn geschossen worden sei, sei der Beschwerdeführer mit seiner Freundin nach Helmand gezogen. Auch dort habe sie die Familie seiner Frau gefunden, weshalb sie zurück nach Kabul gegangen seien und der Beschwerdeführer sei aus Afghanistan ausgereist.
5. Die belangte Behörde wies den gegenständlichen Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) mit Bescheid vom 11.04.2018 ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-VG, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt III. bis VI.). Die Behörde begründete ihren Bescheid im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Der Beschwerdeführer könne auch seinen Lebensunterhalt wieder in der Stadt Kabul bestreiten.
6. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde vom 14.05.2018 monierte der Beschwerdeführer eine inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften. Er skizzierte in der Beschwerde auch nochmals seine Fluchtgründe und legte Beweismittel zu seinen Risikoprofilen sowie zur allgemeinen Versorgungs- und Sicherheitslage vor.
7. Mit Schriftsatz vom 13.11.2018 legte der Beschwerdeführer Unterlagen zu seinen integrativen Tätigkeiten in Österreich vor.
8. Mit Verfahrensanordnung teilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 AsylG 2005 den Verlust seines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet wegen eingebrachter Anklage einer gerichtlich strafbaren Handlung, die nur vorsätzlich begangen werden kann durch die Staatsanwaltschaft, mit. Sie wies dabei auch eine strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers hin.
9. Gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie weitere länderkundliche und sonstige Informationen im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht. Der Beschwerdeführer wurde darüber hinaus aufgefordert, seinen Gesundheitszustand mitzuteilen sowie allfällige Urkunden zu seinen integrativen Tätigkeiten in Österreich vorzulegen.
10. Mit Schriftsatz vom 08.03.2021 legte der Beschwerdeführer weitere Nachweise zu seiner Integration in Österreich, so etwa auch einen Arbeitsvorvertrag vor.
11. Am 10.03.2021 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, in deren Rahmen der Beschwerdeführer nochmals zu den geltend gemachten Fluchtgründen, einer möglichen Rückkehr in seinen Herkunftsstaat sowie seinem Leben in Österreich einvernommen wurde. Darüber hinaus führte das Bundesverwaltungsgericht weitere länderkundliche Informationen in das Verfahren ein. Der Beschwerdeführer nahm zu diesen nicht Stellung.
12. Mit Parteiengehör vom 20.04.2021, dem Beschwerdeführer zugestellt am 20.04.2021, übermittelte das Bundesverwaltungsgericht weitere länderkundliche und sonstige Informationen an den Beschwerdeführer und räumte diesem die Möglichkeit zur Stellungnahme ein.
13. Mit Schriftsatz vom 26.04.2021 äußerte sich der Beschwerdeführer insbesondere nochmals zu seinen integrativen Tätigkeiten in Österreich.
14. Mit Parteiengehör vom 25.06.2021, dem Beschwerdeführer zugestellt am 25.06.2021 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht das aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation an den Beschwerdeführer und räumte diesem die Möglichkeit zur Stellungnahme ein. Von dieser Möglichkeit machte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 25.06.2021 auch Gebrauch.
II. Feststellungen:
1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Identität, Herkunft und Sprachkenntnisse
1.1. Der Beschwerdeführer trägt den Namen „ XXXX “ und ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistans. Er wurde dort am XXXX in der Provinz Kabul, in der Landeshauptstadt Kabul geboren und ist dort auch aufgewachsen.
1.2. Der Beschwerdeführer lebte außerdem für ungefähr eineinhalb Jahre mit seiner Ehefrau und seiner Tochter in der Provinz Helmand, in der Provinzhauptstadt Lashkargah.
1.3. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.
Volksgruppe und Religion
1.4. Der Beschwerdeführer gehört der afghanischen Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam.
Familiäre Situation und wirtschaftliche Lage
1.5. Der Beschwerdeführer ist mit „ XXXX “ traditionell verheiratet und sie haben eine gemeinsame ungefähr siebenjährige Tochter namens „ XXXX “.
1.6. Die Eltern und drei Brüder des Beschwerdeführers leben nach wie vor in der Stadt Kabul, und zwar im Stadtteil XXXX , an der Adresse an der auch der Beschwerdeführer mit diesen vor seiner Ausreise aus Afghanistan zusammengelebt hat. Seine Ehefrau und seine Tochter leben bei seiner Familie und werden vom Vater des Beschwerdeführers finanziell versorgt. Der Familie des Beschwerdeführers geht es gut.
1.7. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie zwei bis dreimal pro Woche in Kontakt.
Ausbildung und Berufserfahrung
1.8. Der Beschwerdeführer verfügt über eine zwölfjährige, in Afghanistan erworbene Schulbildung.
1.9. Der Beschwerdeführer führte in Afghanistan auch unterschiedliche Geschäfte wie für Lebensmittel und Schreibbedarf.
1.10. Neben seiner schulischen Ausbildung arbeitete er auch als Teppichknüpfer.
Gesundheitszustand
1.11. Der Beschwerdeführer ist gesund. Er leidet weder an psychischen noch physischen Gebrechen oder Erkrankungen.
2. Zur Ausreise des Beschwerdeführers aus Afghanistan sowie zur Einreise und Antragstellung in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste ungefähr im Oktober 2015 aus Afghanistan aus und stellte schließlich am 11.11.2015 – nach Einreise unter Umgehung der Grenzkontrollbestimmungen – einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
3. Zum individuellen Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
3.1. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer von der Familie seiner Ehefrau persönlich bedroht wurden, noch, dass sonstige Handlungen oder Maßnahmen von dieser gegen ihn gesetzt wurden.
3.2. Auch die Familie und die Ehefrau des Beschwerdeführers wurden weder persönlich bedroht noch wurden sonstige Handlungen oder Maßnahmen gegen sie gesetzt.
3.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass es sich bei den Familienangehörigen der Ehefrau des Beschwerdeführers um mächtige, einflussreiche oder reiche Personen handelt. Insbesondere konnte nicht festgestellt werden, dass einer der Brüder seiner Frau ein einflussreicher Polizist ist.
3.4. Der Beschwerdeführer hatte in seinem Herkunftsstaat weder Probleme mit den Behörden, noch wurde er wegen seiner Nationalität, seinem Geschlecht, seiner sexuellen Orientierung oder seinem Bekenntnis zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam, seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder wegen einer Zugehörigkeit zu einer anderen gesellschaftlichen Gruppe bedroht oder wurde sonst eine Handlung oder Maßnahme aus diesen Gründen gegen ihn gesetzt.
4. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
4.1. Der Beschwerdeführer lebt in einer Unterkunft in XXXX .
4.2. Der Beschwerdeführer hat in Österreich weder Familienangehöriger noch sonstige Verwandte.
4.3. Er hat in Österreich am 29.06.2016 und am 13.07.2016 am Info-Modul „ XXXX “ der XXXX teilgenommen. Von September 2016 bis Juni 2017 hat der Beschwerdeführer das Sprachcafé XXXX besucht.
4.4. Vom 22.10.2016 bis 28.10.2016 hat er an der Ausstellung „ XXXX “ mitgewirkt und hat diese Ausstellung auch gemeinnützig am XXXX eingerichtet. Am 28.01.2017 nahm er an der Veranstaltung zum Thema „ XXXX “ teil. Der Beschwerdeführer besuchte am 09.05.2017 die Veranstaltung „ XXXX “ von XXXX .
4.5. Der Beschwerdeführer erwarb am 13.07.2018 ein Zertifikat für das Deutschsprachniveau B1 und legte am 12.10.2018 die Integrationsprüfung ab.
4.6. Von 01.10.2016 bis 15.06.2017 half der Beschwerdeführer in der Asylwerberunterkunft „ XXXX “ im Rahmen der Gemeinnützigkeit mit und hat verschiedene Aufgaben wie etwa Reinigungsarbeiten im Haus und auch im Garten und am Gelände übernommen.
4.7. In seiner Freizeit macht der Beschwerdeführer Sport und geht Spazieren.
4.8. Die österreichischen Kontaktpersonen des Beschwerdeführers sind „ XXXX “, „ XXXX “ und „ XXXX “. Neben diesen verfügt der Beschwerdeführer auch über afghanische Freunde.
4.9. Sein soziales Umfeld beschreibt den Beschwerdeführer als engagiert, hilfsbereit, höflich und respektvoll.
4.10. Der Beschwerdeführer ist weder Mitglied in einem Verein noch betätigt er sich in einem solchen.
4.11. Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht erwerbstätig. Er lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er verfügt jedoch über einen Arbeitsvorvertrag über eine Vollzeitbeschäftigung als Verkäufer bei der XXXX .
4.12. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich nicht unbescholten: Er wurde mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 30.11.2020, rechtskräftig am 04.12.2020, Zl. XXXX wegen § 223 Abs. 2 StGB zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 4,00 EUR (280,00 EUR) im Nichteinbringungsfall zu 35 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil wurde am 12.01.2021 vollzogen. Diesbezüglich teilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung gemäß § 13 Abs. 2 AsylG 2005 den Verlust seines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet ab dem 08.07.2020 wegen eingebrachter Anklage einer gerichtlich strafbaren Handlung, die nur vorsätzlich begangen werden kann durch die Staatsanwaltschaft, mit.
5. Zur persönlichen Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr nach Afghanistan:
Familiäre Unterstützungsmöglichkeit
5.1. Der Beschwerdeführer kann nach Rückkehr nach Afghanistan in geringfügigem Ausmaß und vorübergehend von seiner – nach wie vor im Heimatstaat lebenden – Familie finanziell unterstützt werden.
Sonstige Unterstützungsmöglichkeiten
5.2. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer.
5.3. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement. Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen.
5.4. Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden. Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess. Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller bzw. die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzt. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen. Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen.
5.5. Laut einem Bericht von Medico International und der Afghanistan Human Rights and Democracy Organization vom November 2019 hat die afghanische Regierung nichts unternommen, um die Missstände der aus Europa nach Afghanistan rückgeführten Personen zu beseitigen. Es wird berichtet, dass Beamte einige der Rückgeführten am Flughafen schikaniert hätten oder die Ausstellung einer Tazkira verweigert wurde, was mit dem Aufenthalt in Europa begründet wurde. Berichten zufolge gibt es sehr wenig Sympathie für Rückkehrer. Dies äußere sich oft in Unhöflichkeit und Beleidigungen seitens der Behörden, aber auch in der mangelnden Bereitschaft, auf die Ansprüche oder Anliegen der Rückkehrenden einzugehen.
5.6. Die afghanische Regierung hat 2017 mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Erste Landstücke wurden identifiziert, die Registrierung von Begünstigten hat begonnen.
Unterstützung durch IOM
5.7. Die internationale Organisation für Migration (IOM) unterstützt mit diversen Projekten die freiwillige Rückkehr und Reintegration von Rückkehrern nach Afghanistan. In Bezug auf die Art und Höhe der Unterstützungsleistung muss zwischen unterstützter freiwilliger und zwangsweiser Rückkehr unterschieden werden. Im Rahmen der unterstützten freiwilligen Rückkehr kann Unterstützung entweder nur für die Rückkehr (Reise) oder nach erfolgreicher Aufnahme in ein Reintegrationsprojekt auch bei der Wiedereingliederung geleistet werden.
5.8. IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (Anmerkungen: Informationen von IOM zufolge sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 18.3.2021 auch weiterhin in Afghanistan operativ, können aber aufgrund der COVID-19-Pandemie kurzfristigen Änderungen unterworfen sein).
5.9. Mit 1.1.2020 startete das durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union und das österreichische Bundesministerium für Inneres kofinanzierte Reintegrationsprojekt RESTART III. Im Unterschied zu den beiden Vorprojekten RESTART und RESTART II steht dieses Projekt ausschließlich Rückkehrern aus Afghanistan zur Verfügung. RESTART III ist wie das Vorgängerprojekt auf drei Jahre, nämlich bis 31.12.2022 ausgerichtet und verfügt über eine Kapazität von 400 Personen. Für alle diese 400 Personen ist neben Beratung und Information - in Österreich sowie in Afghanistan - sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von 500 Euro wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von 2.800 Euro geplant.
5.10. Die Teilnahme am Reintegrationsprojekt von IOM ist an einige (organisatorische) Voraussetzungen gebunden. So stellen Interessenten an einer unterstützten freiwilligen Rückkehr zunächst einen entsprechenden Antrag bei einer der österreichischen Rückkehrberatungseinrichtungen - dem VMÖ (Verein Menschenrechte Österreich) oder der Caritas bzw. in Kärnten auch beim Amt der Kärntner Landesregierung. Die jeweilige Rückkehrberatungsorganisation prüft dann basierend auf einem Kriterienkatalog des Innenministeriums, ob die Anforderungen für die Teilnahme durch die Antragsteller erfüllt werden. Für Reintegrationsprojekte ist durch das Innenministerium festgelegt, dass nur Personen an dem Projekt teilnehmen können, die einen dreimonatigen Aufenthalt in Österreich vorweisen können. Es wird hier jedoch auf mögliche Ausnahmen hingewiesen, wie zum Beispiel bei Personen, die im Rahmen der Dublin-Regelung nach Österreich rücküberstellt werden. Des Weiteren sieht die Regelung des Innenministeriums vor, dass nur eine Person pro Kernfamilie die Unterstützungsleistungen erhalten kann. Im Anschluss unterstützt die jeweilige Rückkehrberatungseinrichtung den Interessenten beim Antrag auf Kostenübernahme für die freiwillige Rückkehr. Wenn die Teilnahme an dem Reintegrationsprojekt ebenso gewünscht ist, so ist ein zusätzlicher Antrag auf Bewilligung des Reintegrationsprojektes zu stellen. Kommt es in weiterer Folge zu einer Zustimmung des Antrags seitens des Innenministeriums wird ab diesem Zeitpunkt IOM involviert.
5.11. Es besteht auch die Möglichkeit, jederzeit einen Antrag auf freiwillige Rückkehr zu stellen, auch ohne Teilnahme an dem Projekt. Eine Mitarbeiterin von IOM Österreich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es hier keine Trennung zwischen freiwilligen und unterstützten Rückkehrern gibt. Grundsätzlich spricht man von unterstützter freiwilliger Rückkehr und zusätzlich gibt es die Reintegrationsunterstützung bei Projektteilnahme.
5.12. Neben Beratung und Vorabinformationen ist IOM für die Flugbuchung verantwortlich und unterstützt die Projektteilnehmer auch bei den Abflugmodalitäten. Flüge gehen in der Regel nach Kabul, können auf Wunsch jedoch auch direkt nach Mazar-e Sharif gehen [Anmerkung.: Unter Umgehung von Kabul]. Die Reise nach Herat beispielsweise findet in der Regel auf dem Luftweg über Kabul statt. Die österreichischen Mitarbeiter unterstützen die Projektteilnehmer beim Einchecken, der Sicherheitskontrolle, der Passkontrolle und begleiten sie bis zum Abflug-Terminal. Teilnehmer am Reintegrationsprojekt RESTART III von IOM landen in der Regel (zunächst) in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Dort werden sie von den örtlichen IOM-Mitarbeitern direkt nach Verlassen des Flugzeuges empfangen und bei den Ein- bzw. Weiterreiseformalitäten unterstützt. An den Flughäfen anderer Städte wie Mazar-e-Sharif, Kandahar oder Herat gibt es keine derartige Ausnahmeregelung.
5.13. RESTART sowie die Folgeprojekte RESTART II und RESTART III unterscheiden sich nur minimal voneinander. So ist beispielsweise die Höhe der Barzahlung und auch die Unterstützung durch Sachleistungen gleich geblieben, wobei im ersten RESTART Projekt und in der ersten Hälfte von RESTART II nur 2.500 Euro in Sachleistung investiert wurden und die restlichen 300 Euro für Wohnbedürfnisse, Kinderbetreuung oder zusätzlich für Bildung zur Verfügung standen. Dies wurde im Verlauf von RESTART II geändert und es ist nun auch in RESTART III der Fall, sodass die gesamte Summe für eine einkommensgenerierende Tätigkeit verwendet werden kann.
5.14. Derzeit kann die Unterstützung durch IOM am Flughafen in Kabul, im IOM-Hauptbüro in Kabul sowie in den sieben Unterbüros (einschließlich Herat und Mazar-e Sharif) geleistet werden. Das IOM-Personal befindet sich teilweise im Homeoffice, aber die Rückkehrer können die IOM-Büros aufsuchen. Dies kann sich jedoch je nach Entwicklung von COVID-19 jederzeit ändern. Die Rückkehrer werden immer noch ermutigt, ihre Besuche in den IOM-Büros zu minimieren und stattdessen Beratung über das Telefon oder andere verfügbare Online-Tools zu suchen. Die Unterstützung bei der Reintegration wurde an die bestehenden Einschränkungen angepasst, z.B. wird virtuelle Beratung sowohl in Österreich als auch in Afghanistan angeboten, die Rückerstattung von Sachleistungen ist möglich, die Teilnehmer werden ermutigt, ein Bankkonto zu eröffnen, um Bargeld und Reintegrations-Sachleistungen zu erleichtern. Zur raschen Eröffnung eines Bankkontos muss ein gültiges Identitätsdokument (z.B.: Tazkira) vorgelegt und verschiedene Formulare (je nach Bank oder Vertretern der jeweiligen Communities) ausgefüllt und unterzeichnet werden. Überweisungen innerhalb derselben Bank können in wenigen Minuten durchgeführt werden. Bei anderen Banken kann die Überweisung mehrere Tage in Anspruch nehmen. Ein Bankkonto kann von allen Personen, auch jenen, die keine persönlichen Kontakte in Afghanistan haben, eröffnet werden.
5.15. Mit Stand 18.3.2021 wurden bereits 105 Teilnahmen im Rahmen des Restart III Projektes akzeptiert und 86 Personen sind im Zuge des Projektes freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmern, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an. Bis zum 18.3.2021 haben 58 RESTART III-Projektteilnehmer ihre Reintegrationspläne und die dazugehörigen Unterlagen bei IOM eingereicht und 42 Rückkehrer haben zumindest einen Teil ihrer Wiedereingliederungshilfe (die, wie bereits erwähnt, üblicherweise in zwei Tranchen geleistet wird) bereits erhalten. Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der angekündigte Abzug der internationalen Truppen keinerlei Auswirkungen auf dieses Projekt.
5.16. IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt „RADA“ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt.
Innerhalb dieses Projektes gibt es eine kleine Komponente (PARA - Post Arrival Reception Assistance), die sich speziell an zwangsweise rückgeführte Personen wendet. Der Leistungsumfang ist stark limitiert und nicht mit einer Reintegrationsunterstützung vergleichbar. Die Unterstützung umfasst einen kurzen medical check (unmittelbare medizinische Bedürfnisse) und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund 140 EUR) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.). Diese ist jedoch nur für Rückkehrer zugänglich, die über den internationalen Flughafen von Kabul reisen.
5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
5.1. Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:
5.1.1. Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht.
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte.
Die Sicherheitslage im Jahr 2021
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung.
Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte. Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert.
Zivile Opfer
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013.
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen.
Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs.
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht.
Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet.
Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020. Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht.
5.1.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Allgemeines
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.
Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15% im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13%.
Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten.
Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als "Islamisches Emirat Afghanistan", der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren.
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können.
Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar. Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk.
Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen.
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.
Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert, wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr "Emirat" wiederherstellen zu können. Einem lokalen Vertreter der Taliban zufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben.
Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der "islamischen Regierung" meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden.
Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein. In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen, aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert. In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten. In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach "Unmoral" und "Unanständigkeit" fördern.
Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind.
Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im "Jihad" der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt. Für die Taliban ist die Errichtung einer "islamischen Struktur" eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert.
Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten.
Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts. Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 %. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag. UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde.
Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen.
Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch "Attentate" gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169%.
5.1.3. Grundversorgungs- und Wirtschaftslage:
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig.
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus. Eine Reihe von U.S.-Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020, aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht.
5.1.4. Rechtsschutz und Justizwesen in Afghanistan:
Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.) - das höchste juristische Organ, dessen Mitglieder vom Präsidenten ernannt und von der Wolesi Jirga bestätigt werden, - den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council - AUC) beraten. Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht.
Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; Letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen. Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Rechtsstaatlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen - einschließlich Menschenrechtsverträge - vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist. Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden.
Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. Viele Streitigkeiten, die von Landdisputen bis hin zu kriminellen Handlungen reichen, werden außerhalb des formellen Gerichtssystems, in informellen Institutionen wie örtlichen Jirgas und Shuras beigelegt. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tief greifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht.
Nach Art. 3 der Verfassung darf kein Gesetz des Landes gegen die Lehren und Vorschriften der „Religion des Islams“ verstoßen. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze stehen damit unter Islam-Vorbehalt. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen teilweise zur willkürlichen Rechtsanwendung. Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Shuras das Gewohnheitsrecht durch. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. Diese Praktiken führen oft zu Entscheidungen, die Frauen diskriminieren. Trotz erheblicher Fortschritte in der formellen Justiz Afghanistans bemüht sich das Land auch weiterhin für die Bereitstellung zugänglicher und gesamtheitlicher Leistungen; weit verbreitete Korruption sowie Versäumnisse vor allem in den ländlichen Gebieten gehören zu den größten Herausforderungen. Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politische Einflussnahme und weit verbreitete Korruption beeinflusst. Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien, sofern überhaupt reguliert, werden nicht konsequent angewandt.
Laut Gesetz gilt für alle Bürger die Unschuldsvermutung, und die Angeklagten haben das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und Berufung einzulegen, obwohl die Justiz diese Rechte nicht immer respektiert. Die Staatsanwälte informieren die Angeklagten selten zeitnah oder detailliert über die gegen sie erhobenen Anklagen. Mittellose Angeklagte haben das Recht, einen Anwalt oder Rechtsbeistand auf öffentliche Kosten zu konsultieren, wenn es die Mittel erlauben. Die Justiz wendet dieses Recht uneinheitlich an, was zum großen Teil auf einen erheblichen Mangel an Verteidigern zurückzuführen ist. Die Bürger sind sich ihrer verfassungsmäßigen Rechte oft nicht bewusst.
Richterinnen und Gerichtsverfahren
Das Justizsystem leidet unter einem Mangel an Richtern - insbesondere in unsicheren Gebieten, weswegen viele Fälle durch informelle, traditionelle Mediation entschieden werden. Die Unsicherheit im ländlichen Raum behindert eine Justizreform, jedoch ist die Unfähigkeit des Staates, eine effektive und transparente Gerichtsbarkeit herzustellen, ein wichtiger Grund für die Unsicherheit im Land.
Die Rechtsprechung durch unzureichend ausgebildete Richter basiert in vielen Regionen auf einer Mischung aus verschiedenen Gesetzesmaterien. Ein Mangel an Richterinnen - insbesondere außerhalb von Kabul - schränkt den Zugang von Frauen zum Justizsystem ein, da kulturelle Normen es Frauen verbieten, mit männlichen Beamten zu tun zu haben. Im Laufe des Jahres 2020 waren nur 254 von 2.010 Richtern Frauen, ein leichter Rückgang gegenüber 2019. Der Großteil von ihnen arbeitet in Kabul, aber auch in anderen Provinzen wie in Herat, Balkh, Takhar und Baghlan.
Angeklagte und Anwälte haben das Recht, physische Beweise und Dokumente in Bezug auf einen Fall vor der Verhandlung zu untersuchen, obwohl Beobachter feststellten, dass Gerichtsdokumente oft nicht zur Einsichtnahme zur Verfügung standen, bevor die Fälle zur Verhandlung kamen, trotz der Anträge der Verteidiger. Richter und Anwälte erhalten oft Drohungen oder Bestechungen von örtlichen Machthabern oder bewaffneten Gruppen. Die Richterschaft zeigt sich respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern, jedoch kommt es immer wieder zu Übergriffen auf und Bedrohung von Strafverteidigern durch die Staatsanwaltschaft oder andere Dienststellen der Exekutive. Anklage und Verhandlungen weisen eine Reihe von Schwächen auf: dazu zählen das Fehlen einer angemessenen Vertretung, übermäßige Abhängigkeit von unverifizierten Zeugenaussagen, ein Mangel an zuverlässigen forensischen Beweisen, willkürliche Entscheidungen sowie Gerichtsentscheidungen, die nicht veröffentlicht werden.
Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte sowie Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems. Personen in Machtpositionen können sich meistens der strafrechtlichen Verfolgung entziehen - es gibt eine tief verwurzelte Kultur der Straflosigkeit in der politischen und militärischen Elite des Landes. Im Juni 2016 wurde auf Grundlage eines Präsidialdekrets das „Anti-Corruption Justice Center“ (ACJC), eine unabhängige Korruptionsbekämpfungsbehörde, die für die strafrechtliche Verfolgung von Korruptionsfällen auf hoher Ebene zuständig ist, eingerichtet um gegen korrupte Minister, Richter und Gouverneure vorzugehen. Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen. Seit seiner Gründung im Jahr 2016 bis Mitte September 2020 verhandelte der Oberste Gerichtshof 281 Angeklagte in 76 Fällen vor seiner Strafkammer und 214 Angeklagte in 68 Fällen vor seiner Berufungskammer. Von den Fällen, die vor der Strafkammer verhandelt wurden, wurden 199 zu Haftstrafen verurteilt, 23 wurden zu Geldstrafen verurteilt und 59 wurden freigesprochen. Von den Fällen, die vor der Berufungskammer verhandelt wurden, wurden 172 zu Haftstrafen verurteilt, 18 wurden zu Geldstrafen verurteilt und 24 wurden freigesprochen. Im Januar 2020 verurteilte das Berufungsgericht des Obersten Gerichtshofs mehrere ehemalige Wahlbeamte erneut zu jeweils zweieinhalb Jahren Haft und reduzierte damit ihre früheren Haftstrafen um die Hälfte.
5.1.5. Sicherheitsbehörden in Afghanistan:
Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF - Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte.
Drei Behörden sind für die Sicherheit in Afghanistan zuständig: Das afghanische Innenministerium (MoI), das Verteidigungsministerium (MoD) und das Nationale Direktorat für Sicherheit (NDS). Die dem Innenministerium unterstellte Afghanische Nationalpolizei (ANP) trägt die Hauptverantwortung für die innere Ordnung und für die Afghan Local Police (ALP), eine gemeindebasierte Selbstverteidigungstruppe, die rechtlich nicht in der Lage ist, Verhaftungen vorzunehmen oder Verbrechen unabhängig zu untersuchen. Im Juni 2020 kündigte Präsident Ghani Pläne an, die afghanische Lokalpolizei in andere Zweige der Sicherheitskräfte einzugliedern, vorausgesetzt, die Personen können eine Bilanz vorweisen, die frei von Vorwürfen der Korruption und Menschenrechtsverletzungen ist. Ende 2020 war die Umsetzung dieser Pläne im Gange. Die Major Crimes Task Force, die ebenfalls dem Innenministerium unterstellt ist, untersucht schwere Straftaten, darunter Korruption der Regierung, Menschenhandel und kriminelle Organisationen. Die Afghanische Nationalarmee (ANA), die dem Verteidigungsministerium untersteht, ist für die äußere Sicherheit zuständig, ihre Hauptaufgabe ist jedoch die Aufstandsbekämpfung im Inneren. Das NDS fungiert als Nachrichtendienst und ist für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, die die nationale Sicherheit betreffen. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt.
Die Truppenstärke der ANDSF ist seit Jänner 2015 stetig gesunken. Aber eine genaue Zählung des afghanischen Militär- und Polizeipersonals war schon immer schwierig. Der Rückgang an Personal wird allerdings auch auf die Einführung eines neuen Systems zur Gehaltsauszahlung zurückgeführt, welches die Zahlung von Gehältern an nichtexistierende Soldaten verhindern soll. Im letzten Quartal 2020 meldete die ANDSF ihre höchste Truppenstärke, seit sie im Juli 2019 mit dem Afghan Personnel and Pay System (APPS) begann.
Die Anzahl der in der ANDSF dienenden Frauen nimmt weiterhin zu. Nichtsdestotrotz bestehen nach wie vor strukturelle und kulturelle Herausforderungen, um Frauen in die ANDSF und die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Mit 18.12.2020 verfügt der ANDSF über 5.956 Mitarbeiterinnen, wobei der Großteil (3.629) in der ANP dient.
Nach Angaben der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) ist die Zahl der zivilen Opfer, die von regierungsnahen und verbündeten Kräften verursacht wurden, um 16 Prozent gesunken. Die Regierung und die mit ihr verbündeten Kräfte verursachten im Jahr 2019 1.490 zivile Opfer, während sie im Jahr 2020 nur noch 1.249 zivile Opfer verursachten.
Die Vereinigten Staaten haben die Zahl ihrer Truppen in Afghanistan auf 2.500 ab dem 15. Januar 2021 reduziert, dem niedrigsten Stand seit 2001.
Afghanische Nationalarmee (ANA)
Die ANA ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Soldaten, welche die ANA am Ende des vertraglich vereinbarten Dienstes verlassen, sind für etwa ein Viertel des Rückgangs der Mannstärke verantwortlich. Die Gefechtsverluste machen nur einen kleinen Prozentsatz der monatlichen Verluste aus und sind im ersten Halbjahr 2020 im Vergleich zu früheren Perioden deutlich zurückgegangen. Im Jahr 2018 kündigte Präsident Ghani die Etablierung einer neuen territorialen Eingreiftruppe der Afghanischen Nationalen Armee (ANA-TF) an. Jede Kompanie (Tolai) besteht aus Soldaten aus einem bestimmten Distrikt, wird aber von Offizieren von außerhalb dieses Distrikts geführt, die bereits in der regulären ANA dienen oder in der ANA-Reserve sind. Ziel ist eine Truppenstärke der ANA TF von 36.000 Mann. Die Standorte der operativen und geplanten Tolais (Kompanien mit einer Stärke von bis zu 121 Soldaten) der ANA TF sollen den Taliban die Manövrierfreiheit nehmen und sie von städtischen Gebieten und wichtigen Kommunikations- und Transportwegen fernhalten. Diese Tolais sorgen derzeit für die lokale Sicherheit in ihren Zuständigkeitsbereichen, damit die regulären ANA-Kräfte für andere Operationen frei sind.
Afghan National Police (ANP) und Afghan Local Police (ALP)
Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Auch ist sie verantwortlich für die Sicherheit Einzelner und der Gemeinschaft sowie den Schutz gesetzlich festgeschriebener Rechte und Freiheiten. Obwohl die ANP mit und an der Seite der ANA im Kampf gegen die Aufständischen arbeiten, fehl