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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
B-VG Art133 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Schwarz und Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts Wien vom 25. November 2019, 1. VGW-151/011/8568/2018-26, 2. VGW-151/011/8569/2018, 3. VGW-151/011/8572/2018 und 4. VGW-151/011/8574/2018, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Parteien: 1. M D, 2. A J, 3. A J und 4. A J, alle vertreten durch Dr. Wolfgang Weber, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 12/1/27),
Spruch
A. zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit damit den Zweit- bis Viertmitbeteiligten Aufenthaltstitel gemäß § 46 NAG für die Dauer eines Jahres erteilt wurden, wegen Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.
B. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 47 Abs. 2 NAG an die Erstmitbeteiligte wendet, zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Mitbeteiligten - die Erstmitbeteiligte ist die Mutter der minderjährigen Zweit- bis Viertmitbeteiligten; alle sind serbische Staatsangehörige - stellten am 20. März 2018 Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Dabei beriefen sie sich auf die Ehe der Erstmitbeteiligten mit DJ, einem österreichischen Staatsangehörigen.
2 Mit Bescheiden des Landeshauptmannes von Wien vom 16. Mai 2018 wurden die Anträge der Mitbeteiligten wegen Vorliegen einer Scheinehe abgewiesen.
3 Den dagegen erhobenen Beschwerden gab das Verwaltungsgericht Wien mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis statt und erteilte der Erstmitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 2 NAG und den Zweit- bis Viertmitbeteiligten gemäß § 46 NAG Aufenthaltstitel für die Dauer eines Jahres. Weiters sprach es aus, dass eine ordentliche Revision unzulässig sei.
4 Begründend führte das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung aus, der Versagungsgrund der Aufenthaltsehe nach § 30 NAG sei nicht erweislich. Weiters führte das Verwaltungsgericht aus, dass selbst wenn die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs. 2 Z 2, Z 4 und Abs. 5 NAG nicht vorlägen, eine Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG zu Gunsten der Mitbeteiligten ausfalle.
5 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
6 Die Revision rügt in der Zulässigkeitsbegründung im Wesentlichen eine Verletzung der Begründungspflicht sowie - im Ergebnis - eine Überschreitung der funktionellen Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung eines Vorverfahrens - in Bezug auf Spruchpunkt A in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
Zu Spruchpunkt A:
8 Die Amtsrevision führt zu ihrer Zulässigkeit aus, dass die Zweit- bis Viertmitbeteiligten keinen Antrag auf Erteilung einer „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 NAG gestellt hätten. Dieses Vorbringen ist zutreffend.
9 Die Mitbeteiligten stellten am 20. März 2018 jeweils Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck Familienangehöriger nach § 47 NAG. Eine Antragsänderung wurde vom Verwaltungsgericht nicht festgestellt und lässt sich auch dem Akteninhalt nicht entnehmen.
10 Indem das Verwaltungsgericht in Stattgebung der Beschwerde Aufenthaltstitel gemäß § 46 NAG erteilt sowie festgestellt hat, dass betreffend die Zweit- bis Viertmitbeteiligten die Voraussetzungen für die Ausstellung einer „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 NAG vorlägen, hat es seine Entscheidungsbefugnis überschritten (vgl. VwGH 27.1.2016, Ra 2014/10/0038 oder 31.1.2019, Ra 2018/22/0086). Das angefochtene Erkenntnis war daher, soweit damit den Zweit- bis Viertmitbeteiligten Aufenthaltstitel gemäß § 46 NAG für die Dauer eines Jahres erteilt wurden, gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufzuheben.
Zu Spruchpunkt B:
11 Soweit die Revision in der Begründung zu ihrer Zulässigkeit geltend macht, das Verwaltungsgericht habe in Bezug auf das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 11 Abs. 2 NAG seine Begründungspflicht verletzt, genügt der Hinweis, dass das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung - zumindest alternativ - nicht die Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen (des § 11 Abs. 2 Z 2, Z 4 und Abs. 5 NAG) zugrunde gelegt, sondern die Erteilung des Aufenthaltstitels mit dem Ergebnis der Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG begründet hat (vgl. VwGH 23.5.2018, Ra 2018/22/0099, Rn. 7).
12 Nach § 11 Abs. 3 NAG kann ein Aufenthaltstitel trotz Vorliegen eines Erteilungshindernisses (ua.) gemäß Abs. 2 Z 1 bis 7 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist.
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Allgemeinen, wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze erfolgte, nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. VwGH 24.3.2021, Ra 2020/22/0215, Rn. 7, mwN).
14 Vor dem Hintergrund des Aufenthaltes der unbescholtenen Erstmitbeteiligten in Österreich seit 2010, der Geburt ihrer Kinder in Österreich am 6. Mai 2011, am 14. September 2012 und 15. Februar 2017, des gemeinsamen Familienlebens mit ihrem österreichischen Ehegatten und Stiefvater ihrer Kinder, der vom Verwaltungsgericht festgestellten Integration der Familie (vgl. etwa den Kindergarten- und Schulbesuch der Kinder), vermag die Revision, die im Wesentlichen den überwiegend unrechtmäßigen Aufenthalt der Erstmitbeteiligten und somit lediglich einen Aspekt von vielen des § 11 Abs. 3 NAG ins Treffen führte, nicht aufzuzeigen, dass die nach Durchführung einer Verhandlung durchgeführte Interessenabwägung unvertretbar wäre.
15 Die Revision war daher - soweit sie sich gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 47 NAG an die Erstmitbeteiligte wendet - wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 23. Juli 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220011.L00Im RIS seit
10.09.2021Zuletzt aktualisiert am
13.09.2021