TE Vwgh Erkenntnis 2021/8/19 Ra 2021/21/0062

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Veröffentlicht am 19.08.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1
AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs2 Z6
MRK Art8
MRK Art8 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger sowie den Hofrat Dr. Chvosta als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Galli, LL.M., über die Revision des J I, vertreten durch Mag. Dr. Anton Karner, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Steyrergasse 103/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Februar 2021, I421 2226514-1/13E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005, Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Nigerias, stellte im März 2003 in Österreich einen Asylantrag. Das Bundesasylamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom 9. Mai 2003 ab, erklärte (insbesondere) die Abschiebung des Revisionswerbers nach Nigeria für zulässig und wies ihn aus Österreich aus. Eine dagegen erhobene Berufung zog der Revisionswerber wieder zurück.

2        Der Revisionswerber hatte nämlich am 5. Oktober 2004 eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet, worauf ihm - wiederholt verlängerte - Aufenthaltstitel als deren Familienangehöriger (mit freiem Zugang zum Arbeitsmarkt) erteilt wurden.

3        Die genannte, kinderlos gebliebene Ehe wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes Salzburg vom 1. Oktober 2007 gemäß § 55a EheG im Einvernehmen geschieden.

4        Dem Revisionswerber wurden auch in der Folge Niederlassungsbewilligungen, zuletzt mit Gültigkeit bis zum 26. April 2012, ausgestellt. Diesbezüglich wurde rechtzeitig ein Antrag auf Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels gestellt.

5        Im Juni 2019 stellte der Revisionswerber dann einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005.

6        Mit Bescheid vom 29. November 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den genannten Antrag ab und erließ gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG. Außerdem stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei. Es erließ schließlich noch gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot.

7        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach mündlicher Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 11. Februar 2021 als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8        Begründend stellte das BVwG fest, der Revisionswerber halte sich seit (zumindest) 10. März 2003, also seit mehr als 17 Jahren, in Österreich auf. Im Niederlassungsverfahren sei sein letzter Verlängerungsantrag seitens des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung mit der Begründung abgewiesen worden, dass er „über keinen Wohnsitz in Österreich verfüge“. Trotz oftmaliger Nachschau durch Beamte der Landespolizeidirektion Steiermark habe er „an der damals gemeldeten Wohnadresse“ nicht angetroffen werden können. Erst aufgrund einer Mitteilung des Jugendamtes sei im März 2017 bekannt geworden, dass er seit Jänner 2017 an einer neuen Adresse melderechtlich erfasst sei.

9        Der Revisionswerber sei gesund und arbeitsfähig, er nehme keine Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch. Während seines Aufenthalts im Bundesgebiet sei er bei unterschiedlichen Arbeitgebern als Arbeiter legal beschäftigt gewesen. Zudem sei er „auch über mehrere Jahre hinweg selbständig tätig“. Er decke seit etwa siebeneinhalb Jahren seinen Lebensunterhalt dadurch, dass er illegal Autoverkäufe vermittle, wodurch er monatlich € 700,-- bis € 800,-- verdiene. Allerdings weise er (näher dargestellte) Schulden auf. Der von der Sozialversicherungsanstalt deshalb gestellte Antrag auf Konkurseröffnung sei vom Landesgericht Graz im Jahr 2014 mangels kostendeckenden Vermögens abgewiesen worden.

10       In Salzburg lebten seine beiden minderjährigen, 2004 und 2007 geborenen Kinder aus einer früheren Beziehung bei ihrer zur Obsorge berechtigten Mutter (jeweils Staatsangehörige Nigerias). Der Revisionswerber habe erst seit etwa Oktober 2018 Kontakt zu diesen Kindern. Er telefoniere etwa drei- bis viermal (pro Woche) mit den Kindern, persönliche Treffen fänden im Abstand zwischen zwei und drei Monaten statt. Seinen Unterhaltsverpflichtungen gegenüber den Kindern komme er nicht nach.

11       Im Zeitraum vom 26. Juni 2013 bis zum 6. Oktober 2014 sei der Revisionswerber an derselben Adresse „melderechtlich erfasst“ gewesen wie seine nunmehrige (nigerianische) Lebensgefährtin. Ob der Revisionswerber mit ihr zwischen Oktober 2014 und September 2017 eine Beziehung geführt habe, könne nicht festgestellt werden. Jedenfalls habe in diesem Zeitraum - wie sich aus den Meldedaten erschließen lasse - kein gemeinsamer Wohnsitz vorgelegen. Seit 4. September 2017 lebe der Revisionswerber mit ihr und ihren drei Kindern aus einer vorherigen Beziehung wieder in einem gemeinsamen Haushalt.

12       Darüber hinaus pflege der Revisionswerber lose soziale Kontakte im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als „Autovermittler“. Er habe ein Zeugnis über die Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 vom 5. Juli 2019 vorgelegt. Seine Deutschkenntnisse wiesen jedoch trotz des langjährigen Aufenthalts ein nur geringes Niveau auf. In Österreich habe er keinen Beruf erlernt oder Ausbildungen absolviert.

13       In Nigeria, wo er als Taxifahrer tätig gewesen und - nach wie vor - Eigentümer eines Grundstückes sei, lebten eine weitere Tochter des Revisionswerbers samt Enkelkind, ein Bruder, Cousins, Cousinen und Freunde. Der Revisionswerber sei zwischen August 2005 und Dezember 2009 mehrfach nach Nigeria gereist, um seine Familie zu besuchen.

14       Sodann verwies das BVwG auf die nachstehenden, nur durch Übernahme des Strafregisterauszuges dargestellten Verurteilungen des Revisionswerbers mit (zusammengefasst) folgendem Inhalt:

BG Salzburg 23.4.2007 wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von einer Woche,

BG Salzburg 8.3.2010 wegen § 88 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen,

BG Salzburg 10.5.2010 wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen als Zusatzstrafe zur letztgenannten Verurteilung, und

BG Graz-West vom 24.7.2014 wegen § 88 Abs. 1 und 4 erster Fall sowie § 198 Abs. 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten.

Darüber hinaus, so stellte das BVwG weiter fest, weise das Verwaltungsstrafregister des Revisionswerbers „eine Mehrzahl verwaltungsstrafrechtlicher Vormerkungen auf“.

15       Umstände, die einer Rückkehr des Revisionswerbers nach Nigeria entgegenstünden, seien nicht erkennbar. Es könne nicht festgestellt werden, dass ihm dort die „notdürftigste Lebensgrundlage entzogen“ wäre.

16       In seiner rechtlichen Beurteilung ging das BVwG auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ein, wonach bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen seiner persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur bei Fehlen jeder sozialen oder beruflichen Integration könnten Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen werden. Beim Revisionswerber lägen aber - so das BVwG - Gesichtspunkte vor, die das gegen seinen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärkten bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer relativierten.

17       Zur Begründung dieser Annahme nannte das BVwG den Umstand, dass sich der Aufenthalt des Revisionswerbers „seit April 2012“ als unrechtmäßig erweise, was ihm auch bewusst gewesen sei. Überdies habe er „an der damals gemeldeten Wohnadresse“ nicht angetroffen werden können und es sei erst im März 2017 bekannt geworden, dass er seit Jänner 2017 melderechtlich unter einer neuen Adresse erfasst sei. Er habe sich also bewusst nicht weiter um die Erlangung eines Aufenthaltstitels gekümmert und sich bis Jänner 2017 den Behörden entzogen. Die Aufenthaltsdauer seit April 2012 sei daher „entsprechend zu relativieren“.

18       Zu Lasten des Revisionswerbers seien auch - so das BVwG - die erwähnten strafgerichtlichen Verurteilungen und „die zahlreichen Verwaltungsstrafen“ zu berücksichtigen. Seinen Lebensunterhalt bestreite er seit etwa siebeneinhalb Jahren „durch illegale Autoverkäufe, somit Schwarzarbeit“. An der Verhinderung von Schwarzarbeit bestehe aber ein großes öffentliches Interesse, was ebenfalls zu berücksichtigen sei.

19       Die Kontakte zu seinen zwei minderjährigen Kindern erreichten nicht jenes Maß, das erforderlich sei, um von einem schützenswerten Familienleben iSd Art. 8 EMRK ausgehen zu können. Zudem könnten die Kontakte - wie bereits aktuell gehandhabt - durch moderne Kommunikationsmittel und wechselseitige Besuche aufrechterhalten werden.

20       Die Beziehung zur aktuellen Lebensgefährtin werde in ihrem Gewicht dadurch gemindert, dass sie in einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem sich der Revisionswerber seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei. Bereits im Jahr 2013 sei ihm nämlich bekannt gewesen, dass er über keinen Aufenthaltstitel verfüge und sein Aufenthalt in Österreich somit unrechtmäßig sei.

21       Mit der Möglichkeit einer Reintegration im Herkunftsstaat sei unter Berücksichtigung seiner Sprachkenntnisse, der in diesem Staat erfahrenen Sozialisierung, früherer Berufstätigkeit und familiärer Kontakte zu rechnen.

22       Bei Gesamtabwägung der angeführten Punkte lägen die Voraussetzungen für die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 nicht vor. Die Rückkehrentscheidung erweise sich somit auch als rechtmäßig, ebenso die Erlassung eines Einreiseverbotes aus dem Grund des § 53 Abs. 2 Z 6 FPG. Der Revisionswerber habe nämlich den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachweisen können. Es lägen auch keine Gründe vor, aus denen die Abschiebung in den Herkunftsstaat aus Gründen des § 50 FPG unzulässig wäre.

23       Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:

24       Die Revision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG nach § 25a Abs. 1 VwGG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

25       Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, auf die sich die Zulässigkeitsausführungen der Revision beziehen, ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an seinem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (und umgekehrt die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005) ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. dazu etwa VwGH 30.4.2021, Ra 2020/21/0357, Rn. 12, mwN).

26       Von einem Fehlen jeder nennenswerten Integration kann fallbezogen aber schon angesichts der jahrelangen Berufstätigkeit während rechtmäßigen Aufenthalts und vor allem aufgrund des Vorliegens von familiären Bindungen zu seinen minderjährigen Kindern und zu seiner aktuellen Lebensgefährtin nicht die Rede sein.

27       Bei diesen familiären Bindungen berücksichtigte das BVwG in rechtswidriger Weise nicht ausreichend, dass ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen dem Revisionswerber als Vater und seinen (außerehelichen) Kindern mit dem Zeitpunkt der Geburt entsteht und nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden kann. Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK, solange nicht jegliche Bindung gelöst ist. Dass Letzteres hier der Fall wäre, ergibt sich aus den im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen allerdings gerade nicht. Ebenso hat das BVwG keine besonders gewichtigen Umstände dargelegt, aufgrund derer die Trennung von seinen Kindern im öffentlichen Interesse geboten wäre (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0299, Rn. 28 bis 30, mit dem Hinweis u.a. auf VfGH 3.10.2019, E 3456/2019, Punkt II.3. der Entscheidungsgründe, jeweils mwN).

28       Zudem hat das BVwG im Rahmen seiner Begründung den Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG („Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gerückt. Dem gegenüber haben die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts aber bereits wiederholt klargestellt, dieser Aspekt habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen könne. Das gilt insbesondere bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt (vgl. etwa VwGH 23.1.2020, Ra 2019/21/0378, 0388, Rn. 14, mwN; in diesem Sinn zu Besuchskontakten eines Vaters zu seinem außerehelichen Kind VfGH 3.10.2019, E 3456/2019, Punkt II.3.3. der Entscheidungsgründe).

29       Diese Gesichtspunkte ließ das BVwG bei seiner fallbezogenen Interessenabwägung außer Acht, hat es doch der Lebensgemeinschaft mit der aktuellen (laut Angaben des Revisionswerbers: aufenthaltsberechtigten) Lebensgefährtin (und deren Kindern) faktisch keine wesentliche Bedeutung zugebilligt.

30       Dazu kommt die nicht ausreichend einbezogene lange Dauer dieser Lebensgemeinschaft, die nach den Feststellungen des BVwG schon zwischen 2013 und 2014 bestanden hatte und seit September 2017 wieder aufrecht ist.

Zudem wurde die - den Angaben des Revisionswerbers widersprechende - Annahme ihrer Unterbrechung schon deshalb nicht schlüssig begründet, weil den dazu herangezogenen Meldedaten nur Indizwirkung zukommt (vgl. etwa VwGH 5.3.2021, Ra 2020/21/0465, Rn. 8 und 10, mwN) und in diesen Zeitraum die vom BVwG angenommene „Scheinmeldung“ fällt. Aus den - vom BVwG somit als unrichtig beurteilten - Meldedaten hätte daher für die Frage eines Zusammenlebens mit der Lebensgefährtin nichts gewonnen werden können.

31       Zwar erachtet der Verwaltungsgerichtshof, wie das BVwG ausführte, auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte ein Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden an einem Verbleib im Inland dann nicht als zwingend, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen seinen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. dazu etwa VwGH 4.3.2020, Ra 2020/21/0010, Rn. 9, mwN).

32       Das BVwG hat allerdings die vom ihm in diesem Sinn angenommene Relativierung der Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers nicht schlüssig begründet:

33       Für eine solche Begründung kommt zwar grundsätzlich ein vom BVwG angenommenes Leben im Verborgenen (ohne polizeiliche Meldung), insbesondere bei unrechtmäßigem Verbleib im Bundesgebiet, in Betracht. Dieser - im Übrigen nicht exakt festgestellte - Zeitraum begann jedoch nach der unbestrittenen Beendigung des Verfahrens über den Antrag auf Verlängerung des letzten Aufenthaltstitels des Revisionswerbers im April 2014, liegt also einerseits länger zurück, andererseits nach dem Ende des fast zehnjährigen rechtmäßigen Aufenthalts des Revisionswerbers im Bundesgebiet und weist unter Berücksichtigung der neuerlichen Meldung ab Jänner 2017 in Relation zum rund 18 Jahre dauernden Aufenthalt insgesamt kein allzu großes Gewicht auf (vgl. zur Maßgeblichkeit dieser Gesichtspunkte neuerlich VwGH 4.3.2020, Ra 2020/21/0010, nunmehr Rn. 12).

34       Hinsichtlich der vom BVwG weiters als die Aufenthaltsdauer relativierend angenommenen - zudem ebenfalls schon lang zurückliegenden - gerichtlichen Bestrafungen des Revisionswerbers ist darauf zu verweisen, dass nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen ist. Die wiedergegebene „Kurzdarstellung“ des BVwG reicht dafür, zumal angesichts des offenbaren Fehlens außergewöhnlicher Schwere der jeweils nur im unteren Bereich des Strafrahmens sanktionierten Delikte, nicht aus (vgl. betreffend die Relativierung einer Aufenthaltsdauer VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100, Rn. 15 und 16; zur Gefährdungsprognose allgemein etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0062, Rn. 9 und 10, mwN).

35       Diese Überlegungen gelten entsprechend für die dem Revisionswerber vorgeworfenen verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen, bei denen das BVwG, das selbst - entgegen dem BFA - zutreffend von der Nichterfüllung des Tatbestandes nach § 53 Abs. 2 Z 1 FPG ausgegangen ist, jede inhaltliche Konkretisierung unterlassen hat (vgl. zum Erfordernis entsprechender Konkretisierungen allgemein etwa VwGH 29.9.2020, Ra 2020/21/0006, Rn. 12 bis 14).

36       Bei dem zur Relativierung der Aufenthaltsdauer schließlich noch herangezogenen Argument des BVwG, der Revisionswerber habe viele Jahre hindurch ohne entsprechende Bewilligung Beschäftigungen ausgeübt, wird außer Acht gelassen, dass insoweit nicht nur eine vergangenheitsbezogene, sondern in Bezug auf den gegebenenfalls zu erteilenden Aufenthaltstitel in erster Linie eine zukunftsorientierte Betrachtung anzustellen gewesen wäre (vgl. neuerlich VwGH 5.3.2021, Ra 2020/21/0465, nunmehr Rn. 9 am Ende, mwN).

37       Diese Überlegung schlägt auch auf den vom BVwG herangezogenen Einreiseverbotstatbestand der Mittellosigkeit nach § 53 Abs. 2 Z 6 FPG und die aus der Mittellosigkeit resultierende Gefahr der Unterhaltsbeschaffung aus illegalen Quellen durch. Für den Fall der Feststellung der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung hätte es nämlich zur Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zu kommen, der die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit erlaubt (§ 54 Abs. 1 AsylG 2005). Von daher würde sich die Problematik der Mittellosigkeit bzw. der daraus ableitbaren Gefährdung - die Weiterführung insbesondere der selbständigen Tätigkeit des Revisionswerbers und Erzielung eines dann ausreichenden Einkommens daraus unterstellt - voraussichtlich nicht realisieren (vgl. dazu wiederum VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100, jetzt Rn. 18, mwN).

38       Da das BVwG die aufgezeigten Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigte, hat es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, sodass es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

39       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. August 2021

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210062.L00

Im RIS seit

13.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

13.09.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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