TE OGH 2021/8/3 8Ob75/21v

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Veröffentlicht am 03.08.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen E*****, geboren ***** 2020, *****, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter B*****, vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in Ried im Innkreis, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom 21. April 2021, GZ 21 R 93/21g-19, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Vöcklabruck vom 23. Februar 2021, GZ 40 Ps 168/20s-14, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Aus Anlass des Revisionsrekurses werden die Beschlüsse der Vorinstanzen aufgehoben, und die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

[1]       Die ***** 2020 geborene E***** ist das dritte Kind der B*****. Der Vater ist nicht festgestellt. Sie entstammt aber – anders als ihre Halbschwestern, die ***** 2012 geborene A***** und die ***** 2016 geborene E***** – nicht der im Juni 2020 geschiedenen Ehe ihrer Mutter mit F*****. Diese Beziehung war äußerst konflikthaft. Nach einem heftigen Streit am 19. 4. 2020 verließ F***** endgültig die Wohnung der Mutter.

[2]       Die Mutter lebt mit ihren drei Töchtern in einem Haushalt. Die Minderjährige wird in großem zeitlichen Umfang von der mütterlichen Großmutter, aber auch von anderen Familienmitgliedern, wie den Schwestern der Mutter betreut. Die Mutter, die im Frühjahr 2020 an gravierenden gesundheitlichen Problemen litt, übersiedelte auch für eine gewisse Zeit zu ihren Eltern. Die Familie wird durch Mobilis betreut. Im Kindergarten wurden bei der mittleren Tochter E***** nicht erklärbare Verhaltensauffälligkeiten und gelegentlich sichtbare blaue Flecken bemerkt. Sie gab im Kindergarten an, von der mütterlichen Großmutter geschlagen worden zu sein. Die älteste Tochter A***** wurde von der Mutter, der mütterlichen Großmutter und dem mütterlichen Großvater mit der Hand geschlagen. Auch die mittlere Schwester wurde von der mütterlichen Großmutter mit der Fliegenklatsche geschlagen.

[3]            Bei der Mutter bestehen deutliche Defizite sowohl hinsichtlich der allgemeinen als auch der speziellen Erziehungsfähigkeit. Die Mutter ist nicht in der Lage, auf die Bedürfnisse ihres Kindes zu reagieren, vielmehr stehen ihre eigenen Bedürfnisse im Vordergrund. Daher gibt die Mutter Erziehungsverantwortung an ihre Familie ab. Trotz der ambulanten Betreuung und Unterstützung ist derzeit das Wohl der Kinder bei der Mutter „nicht wirklich“ gewährleistet. Das Entwicklungspotential der Mutter ist nur gering ausgeprägt, sodass sie bei zunehmendem Alter der Kinder und zunehmender Herausforderung „langfristig“ an ihre Grenzen stoßen und eine ambulante Maßnahme „irgendwann“ nicht mehr ausreichen würde. Eine Obsorgeübertragung an den Kinder- und Jugendhilfeträger bei gleichzeitiger Fremdunterbringung der Minderjährigen ist die beste Option, um das Kindeswohl langfristig zu sichern, wobei die Kinder zumindest ein Jahr in einer stabilen Umgebung bleiben sollten. Während dieser Zeit muss die Mutter an ihrer Erziehungsfähigkeit und Kooperationsfähigkeit arbeiten, damit sie ihren Kindern die dringend notwendige Sicherheit und Stabilität geben kann. Eine Alternative zur Fremdbetreuung besteht nicht. Andere geeignete Personen, denen die Obsorge übertragen werden könnte, sind nicht bekannt.

[4]       Am 4. 11. 2020 beantragte der Kinder- und Jugendhilfeträger (KJHT), ihn mit der Obsorge für die minderjährige E***** zu betrauen, weil die Sachverständige in dem die Halbschwestern betreffenden Pflegschaftsverfahren eine Obsorgeübertragung an den KJHT und die Fremdunterbringung der beiden Mädchen befürwortet habe.

[5]       Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus.

[6]       Das Erstgericht entzog der Mutter wegen Kindeswohlgefährdung gemäß § 181 ABGB die Obsorge für die Minderjährige und übertrug sie dem KJHT. Die Erziehungsfähigkeit der Mutter sei derzeit nicht gegeben. Ein Verbleib des Kindes bei der Mutter entspreche nicht dessen Wohl, bestehe doch auch die Gefahr, dass es – wie seine Schwestern – künftig Schlägen der Mutter und der mütterlichen Großeltern ausgesetzt sei. Eine Übertragung der Obsorge an die Großeltern entspreche nicht dem Kindeswohl.

[7]       Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig. Die Beurteilung des Erstgerichts, das Wohl der Minderjährigen wäre bei einem Verbleib bei der derzeit nicht erziehungsfähigen Mutter gefährdet, sei in keiner Weise zu beanstanden.

[8]       Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter mit einem Abänderungsantrag.

[9]       Der KJHT beteiligte sich nicht am Revisionsrekursverfahren.

[10]     Den Entscheidungen und dem Verfahren der Vorinstanzen haftet der Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG an, der im Revisionsrekursverfahren – analog § 55 Abs 3 AußStrG – von Amts wegen wahrzunehmen ist.

Rechtliche Beurteilung

[11]     1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Solche Verfügungen können nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB – unter anderem – vom KJHT beantragt werden, wie dies hier der Fall war.

[12]     2. Eine Parteistellung im Obsorgeverfahren kann sich losgelöst von der Antragslegitimation nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB aber auch daraus ergeben, dass die Entscheidung im Sinn des § 2 Abs 1 Z 3 AußStrG unmittelbar in die rechtlich geschützte Stellung einer Person eingreift. Eine solche Rechtsposition verschafft § 178 ABGB den (bisher nicht obsorgeberechtigten) Elternteilen, den Großeltern und den Pflegeeltern. § 178 ABGB normiert nämlich im Falle der Verhinderung eines allein obsorgeberechtigten Elternteils die Übertragung der Obsorge an den anderen Elternteil, die Großeltern (den Großelternteil) oder die Pflegeeltern (den Pflegeelternteil). Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben nach § 178 ABGB Vorrang vor Dritten (RIS-Justiz RS0123509 [T1]). Nur wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, ist eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (§ 204 ABGB). Die Übertragung der Obsorge an den KJHT kann dabei wiederum nur das letzte Mittel zur Hintanhaltung einer Gefährdung des Kindeswohls sein. Das Gericht hat die Obsorge dem KJHT nur dann zu übertragen, wenn sich dafür Verwandte oder andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen nicht finden (§ 209 ABGB).

[13]     3. Konsequenz der in § 178 ABGB normierten materiellen Rechtsposition der Eltern, Großeltern und Pflegeeltern ist deren Parteistellung im Verfahren. Soll die Obsorge dem bisher allein obsorgeberechtigten Elternteil entzogen und einer anderen Person übertragen werden, hat der andere Elternteil jedenfalls, also unabhängig von einer Antragstellung Parteistellung. Stellt sich heraus, dass beide Elternteile nicht imstande sind, die Obsorge zum Wohl des Kindes auszuüben, also eine dritte Person (dann aber vorrangig die Großeltern) damit betraut werden müsste, kommt den Großeltern Parteistellung zu (zuletzt etwa 5 Ob 41/20w mwN). Das materielle Recht schützt die Stellung letzterer also dann, wenn nicht der andere Elternteil betraut wird oder auch dieser verhindert ist (5 Ob 41/20w mwN).

[14]     4. Im Hinblick darauf, dass die Vorinstanzen die Eignung der Mutter verneint haben und der Vater des Kindes unbekannt ist, hätten die Vorinstanzen hier die Parteistellung der mütterlichen Großeltern zu berücksichtigen gehabt, dies umso mehr, als feststeht, dass das Kind in großem zeitlichen Umfang von der mütterlichen Großmutter betreut wird, zu der es laut Akteninhalt auch von Beginn an eine gute Bindung entwickelt hat. Ungeachtet dessen wurden die mütterlichen Großeltern weder zur Verhandlung geladen, noch wurden ihnen die Verfahrensergebnisse oder die Beschlüsse der Vorinstanzen zugestellt. Darin ist eine Verletzung des ihnen nach § 15 AußStrG zu gewährenden rechtlichen Gehörs zu erblicken (5 Ob 68/15h; 1 Ob 189/18b; 5 Ob 143/19v; 5 Ob 41/20m).

[15]     5. Schon dieser Entzug des rechtlichen Gehörs zwingt zur Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im Außerstreitverfahren zwar nur dann von Amts wegen wahrzunehmen, wenn sie Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung haben konnte (RS0119971 [T7]; RS0123128). Gemäß § 58 Abs 1 AußStrG ist vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückverweisung der Außerstreitsache in eine der Vorinstanzen also grundsätzlich zu überprüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittelverfahren oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Hier waren aber die mütterlichen Großeltern zu einem Vorbringen gar nicht in der Lage, sodass die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs im Revisionsrekursverfahren zur Aufhebung führen muss (zuletzt etwa wieder 5 Ob 41/20w mwN). Eine Sanierung durch Zustellung lediglich des rekursgerichtlichen Beschlusses im Sinn eines Vorrangs der Sacherledigung (vgl RS0123128) kommt hier nicht in Betracht, weil die Gehörverletzung mit der Notwendigkeit einer Verfahrensergänzung einhergeht (1 Ob 189/18b mwN). Mit der Feststellung des Erstgerichts, dass die mütterliche Großmutter beide und der väterliche Großvater die ältere der Halbschwestern der Minderjährigen geschlagen hat, die allein auf den (von der Sachverständigen bzw der ambulanten Betreuung wiedergegebenen) Schilderungen der beiden Mädchen beruht, und dessen ausschließlich darauf basierender rechtlicher Schlussfolgerung, dass auch die Minderjährige der Gefahr ausgesetzt sei, künftig von den mütterlichen Großeltern geschlagen zu werden, kann nicht das Auslangen gefunden werden, weil die Großeltern zu diesen Vorwürfen nicht gehört, geschweige denn durch das Gericht befragt worden sind.

[16]           6. Die Obsorgeentscheidung ist zukunftsbezogene Rechtsgestaltung und nur dann sachgerecht, wenn sie auf aktueller und ausreichender Sachverhaltsgrundlage beruht (vgl RS0048632 [T4]). Dem werden die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen nicht gerecht:

[17]           Insbesondere lässt sich aus den Feststellungen, dass das Wohl der Kinder bei der Mutter „nicht wirklich“ gewährleistet ist und die Mutter mit zunehmendem Alter der Kinder „langfristig“ an ihre Grenzen stoßen und eine ambulante Maßnahme „irgendwann“ nicht mehr ausreichen würde, gerade keine konkrete und aktuelle Gefahrenlage für das Kindeswohl ableiten (RS0085168; RS0048699). Warum eine Obsorgeänderung im Interesse der minderjährigen E***** dringend geboten ist, ist auf Basis dieser Feststellungen nicht nachvollziehbar.

[18]           7. Das Erstgericht wird daher – als Voraussetzung für eine Obsorgeentziehung – Feststellungen zu treffen haben, durch welches Verhalten der Mutter – im Raum steht eine erhöhte Gewaltbereitschaft – konkret und aktuell E*****s Wohl gefährdet wird.

[19]           Zudem wird das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren die Großeltern beizuziehen und ihnen die Möglichkeit zu geben haben, einen Obsorgeantrag zu stellen. Falls die Großeltern die Obsorge anstreben sollten, müsste – unter sorgfältiger Prüfung der von den beiden älteren Mädchen geschilderten Gewalttätigkeiten und durch Einholung eines Gutachtens – deren Erziehungsfähigkeit ganz konkret in Bezug auf die erst im Kleinkindalter befindliche E***** abgeklärt werden. In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich im bisherigen Gutachten der Sachverständigen unter anderem die Aussage findet, dass die ständigen Unterbringungen bei der mütterlichen Großmutter grundsätzlich dem Kindeswohl nicht abträglich sind, und aus den Betreuungsberichten hervorgeht, dass E***** das einzige Kind ist, das nicht von den Großeltern geschlagen wird.

[20]     Erst nach einer Ergänzung des Verfahrens und der Feststellungen wird eine abschließende Beurteilung der Berechtigung des Obsorgentziehungsantrags des KJHT möglich sein.

Textnummer

E132635

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0080OB00075.21V.0803.000

Im RIS seit

16.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

13.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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