TE OGH 2021/8/3 8Ob68/21i

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Veröffentlicht am 03.08.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen M*****, geboren ***** 2015, *****, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter D*****, vertreten durch Mag. Dino Mulalic, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 25. Februar 2021, GZ 48 R 53/20d-86, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Text

Begründung:

[1]       Der im Jahr 2015 in Österreich geborene Minderjährige und seine Eltern sind serbische Staatsangehörige. Die Obsorge kam seit der Eheschließung 2016 beiden Elternteilen gemeinsam zu. Mit (rechtskräftigem) Beschluss vom 5. 11. 2019 schränkte das Erstgericht die Obsorge der Mutter dahin vorläufig ein, als ihr – flankiert durch Hinterlegung des Reisepasses des Kindes bei Gericht – untersagt wurde, mit dem Minderjährigen aus dem österreichischen Bundesgebiet auszureisen.

[2]       Über Antrag des Vaters vom 19. 9. 2019 bejahten die Vorinstanzen die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts für die Führung des Pflegschaftsverfahrens und wiesen dem Vater die Obsorge für das Kind einstweilig alleine zu.

Rechtliche Beurteilung

[3]       Die Mutter zeigt in ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs, der eine Fehlbeurteilung der inländischen Gerichtsbarkeit releviert, keine erheblichen Rechtsfragen auf:

1. Nach Art 61 lit a Brüssel IIa-VO kommt der Zuständigkeitsbestimmung des Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO Vorrang vor dem Zuständigkeitssystem des KSÜ zu (RIS-Justiz RS0128460), wenn das Kind – zum Zeitpunkt der Antragstellung (6 Ob 194/14v; 5 Ob 194/10f) – seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat. In diesem Fall haben mitgliedstaatliche Gerichte aber auch dann die VO anzuwenden, wenn – wie hier – das Kind die Staatsbürgerschaft eines Vertragsstaats des KSÜ hat, der nicht zugleich Mitgliedstaat im Sinn der VO ist (Prisching in Gitschthaler, Internationales Familienrecht Art 61 Brüssel IIa-VO Rz 5 mwN).

[4]       2. Der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ im Sinn des Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO ist autonom entsprechend den Zielen und Zwecken der Brüssel IIa-VO auszulegen. Nach der Rechtsprechung des EuGH (C-523/07, ECLI:EU:C:2009:225) ist dieser Begriff dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen (RS0126369). Ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, stellt regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung dar (RS0126369 [T9]).

[5]            3.1 Nach den Feststellungen lebt das Kind bei seinem Vater in Wien und besucht dort seit Herbst 2019 den Kindergarten. Nebenan wohnt die väterliche Großmutter, die das Kind mitbetreut und die Mutter unterstützt hat, soweit diese das zuließ. Die Mutter hat keinen persönlichen Kontakt mehr zu ihrem Sohn, seit sie sich nach einer Wegweisung aus der gemeinsamen Wohnung in Wien im Herbst 2019 in Serbien aufhält. Bis dahin verbrachte sie aus aufenthaltsrechtlichen Gründen mit ihrem Sohn jeweils abwechselnd („halbe-halbe“) drei Monate in Österreich und drei Monate in Serbien.

[6]       3.2 Die Auffassung der Vorinstanzen, dass ausgehend von diesem Sachverhalt ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes zum maßgeblichen Zeitpunkt in Österreich vorliegt, ist nicht zu beanstanden, zumal aus den festgestellten Bemühungen der Eltern, bereits vor der Eheschließung die gemeinsame Obsorge zu begründen, um leichter ein Visum für das Kind zu erlangen, durchaus – wie das Erstgericht bemerkt – auf die Absicht der Familie geschlossen werden kann, dass der Hauptaufenthalt des Kindes in Österreich liegen sollte.

[7]            Daran ändert nichts, dass die Mutter – mittlerweile – keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat, weil der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht von einem Elternteil abgeleitet, sondern auf die Person des Kindes bezogen zu prüfen ist (vgl RS0046742 [T7]). Eine bestimmte Mindestdauer zur Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts ist nicht erforderlich (EuGH 22. 12. 2010, C-497/10, ECLI:EU:C:2010:829, Rn 51; Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht Art 8 Brüssel IIa-VO Rz 26 mwN). Dass sich das Kind vor Herbst 2019 nie länger als drei Monate durchgehend in Österreich aufgehalten hat, schadet daher nicht.

[8]            4. Unter dem Rechtsmittelgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens versucht die Mutter, die (dislozierte) Feststellung des Erstgerichts, dass Mutter und Kind (bis Herbst 2019) „halbe-halbe“ zwischen Serbien und Österreich hin- und hergependelt sind und es keinen „serbischen Überhang“ gab, mit der Behauptung zu bekämpfen, dass das Kind entsprechend den Ein- und Ausreisestempeln im Reisepass nachweislich mehr Zeit in Serbien verbracht habe. Der Oberste Gerichtshof ist aber auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz (RS0007236; RS0006737).

[9]            5. Der außerordentliche Revisionsrekurs war daher zurückzuweisen.

Textnummer

E132643

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0080OB00068.21I.0803.000

Im RIS seit

16.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.09.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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