TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/22 W105 2196732-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.02.2021
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Entscheidungsdatum

22.02.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W105 2196732-1/25E

W105 2196732-2/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.04.2018, Zahl: XXXX , sowie gegen den Bescheid vom 12.10.2018, Zahl: XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.01.2021 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom 11.04.2018 wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

IV. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und diese Spruchpunkte werden gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

V. Der Bescheid des Bundeamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2018, Zahl: XXXX , wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF), ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 12.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005).

Im Rahmen der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes vom 12.10.2015 gab der BF im Wesentlichen an, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem zu sein. Er sei im Iran geboren, nach dem Tod seiner Mutter vom Vater nach Afghansitan zurückgebracht worden und habe in Kabul die Grundschule besucht. Er habe in Kabul gelebt und seien einige Kinder von unbekannten Leuten entführt worden. Weiters habe er vergiftete Lebensmittel in einem Geschäft gegenüber der Schule gekauft. Er habe auch vermutet, dass das Wasser des Brunnens, aus dem sie getrunken hätten, vergiftet gewesen sei. Er habe sich mehrmals selbst unwohl gefühlt und habe sich aus diesem Grund entschlossen Afghanistan zu verlassen. So habe er vor acht Monaten (gerechnet vom Zeitpunkt der niederschriftlichen Einvernahme) Afghanistan Richtung Iran verlassen und dort etwa sechs Monate als Schneider gearbeitet. Dann sei er nach Europa gereist.

Am 02.11.2017 wurde der Antragsteller vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen und gab hiebei auf Befragen zu Protokoll, er habe zuletzt in Kabul gemeinsam mit seinem Vater und seiner Stiefmutter gewohnt und habe sein Vater an einem Stand Kinderkleidung verkauft. Tatsächlich sei er im Iran geboren und im Alter von etwa 1 ½ Jahren gemeinsam mit seinem Vater nach Afghanistan zurückgegangen. Aufgrund der unsicheren Lage im Wohndistrikt der Familie habe sein Vater gemeint, dass er nun neuerlich in den Iran gehen solle und habe er sich dann dort illegal sieben Monate aufgehalten und gearbeitet. Im Rahmen einer Inhaftierung im Iran sei er von der Abschiebung nach Afghanistan bedroht gewesen und sei er daher nach Europa geflüchtet. Gefragt nach Problemen während des Aufenthaltes Afghanistan gab der Antragsteller an, dass im Rahmen der Terroranschläge überwiegend Hazara betroffen gewesen seien und seien sie von den Paschtunen schikaniert worden. Afghanistan sei ein unsicheres Land und sei sein Leben in Gefahr gewesen.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 11.04.2018 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte IV.-VI.) betrage.

Begründend wurde zentral zur Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz ins Treffen geführt, dass es dem Antragsteller nicht gelungen sei, eine asylrechtlich relevante individuell-konkrete Verfolgungssituation aufzuzeigen, die Abweisung des Antrages auf subsidiären Schutz wurde mit der persönlichen Arbeitsfähigkeit, seiner Mobilität und Anpassungsfähigkeit begründet sowie insbesondere mit dem Vorliegen von familiären Anknüpfungspunkten in Kabul und den vor Ort vorhandenen Rückkehr- und Starthilfen.

3. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und im Rahmen des Beschwerdeschriftsatzes ins Treffen geführt, dass die Behörde es völlig verabsäumt habe zu würdigen, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen unbegleiteten Minderjährigen von 15 Jahren handle, der über Vorkommnisse berichtet habe, die ihm in einem kindlichen Alter von nur 10 Jahren widerfahren seien. In diesem Zusammenhang wurde auf seine Zugehörigkeit zur Minderheit der schiitischen Hazara und damit einhergehend die allgemeine Gefahr von Kindesentführungen in seiner unmittelbaren Wohngegend verwiesen. Es sei notorisch, dass Kinder – insbesondere von Rückkehrern – in Afghanistan dem realen Risiko ausgesetzt seien könnten, einer Artikel 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden. Eine Auseinandersetzung mit einem bestehenden Risiko in Hinblick auf Artikel 2 und 3 EMRK wurde seitens der Behörde habe nicht stattgefunden. Der Verfassungsgerichtshof habe wiederholt die Bedeutung von Länderfeststellungen in Hinblick auf Minderjährige als besonders vulnerable Antragsteller hervorgehoben. Der Antragsteller würde bei Rückkehr jedenfalls aufgrund seiner hohen Vulnerabilität Gefahr laufen, einer Verletzung seiner durch Artikel 2 und 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein. Überdies leide der Antragsteller an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer schweren akuten Belastungsreaktion und einer mittelgradig depressiven Episode. Eine Fortführung der bereits begonnen psychotherapeutischen Behandlung in Kabul sei nicht gewährleistet. Auf die Beschwerden psychischen Folgen des Beschwerdeführers gehe die Behörde überdies in keinster Weise ein.

4. Mit dem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2018 wurde festgestellt, dass gem. § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG der Antragsteller sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 09.07.2018 verloren hat. Die Entscheidung erging aufgrund einer erfolgten strafrechtlichen Verurteilung des Antragstellers.

5. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der gegenständlichen Rechtssache am 26.01.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seiner gewillkürten Vertreterin persönlich teilnahm.

Das Beschwerderechtsgespräch gestaltete sich im Wesentlichen wie folgt:

Beginn der Befragung

I. Zum aktuellen Zustand des BF:

R: Wie geht es Ihnen gesundheitlich (sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht [die Begriffe werden mit dem BF abgeklärt, sodass ihm diese geläufig sind]): Sind Sie insbesondere in ärztlicher Behandlung, befinden Sie sich in Therapie, nehmen Sie Medikamente ein?

BF: Mir geht es heute gut, ich kann der Verhandlung folgen. Aber normalerweise stehe ich unter Stress, wegen meinem Asylverfahren.

R: Sie wurden sowohl vor der Polizei als auch vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Haben Sie damals die Wahrheit gesagt oder möchten Sie auch noch etwas ergänzen?

BF: Ich habe die Wahrheit gesagt (so der BF auf Deutsch).

R: Wie gut sind Ihre Deutschkenntnisse? Welches Sprachniveau haben Sie erreicht?

BF (auf Deutsch): Ich habe B2.

RV: Der BF hat einen Pflichtschulabschluss gemacht, was auch B1 voraussetzt.

R: Haben Sie die B2 Prüfung abgelegt?

BF (auf Deutsch): Ich habe wegen Corona keine Prüfung gehabt. In Zukunft habe ich die Prüfung, die ich ablegen werde.

R: Wurden Ihnen die beiden Protokolle vor der Polizei und vor dem BFA rückübersetzt zur Kenntnis gebracht?

BF: Ja.

R: Ich möchte zuerst auf Vorfälle im Herkunftsstaat Bezug nehmen.

R erklärt dem BF die Gründe der Flüchtlingskonvention.

R: Hat eine massive, gegen Ihre Person gerichtete Verfolgung im Herkunftsstaat stattgefunden?

BF: Ich habe in Afghanistan die Schule besucht. Man hat unser Trinkwasser in der Schule vergiftet und dadurch wurden viele Schüler und Schülerinnen vergiftet. Es war nicht mehr möglich die Schule zu besuchen. Meine leibliche Mutter ist verstorben und ich hatte eine Stiefmutter, die mit mir nicht gut umgegangen ist und mich nicht mochte. Das waren die Gründe, warum ich gezwungen war, Afghanistan zu verlassen.

RV: Die rechtliche Vertretung möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der BF durch die negative Entscheidung der ersten Instanz 2018 stark psychisch und in seiner gesamten Lebensführung destabilisiert worden ist. Dies hat sich negativ auf seine gesamte Entwicklung ausgewirkt und das hat für die Kinder- und Jugendhilfe sowie insbesondere für die betreuende Sozialpädagogin Jahre gedauert ihm diesen Schaden wieder aufzufangen und dem BF wieder zu stabilisieren. Die rechtliche Vertretung kann dies in ihrer langjährigen Erfahrung in der Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen mit negativen erstinstanzlichen Entscheidungen wiederholt beobachten. Insbesondere im Lichte der neuesten Judikatur des Europäischen Gerichtshofes sind die negativen erstinstanzlichen Entscheidungen für unbegleitete Minderjährige, wie sie die erste Instanz in diesem Fall auch getroffen hat, untragbar. Der Lebensweg des BF in Österreich ist insbesondere vor diesen Umständen zu würdigen und es ist darauf Bezug zu nehmen, wie schwer eine negative Entscheidung erster Instanz ein unbegleitetes Kind trifft.

R: Können Sie für mich kurz noch einmal die wesentlichen Stationen Ihres Lebensweges berichten?

BF (auf Deutsch): Ich bin im Iran in Khoramabad Lorstan geboren. Lorstan ist eine Stadt.

R: Wann sind Sie geboren?

BF (auf Deutsch): Das genaue Datum weiß ich leider nicht, aber jedenfalls im Jahr 2003.

R: Wie lange haben Sie dann im Iran gelebt?

BF (auf Deutsch): Ich war sehr klein. Ich war zwischen 6 Monaten oder einem Jahr oder zwei Jahren, als ich vom Iran nach Afghanistan zurückgebracht wurde mit meinen Eltern.

R: Haben Sie Geschwister?

BF (auf Deutsch): Leibliche Geschwister nicht, aber von meiner Stiefmutter.

R: Über welche Schulbildung verfügen Sie?

BF: 2-3 Jahre habe ich eine Koranschule in Afghanistan besucht.

R: Wo in Afghanistan haben Sie die Schule besucht?

BF: In der Hauptstadt Kabul.

R: Warum haben Sie in der Ersteinvernahme angegeben 6 Jahre die Schule besucht zu haben?

BF (auf Deutsch): Ich glaube, es wurde falsch übersetzt.

RV: Das ist tatsächlich der Fehler in der Ersteinvernahme, den der BF später korrigiert hat.

R: Können Sie erklären, warum Sie heute etwas ungenauer angeben, zwei bis drei Jahre die Schule besucht zu haben?

BF (auf Deutsch): Ich war damals wirklich sehr klein, ich war 10 oder 11, als ich die Schule besucht habe. Ich kann mich nicht gut erinnern.

R: Sie haben also etwa ab dem 2. Lebensjahr mit Ihren Eltern in Kabul gelebt?

BF: Ja.

R: Was hat Ihr Vater gearbeitet?

BF: Er hat eigentlich keinen Job gehabt. Er hat für eine kurze Zeit in ein Bekleidungsgeschäft gearbeitet. Das war nicht sein eigenes Geschäft, er hat nur dort gearbeitet.

R: Wie lange etwa war er in diesem Geschäft tätig?

BF (auf Deutsch): Ich kann mich leider nicht erinnern. Als ich aus Afghanistan weggegangen bin, hat er damit aufgehört.

R: Wenn Sie sich an den Zeitraum vor Ihrer Ausreise erinnern, waren Sie im Alter von 12 bzw. 13 Jahren. Unmittelbar vor Ihrer Ausreise haben Sie also noch die Schule in Afghanistan besucht. Ist das richtig?

BF (auf Deutsch): Ja.

R: Wovon hat zu diesem Zeitpunkt, nämlich die letzten 6 Monate bzw. 1 Jahr vor Ihrer Ausreise, Ihre Familie gelebt?

BF: Ich habe gearbeitet als Gehilfe in einem Eisgeschäft und mein Vater hat auch in diesem Bekleidungsgeschäft gearbeitet.

R: Als Sie Afghanistan verlassen haben, sind Sie da direkt nach Europa gereist?

BF: Nein, ich bin zuerst in den Iran gegangen, ich bin zwischen 1 bis 2 Jahre im Iran geblieben. Danach ging ich in die Türkei und dann nach Europa.

R: Wo im Iran haben Sie sich aufgehalten während dieser Zeit?

BF: In Teheran, um etwas Geld zu verdienen für die weitere Reise.

R: Bei wem haben Sie sich aufgehalten?

BF (auf Deutsch): Dort hat mein Onkel gearbeitet, also beim Onkel.

R: Was haben Sie dort gearbeitet?

BF: Ich habe in einer Fabrik gearbeitet, wo Taschen für Frauen produziert werden.

R: Wie alt waren Sie, als Sie von Kabul nach Teheran gegangen sind? Wer hat Sie begleitet?

BF (auf Deutsch): Ich war 10 oder 11 Jahre alt, ich bin alleine geflüchtet mit einem Schlepper. Ich habe Geld dafür bezahlt. Nachgefragt: Ich hatte die Adresse vom Onkel in Teheran.

R: Sie haben gerade erwähnt, dass Sie von Afghanistan nach Teheran geflüchtet sind. Waren Sie in Teheran in Sicherheit vor dieser Gefahr in Afghanistan?

BF (auf Deutsch): In Afghanistan hat man keine Menschenrechte. Sie werden auch nach Syrien geschickt.

R: War es von Anfang an Ihr Ziel nach Europa zu kommen?

BF (auf Deutsch): Als ich von Afghanistan nach Iran geflüchtet bin und gearbeitet habe, war es sehr schwer für mich. Ich musste von 7 in der Früh bis 12 in der Nacht arbeiten, ich war 11 Jahre alt.

R: Haben oder hatten Sie nach der Ausreise Kontakt zu Ihrem Vater im Herkunftsstaat?

BF: Aus dem Iran hatte ich noch Kontakt manchmal mit ihm. Es gibt in Afghanistan ein schlechtes Internet, ich kann nicht regelmäßig telefonieren. Einmal im Monat telefoniere ich vielleicht.

R: Ist Ihr Vater jetzt noch in Kabul?

BF: Ja, mein Vater lebt noch in Kabul mit meiner Stiefmutter.

R: Wie viele Geschwister haben Sie?

BF: Ich habe eine Halbschwester.

R: Was berichtet Ihr Vater, wenn Sie mit ihm telefonieren?

BF: Er will, dass ich meine Zukunft viel besser mache. Er sagt, dass ich in Afghanistan keine Zukunft habe.

R: Wovon lebt Ihre Familie in Afghanistan?

BF: Mein Vater arbeitet in einer Bäckerei, aber sein Job ist nicht fix dort.

RV: Können Sie das näher erklären?

BF: Es ist so, wenn es keine Arbeit dort gibt, dann muss er in eine andere Bäckerei und dort ein paar Tage arbeiten und immer so weiter. Es ist nur so, dass die Bäckereien nicht meinem Vater gehören, sondern er arbeitet als Gehilfe immer in einer anderen Bäckerei bzw. schickt man ihn weg.

RV: Er meint damit, dass sein Vater Gelegenheitsarbeiten macht.

R: Hat Ihnen Ihr Vater am Telefon in den letzten Monaten bzw. Jahren berichtet, dass die Existenz der Familie so gefährdet ist, dass die Familie hungern muss?

BF: Sie wissen schon, dass die wirtschaftliche Lage in Afghanistan schon seit Jahren sehr schlecht ist. Meinem Vater geht es gesundheitlich nicht so gut, sodass er nur so viel verdienen kann, dass er gerade meine Halbschwester und meine Stiefmutter versorgen kann.

R: Woran leidet Ihr Vater?

BF (auf Deutsch): Er hat Herzprobleme und er kann wirklich nicht arbeiten. Er kann in letzter Zeit nicht mehr arbeiten.

R: Wovon lebt die Familie in letzter Zeit?

BF (auf Deutsch): Er kann nicht richtig arbeiten.

R: Wie alt ist Ihre Halbschwester?

BF (auf Deutsch): Sie ist 10 oder 11 Jahre alt.

R: Sie meinen also Ihr Vater könnte Sie bei Rückkehr nicht ernähren oder unterhalten?

BF (auf Deutsch): Nein, sie könnten mich nicht akzeptieren.

R: Wie sind die Wohnverhältnisse Ihrer Familie in Kabul?

BF (auf Deutsch): Ein gemietetes Haus.

R: Wären Sie selbst in der Lage in Afghanistan zu arbeiten?

BF (auf Deutsch): Als ich 12 oder 13 Jahre alt war, bin ich nach Österreich gekommen, bin hier aufgewachsen und habe mich hier gewöhnt. Wenn ich wieder nach Afghanistan zurückkehren würde, würden sie mich nicht akzeptieren. Sie würden mich nicht durch die Tür lassen. Sie würden mir sagen, dass ich schon weggegangen bin. Meine Stiefmutter hat jeden Tag mit mir Probleme gehabt und hat mich geschlagen.

R: Glauben Sie wirklich, dass Ihr leiblicher Vater Ihnen die Unterkunftnahme in seinem Haus bei Ihrer Rückkehr verweigern würde?

BF: Er wird sie verweigern.

R: Aus hunderten Einvernahmen mit afghanischen Bürgern wurde mir immer berichtet, dass die Familie so viel zählt und insbesondere der Sohn. Ist das in Ihrer Familie nicht so?

BF (auf Deutsch): Nein, sie akzeptieren mich nicht, wenn ich zurückkomme.

R: Was ist Ihre Volksgruppenzugehörigkeit?

BF: Ich bin Hazara. Wir sind eine Minderheit in Afghanistan.

Der Zeuge XXXX wird um 10:17 Uhr hereingebeten.

Z: XXXX , geb. XXXX

Adresse: XXXX

Beruf: Sozialpädagoge

R belehrt den Z.

R: Wie haben Sie den heute anwesenden BF kennengelernt?

Z: Kennengelernt schon früher. Ich war in einer Wohngemeinschaft lange Zeit als Sozialpädagoge tätig. Das war aber nicht die Wohngemeinschaft, in der der BF gewohnt hat. Unser Verein hat zwei und ich war in einer anderen.

R: Wann haben Sie das erste Mal beruflich Kontakt mit dem BF aufgenommen?

Z: Ich war nicht in einem Betreuungsverhältnis mit ihm. Jetzt seit Mai 2020 betreue ich den BF. Er wohnt in einer Wohnung die von unserem Verein (Jugend mit Ziel) zur Verfügung gestellt wird. Das ist ein privater Verein, der mit der MA11 zusammenarbeitet. Ich selbst habe ein zweijähriges College gemacht.

R: Können Sie mir da sagen, was beinhaltet diese Betreuung?

Z: Sie beinhaltet, wenn keine Corona Situation ist, zwei bis dreimal wöchentlich persönliches Treffen. Das ist einerseits in der Wohnung, um zu schauen, ob die Wohnung ok ist. Dann aber auch Begleitung zu Fachärzten.

R: Sie betreuen den BF seit Mai 2020, da war Corona. Wie war das?

Z: Seit Corona sind die Betreuungszeiten reduziert worden. Ich sehe ihn wöchentlich, aber momentan ein bis zweimal. Es kommt darauf an, welche Termine anstehen. Seine Wohnung ist ok, die Körperpflege ist top.

R: Wie lange geht der BF schon bei dem Facharzt?

Z: Es handelt sich um einen Facharzt für Psychiatrie. Der BF geht monatlich dort hin. Ich gehe jedes Mal mit ihm mit.

R: Sind Sie bei Therapiegesprächen auch dabei?

Z: Es ist keine Psychotherapie. Im Prinzip ist es ein Psychiater, der Medikamente verschreibt. Der BF nimmt derzeit keine Medikamente, es sind aber trotzdem Entlastungsgespräche.

R: Wissen Sie woher der Druck kommt, den der BF hat?

Z: Ich glaube der kommt aus verschiedensten Seiten. Einerseits durch meine Beobachtung, wirkt es wie eine schwere Traumatisierung. Ich weiß nicht ob es mit der Zeit in Afghanistan zusammenhängt oder mit seiner Flucht. Es gibt, glaube ich, auch so etwas wie ein elterlicher Druck. Sollte er zurückkehren, wird es als ein Versagen gewertet. Ich weiß auch, dass der BF hin und wieder Geld nachhause schickt. Ob es da einen Druck von Eltern aus gibt, weiß ich nicht.

R: Wie sehen Sie die Entwicklung des BF?

Z: Ich nehme ihn als sehr, sehr bemüht wahr und sehr betreuungswillig. Das ist nicht unbedingt immer der Fall mit Jugendlichen, mit denen ich arbeite. Was das strafrechtliche in der Vergangenheit betrifft, nehme ich ihn als sehr geläutert wahr. Wir sprechen immer wieder darüber und es wird immer wieder in den Gesprächen gesagt, dass das ein Oberschwachsinn war, was er da gemacht hat. Er sieht es ein, dass er so etwas nicht mehr tun soll.

R: Was ist denn für seine Zukunft geplant (beruflich, sozial)?

Z: Beruflich will er gerne als Installateur oder Maler Fuß fassen. er hat sich auch schon beim bfi erkundigt. Es gibt dort eine überbetriebliche Lehre. Aufgrund seines derzeitigen Status gibt es derzeit keine Perspektive. Der BF benötigt jedenfalls meiner Einschätzung nach noch Betreuung und Unterstützung. Ob das wir machen, das weiß ich nicht, weil er jetzt volljährig geworden ist und ist jetzt verlängert worden. Wie weit die Verlängerung noch verlängert wird, das weiß ich nicht.

RV: Es gibt auch über die Volljährigkeitsgrenze hinweg gewisse Möglichkeiten, vor allem für Jugendliche, die im Lehrverhältnis sind, wenn man einen bestmöglichen Übergang von jungen Erwachsenen ins Leben gewährleisten möchte.

RV: Keine Fragen.

R: Gibt es noch irgendwas, was Sie mir über den BF erzählen möchten?

Z: Seit ich ihn betreue, kann ich eine sehr positive Entwicklung seiner Persönlichkeit sehen.

Der Z wird um 10:36 Uhr entlassen.

R: Wenn Ihr Vater jetzt nach Österreich käme, würden Sie ihn bei sich aufnehmen?

BF: Ich bin sein Blut, ich würde ihn aufnehmen, weil er mein Vater ist. Das Gefühl würde mich nicht lassen.

R: Zu den beiden strafrechtlichen Verurteilungen: Der Zeuge hat eben gesagt, dass Sie sich damit auseinandergesetzt haben. Möchten Sie dazu Stellung nehmen?

BF: Ich bereue das wirklich. Ich war auch damals jung, 15, 16 Jahre alt. Ich bereue das wirklich. Ich werde so etwas sicher nicht mehr machen.

R: Was wären Ihre konkreten beruflichen Pläne?

BF: Ich würde gerne als Installateur in einer Berufsschule anfangen und eine Lehre machen. Für den Fall, dass ich eine Aufenthaltsberechtigung bekomme, wurde mir zugesagt, dass ich eine Lehre anfangen könnte.

RV: Keine weiteren Fragen.

RV: Die Vertretung des BF möchte zusätzlich anmerken, dass bei der Würdigung der strafrechtlichen Verurteilungen im Lichte der Judikatur des VwGH wie auch der Judikatur des EuGH, die in der Interpretation der Statusrichtlinie ergangen sind, jedenfalls vorgegeben wird, dass auf die Umstände des Einzelfalls besonderer Bedacht genommen werden muss. Hiezu möchte die Vertretung darauf verweisen, dass es sich um Jugendstraftaten handelt und der BF und sein Betreuer heute umfangreich die Reue des BF und seine geläuterte Einstellung dargelegt haben.

Ende der Befragung.

6. Mit Eingabe vom 21.01.2021 wurde ein Betreuungsbericht der Bewährungshilfe – Verein Neustart vom 19.01.2021 – nachstehenden Inhalts vorgelegt: Vordringliches Thema in der Betreuung sei von Beginn an die erfolgreiche Integration in Österreich mit allen Schritten und Aufgaben, die mit ihm in Verbindung stehen. Das wiederholte Besprechen von Normen, Regeln und sozialen Verhaltensweisen sei ein wesentlicher Bestandteil in den Gesprächen gewesen. Aus sozialarbeiterischer Sicht habe der Beschwerdeführer diesbezüglich große Fortschritte gemacht. Der Beschwerdeführer habe seit Beginn der Betreuung seine Deutschkenntnisse verbessert, mittlerweile B2 Niveau und die Pflichtschule in der Mittelschule im Jahr 2017/2018 positiv beendet. Der Beschwerdeführer hat überdies vor einiger Zeit einen Kompetenzcheck beim österreichischen Integrationsfond besucht und wolle gerne eine Lehre in einem technischen Bereich absolvieren. Der Antragssteller sei stets pünklich, freundlich und motiviert in der Zusammenarbeit und offen und bereit, sich mit seinen Problemlagen auseinanderzusetzen und seine Delinquenz zu bearbeiten.

7. Mit Eingabe vom 03.12.2020 erstattete der (vormalige) gesetzliche Vertreter und nunmehrig gewillkürte Vertreter eine schriftliche Stellungnahme unter Hinweis auf Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention, in welcher der Vorrang des Kindeswohls für alle Angelegenheiten die Kinder betreffend, festgelegt sei. Das Wohl des Kindes sei dabei Auslegungsmaßstab, als Begründungs- und Abwegungspflicht und als Kriterium bei der Interessenabwägung zu verstehen. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass Volljährigkeitsregelungen jedenfalls nicht insofern „flexibel seien, dass Minderjährige wie Volljährige behandelt würden“. Vielmehr sollte es auch nach der Volljährigkeit einen milderen Maßstab für junge Erwachsene geben. Kinderspezifische Risiken seien auch bei volljährigen jungen Erwachsenen miteinzubeziehen. Zum gesundheitlichen Zustand des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass eine schwere posttraumatische Belastungsstörung mit komplexer Traumafolgestörung diagnostiziert worden sei. So seien bereits beim Beschwerdeführer schwere depressive Episoden mit suizidalen Handlungen und selbstverletzendem Verhalten sowie Schlaftstörungen und Affekteinengungen aufgetreten. Wiederholte Bindungsabbrüche durch Wechsel der sozialpädagogischen Einrichtungen aufgrund von Umstrukturierungen und Schließungen hätten die Symptomatik des Minderjährigen deutlich verschlechtert. Es sei zu mehreren akuten psychiatrischen Aufenthalten im Krankenhaus Hietzing gekommen und ging das Krankenhaus zudem von einer Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen aus. Durch eine langfristigere Einbringung eine Betreuungssituation konnte in letzter Zeit eine gewisse Stabilisierung des Minderjährigen erreicht werden. Eine adäquate Behandlung und Betreuung stehen in Afghanistan jedenfalls nicht zur Verfügung.

8. Eingabe vom 12.02.2021 verwies die Vertretung des Antragstellers darauf, dass sich gemäß der Naim Länderinformationen jedenfalls keine Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan darstellt. Eventuell wurde auf die Versorgungssituation und Situation hinsichtlich Covid19 verlesen wird verwiesen. Der Beschwerdeführer verfüge über dies über kein tragfähiges Netzwerk in Afghanistan. Auch die Loyalität seines Vaters kann aus dem Sachverhalt und dem Vorbringen des Antragstellers nicht abgeleitet werden. Weiters habe der Antragsteller angegeben, dass den Vater nicht bereit sei, ihn bei Rückkehr aufzunehmen. Weiters liege aufgrund der vorliegenden Judikatur des Europäischen Gerichtshofs sowie des Verwaltungsgerichtshofs keinen Fall vor, die Beschwerde im Hinblick auf §§ 8 Abs. 3a iVm 9 Abs. 2 AsylG abzuweisen. Insbesondere habe der Verwaltungsgerichtshof ua. Erkannt, dass in solchen Fällen eine Gefährdungsprognose unter Berücksichtigung des Gesamtverhaltens des Antragstellers vorzunehmen sei. Darauf hin wären konkrete Feststellungen bei der Beurteilung vorzunehmen, ob und in Hinblick auf welche Umstände die Annahme gerechtfertigt sei, dass eine stellende Gefahr für die Allgemeinheit für die Sicherheit Österreich dar. Bei beiden Verurteilungen handle es sich um Jugendstraftaten und sei es eine der Kernmaximen im österreichischen Strafrecht, dass straffällig gewordenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht durch weitere rechtliche Konsequenzen ihres Verhaltens die Chancen für den späteren Lebensweg geradezu unmöglich gemacht würde. Im gegenständlichen Fall sei die Grenzmenge des §§ 28a SMG überdies deutlich unterschritten worden. Im Weiteren sei die Verurteilung des Raubes ohne Anwendung erheblicher Gewalt einer Sache geringen Wertes abgeurteilt worden. Der Antragsteller zeige sich reuig und geläutert und habe er das Unrecht seiner Taten eingesehen und sein Leben zum unverändert. Dies sei auch durch den einvernommenen Zeugen sowie den Bericht der Bewährungshilfe belegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Feststellungen zur Person des BF:

Der nunmehr volljährige BF ist afghanischer Staatsangehöriger, schiitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Hazara an.

Der Antragsteller wurde im Iran geboren und wurde von seinem Vater im Alter von etwa 1 ½ Jahren nach Afghanistan verbracht, wo er die Grundschule besuchte. Der Antragsteller lebte in der Stadt Kabul mit seinem Vater, seiner Stiefmutter und einem Geschwisterkind. Zuletzt reiste der Antragsteller aufgrund der unsicheren Sicherheitslage in Kabul nach dem Iran aus, wo er sich sieben Monate aufhielt und dort einer Erwerbstätigkeit nachging. Der Vater des Antragsstellers arbeitet als Gelegenheitsarbeiter. Die wirtschaftliche Lage der Familie in Afghanistan ist seit Jahren sehr schlecht. Überdies geht es dem Vater des Antragstellers gesundheitlich nicht gut. Es ist maßgeblich wahrscheinlich davon auszugehen, dass der Vater des Antragstellers den zurückkehrenden Beschwerdeführer nicht unterhalten könnte. Der Antragsteller verfügt im Herkunftsstaat über kein belastbares soziales Netz.

Der Antragsteller hat mittlerweile Anstrengungen zum Erwerb der deutschen Sprache unternommen und das Deutschzertifikat B1 inkl. Pflichtschulabschluss erreicht.

Der Antragsteller leidet unter einer postraumatischen Belastungsstörung sowie weiteren psychischen Beeinträchtigungen und bedarf ständiger psychotherapeutischer Therapie, die er regelmäßig und zuverlässig absolviert. Dem Antragsteller wird im Rahmen des längeren dauernden sozialpädagogischen Betreuungsverhältnisses eine äußerst positive Entwicklung im Verhältnis zu den erfolgten strafrechtlichen Verurteilungen attestiert. In Stresssituation hat der Antragsteller neuerlich autoaggressive Züge gezeigt.

Der Antragsteller hat im Schuljahr 2018/2019 eine polytechnische Schule absolviert sowie einen Kurs am Ausbildungszentrum Wien durchlaufen, wobei er dort positiv in Erscheinung getreten ist. Weiters hat er ein Praktikum an der Volkshochschule Wien absolviert, sowie liegt eine Teilnahme am Kompetenzworkshop für erwachsene Asylwerber sowie ein Berufsorientierungskurs vor.

Der Antragsteller wurde mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 09.07.2018 wegen einer Straftat gem. § 15 StGB iVm § 41 Abs. 1 und 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 7 Monaten bedingt auf eine Probezeit von 3 Jahren – Jugendstraftat verurteilt sowie weiters mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 11.12.2019 wegen § 27 Abs. 2 a SMG iVm § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten bedingt auf Probezeit 3 Jahre und gleichzeitiger Verlängerung der Probezeit des Ersturteiles auf insgesamt 5 Jahre verurteilt.

Es kann festgestellt werden, dass der BF seinen Herkunftsstaat nicht aus Furcht vor einer konkreten individuellen Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat und nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.

1.2. Feststellungen zum Herkunftsstaat:

Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Afghanistan vom 16.12.2020:

COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

•        

Auszug aus der UNHCR-Richtlinie vom 30.08.2018:

Vor dem Hintergrund der Abwägung bezüglich der Relevanz- und Zumutbarkeitsprüfung für Kabul als in Erwägung gezogenes Gebiet für eine interne Flucht- oder Schutzalternative, und unter Beachtung der generellen Situation des Konflikts und der Menschenrechtssituation, sowie deren Auswirkungen auf den breiteren sozio-ökonomischen Kontext, hält das UNHCR eine interne Flucht- oder Schutzalternative für generell nicht verfügbar in Kabul.“ (S. 10)

[…] im Afghanistan-Kontext wurde die Wichtigkeit der Verfügbarkeit und des Zugangs zu sozialen Netzwerken, dem Existieren von Familie des/der AntragstellerIn oder Mitgliedern seiner/ihrer ethnischen Gruppe, umfangreich dokumentiert. Diesbezüglich kann die Präsenz von Mitgliedern derselben ethnischen Gruppe […] nicht für sich genommen als Beweis dafür, dass der/die AntragstellerIn in der Lage wäre, bedeutende Unterstützung durch solche Communities zu erlangen; viel eher hängt eine solche Unterstützung in der Regel von spezifischen, bereits existierenden sozialen Beziehungen zwischen AntragstellerIn und individuellen Mitglieder der jeweiligen ethnischen Gruppe ab. Selbst wenn solche sozialen Beziehungen bereits existierenden, muss geprüft werden, ob die Mitglieder dieses Netzwerks in der Lage und willens sind, den/die AntragstellerIn wirklich zu unterstützen […].“ (S. 109)

„Aufgrund begrenzter Jobmöglichkeiten, mangelnder sozialer Schutznetze und schlechter Unterbringungsbedingungen sind Vertriebene nicht nur erhöhten Schutzrisiken in ihrem täglichen Leben ausgesetzt, sondern werden auch in sekundäre Vertreibung und zu negativen Umgangsstrategien wie Kinderarbeit, frühe Heirat, Verminderung von Quantität und Qualität der Ernährung etc. gezwungen.“ (S. 111)

Auszug EASO-Länderleitfaden vom Juni 2019 (S. 139):

„Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsistence means and basic services. An existing support network could also provide the applicant with such local knowledge. The background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as previous experience of living on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations.

For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA [Internal Protection Alternative] may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence.“ Nach diesen Richtlinien kann eine innerstaatliche Fluchtalternative für Antragsteller, die außerhalb Afghanistans geboren wurden und/oder dort sehr lange Zeit gelebt haben, nicht zumutbar sein, wenn sie über kein unterstützendes Netzwerk verfügen, das ihnen dabei hilft, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die Richtlinien verweisen darauf, dass bei der Prüfung der Zumutbarkeit der persönliche Hintergrund der betroffenen Person, insbesondere deren Selbständigkeit, die vorhandene Ausbildung und allfällige Berufserfahrungen, ins Kalkül gezogen werden müssen. […]

Grundversorgung

Letzte Änderung: 16.12.2020
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2020; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden (AA 16.7.2020). Laut einer IPC-Analyse vom April wird die Zahl der Menschen, die in Afghanistan unter akuter Ernährungsunsicherheit der Stufe 4 der Emergency-IPC leiden, im Zeitraum Juni-November 2020 voraussichtlich von 3,3 Millionen auf fast 4 Millionen ansteigen (USAID 12.6.2020).

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 170 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D). In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (AA 16.7.2020). Während in ländlichen Gebiete

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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