TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/2 W155 2179464-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.03.2021
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Entscheidungsdatum

02.03.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W155 2179462-1/10E

W155 2179466-1/9E

W155 2179458-1/9E

W155 2179464-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. KRASA über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX , 2. XXXX , geboren am XXXX , 3. XXXX , geboren am XXXX und 4. XXXX , geboren am XXXX , alle StA. Afghanistan, alle vertreten durch RA XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1. vom 11.11.2017, Zahl XXXX , 2. vom 13.11.2017, Zahl XXXX , 3. vom 13.11.2017, Zahl XXXX und 4. vom 11.11.2017 Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) sind verheiratet und Eltern der Drittbeschwerdeführerin (BF3) und des Viertbeschwerdeführers (BF4). Sie sind Staatsangehörige der islamischen Republik Afghanistan.

Antragstellung

Die BF2 und die volljährige BF3 reisten gemeinsam illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 23.10.2015 Anträge auf internationalen Schutz. Der damals mündig minderjährige BF4 reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 23.05.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Der BF1 reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 06.06.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes

Die BF2 gab im Rahmen ihrer Erstbefragung am 22.11.2015 im Wesentlichen zum Fluchtgrund an, dass ihre Familie in Gefahr sei. Ihre Tochter hätte mit dem Sohn von XXXX (in der Folge: GH) zwangsverheiratet werden sollen. Sie hätten dies nicht wollen, da sie mit Sunniten verfeindet gewesen wären. Sie seien deshalb angezeigt und bedroht worden. Bewaffnete Leute hätten sie zu Hause mehrmals bedroht.

Die BF3 gab im Rahmen ihrer Erstbefragung am 22.11.2015 zu den Fluchtgründen befragt an, dass ihr Leben in Gefahr sei. Sie hätte zwangsverheiratet werden sollen. Sie und ihre Eltern hätten das verhindern wollen und seien deshalb vom Sohn des CH mit dem Umbringen bedroht worden, sollte sie ihn nicht heiraten. Am 21.03.2015 wären „sie“ das erste Mal bei ihnen gewesen, einmal sogar bewaffnet.

Der BF4 gab im Rahmen seiner Erstbefragung am 23.05.2017 zu den Fluchtgründen befragt an, dass Feinde der Familie seine Schwester (BF3) haben zwangsverheiraten wollen. Sein Großvater habe diese Ehe schon früher versprochen. Nachdem sich seine Schwester geweigert habe, hätten sie flüchten müssen. Sie seien nach XXXX geflüchtet und hätten dort einen Drohbrief bekommen, dass sie das Versprechen einhalten sollten, sie ansonsten umgebracht würden. Vielleicht habe seine Mutter noch diesen Brief. Er sei mit dem Flugzeug in den Irak geflogen und schließlich über den Iran, die Türkei, Griechenland und unbekannte Länder nach Österreich gelangt.

Der BF1 führte im Rahmen der Erstbefragung am 07.06.2017 aus, dass er im Juli 2015 Afghanistan verlassen habe und zu seiner Tochter, die bereits in Österreich lebe, habe reisen wollen. Auf der Flucht mit der gesamten Familie (6 Personen) habe er an der pakistanisch-iranischen Grenze zwei seiner Söhne verloren. Zum Fluchtgrund gab er im Wesentlichen an, dass sein Vater seine Tochter XXXX (Z) ohne sein Einverständnis einem Mann versprochen habe. Seine Tochter Z hätte jemand anderen geheiratet und sei nach Österreich gezogen. Als er im Jahre 2014 mit der Familie vom Iran zurück nach Afghanistan gegangen sei, habe GH, ein ehemaliger Kommandant der Hezb-e-Islami, anstelle der Tochter Z die BF3 für seinen Sohn zur Frau haben wollen. Diese seien Pashtunen und würden mit den Taliban zusammenarbeiten. Aus Angst um ihr Leben hätten sie sich an die UN-Menschenrechtskommission gewandt, auch dort habe man ihnen nicht helfen können. Auch hätten ihnen staatliche Stellen nicht helfen können. Sie seien auch telefonisch und schriftlich bedroht worden und habe man ihnen auch gesagt, dass der Bruder des BF 1 von GH getötet worden sein. Aus Angst um ihr Leben hätten sie flüchten müssen.

Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

Am 21.06.2017 wurde die BF2 von dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Hinsichtlich ihres Fluchtgrundes führte sie aus, dass sie [die Familie] 23 Jahre im Iran aufhältig gewesen und aus behördlicher Willkür wieder nach Afghanistan abgeschoben worden seien. Sie hätten in XXXX gelebt. Bereits im Iran habe ein ehemaliger Kommandant GH für seinen Sohn um die Hand ihrer Tochter Z angehalten. Dies sei über den Schwiegervater aus Afghanistan erfolgt. Ihre Tochter habe dies nicht gewollt und stattdessen einen jungen Afghanen geheiratet, der in Österreich gelebt habe. Nach der Rückkehr nach Afghanistan zu Neujahr habe sie GH besucht und um die Hand ihrer Tochter (BF3) für seinen Sohn angehalten. Dieser sei verwitwet und habe bereits Kinder. Sie hätten aus Angst gesagt, dass die BF3 schon verlobt sei. Nach einem Monat sei er wieder mit seiner Familie und einigen älteren Herren gekommen und hätten sie den Zeitpunkt der Hochzeit festlegen wollen. Sie hätten erneut gesagt, dass die BF3 schon verlobt sei. Nachdem sie gesagt hätten, dass sie wiederkommen, hätten sie das Haus verlassen und seien in das Dorf XXXX zu Verwandten gegangen, wo sie 2 Wochen geblieben wären. GH habe sie auch dort gefunden und wäre mit zwei Mullahs und Bewaffneten gekommen, um die Ehe zu besiegeln. Als sie widersprochen habe, sei sie mit der Waffe geschlagen worden. Ihr Mann habe gesagt, dass er erst eine Feier organisieren wolle und dann seine Tochter übergeben werde, womit GH einverstanden gewesen sei. In der Nacht wären sie nach XXXX gereist und hätten einen Brief an die Sicherheitsbehörde von XXXX geschrieben, für die BF3 einen Reisepass mit Visum für den Iran organisiert und für den Rest der Familie einen Schlepper. Drei Wochen bevor sie das Land verlassen hätten, hätte sie GH telefonisch bedroht und ihnen gesagt, dass er sie überall finden und die BF3 wegnehmen und die anderen umbringen werde. Sie hätten die Sim-Karte des Handys entsorgt und das Haus nicht mehr verlassen. Die BF3 habe das Land per Flugzeug in Richtung Iran verlassen. Sie wären ihr sie auf dem Landweg gefolgt.

Am 21.06.2017 führte die BF3 zu ihrem Fluchtgrund zusammengefasst aus, dass sie anstelle ihrer Schwester den Sohn eines ehemaligen Kommandanten habe heiraten sollen. Sie habe sich, wie ihre Schwester geweigert und behauptet, verlobt zu sein. Die Familie des GH habe nicht aufgegeben und sei ihre Familie mit dem Umbringen bedroht worden. Die Familie des GH habe sie entführen und ihre Familie töten wollen. Deshalb hätten sie das Land verlassen.

Am 20.07.20217 wurde der BF4 gehört. Er gab an, dass er keine eigenen Fluchtgründe habe, sondern sich auf die Gründe seiner Mutter beziehe, die ein Familienverfahren anstrebe. Er äußerte als Berufswunsch Architekt zu werden.

Am 20.07.2017 führte der BF1 zum Fluchtgrund befragt ergänzend an, dass er 1370 mit seiner Familie in den Iran gegangen und 1393 aus behördlicher Willkür nach Afghanistan zurückgeschoben worden sei. Ein ehemaliger Kommandant GH habe, als sie noch im Iran gewesen seien, um die Hand seiner Tochter Z angehalten. Dies sei über seinen Vater erfolgt. Seine Tochter Z habe das nicht wollen und einen jungen in Österreich lebenden Afghanen geheiratet. Nach der Rückkehr nach Afghanistan zu Neujahr 1394 habe GH um die Hand der BF3 für seinen Sohn angehalten. Dieser sei verwitwet gewesen und habe bereits Kinder. Aus Angst hätten sie gesagt, dass seine Tochter bereits verlobt sei. Sie habe die Heirat nicht wollen und mit Selbstmord gedroht. Sie hätten ihr Haus verlassen und seien sie in das Dorf XXXX gegangen. GH habe sie auch dort gefunden und mit zwei Mullahs und zwei Bewaffneten die Ehe zwischen BF3 und seinem Sohn sofort besiegeln wollen. Der BF1 habe erst eine Feier organisieren und dann erst die Tochter übergeben wollen. In der Nacht hätten sie das Haus verlassen und wären nach XXXX zu Verwandten gegangen. Sie hätten einen Brief an die Sicherheitsbehörde in XXXX geschrieben, die ihnen aber keinen Schutz habe geben können und ihnen empfohlen haben, zu fliehen. Die BF3 habe Afghanistan auf dem Luftweg mit einem Reisepass verlassen. Die übrigen Familienmitglieder seien ihr auf dem Landweg gefolgt. 3 Wochen vorher hätten sie einen Drohanruf bekommen, in dem ihre Ermordung angedroht worden sei und dass man sie überall finden würde.

Die belangte Behörde wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz jeweils mit Bescheiden vom 11.11.2017 bzw. 13.11.2017 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I) und erkannte ihnen den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt II.). Den Beschwerdeführern wurde eine Aufenthaltsberechtigung bis zum 06.11.2018 (BF1), bzw. bis zum 11.11.2018 (BF2 u. BF4) und bis zum 13.11.2018 (BF3) erteilt (Spruchpunkt III.). Begründend führte sie aus, dass die Beschwerdeführer keine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung haben glaubhaft machen können. Die Beschwerdeführer hätten bezüglich der behaupteten drohenden Zwangsverheiratung der BF3 keine Beweismittel vorlegen können. Auch hätten sie die behaupteten Drohanrufe, welche letztlich für die Ausreise ausschlaggebend gewesen sein wären, nicht belegen können. Die afghanische Regierung sei hinsichtlich einer Bedrohung durch die Taliban gerade im Großraum XXXX schutzwillig und schutzfähig. Die Voraussetzungen für die Asylgewährung seien nicht gegeben. Aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände sei von einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte im Sinn der EMRK oder der Protokolle zur Konvention oder für sie als Zivilperson von einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes auszugehen. Wie sich aus den Länderfeststellungen zu Afghanistan ergäbe, habe sich die aktuelle Situation in Afghanistan gegenüber den letzten Jahren zwar verbessert, dennoch sei die Lage nach wie vor weder sicher noch stabil, sodass subsidiärer Schutz zu gewähren sei.

Gegen oben genannte Bescheide richten sich die vorliegenden Beschwerden, in welchen ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, eine mangelhafte Beweiswürdigung sowie eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht werden. Die westliche Orientierung der BF2 und BF3 sei in keiner Weise thematisiert worden. Den Beschwerdeführern wäre bei richtiger rechtlicher Beurteilung nach der herrschenden Rechtsprechung jedenfalls der Asylstatus zuzuerkennen gewesen.

Die gegenständlichen Beschwerden und Bezug habenden Verwaltungsakten langten am 13.12.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht

Mit Schriftsatz vom 11.02.2019 wurden folgende Unterlagen übermittelt:

?        Schwimmkursbestätigungen für BF2 u. BF3

?        Bestätigung betr. psychotherapeutische Behandlung der BF2 v. 18.02.2019

?        Teilnahmebestätigung betr. ÖAMTC Fahrkurs der BF3 v. 31.08.2018

?        OLIve – Course Reports betr. BF3 v. 24.11.2018 u. 30.06.2018

?        OLIve – English Certificates der BF3 v. 30.06.2018 u. 24.11.2018

?        OLIve – Certificate betr. BF3 v. November 2018

?        Schreiben des CCA (Kooperatives Zentrum für Afghanistan), Übersetzung u. Originale

?        Teilnahmebestätigung Deutsch A2 betr. BF1 v. 24.01.2019

?        Schulbesuchsbestätigung BG u. BRG 1230 Wien, betr. BF4 v. 20.09.2018

?        Teilnahmebestätigung betr. BF4 bzgl. Teilnahme am Workshop „Käfigleague“ v. 23.06.2017

?        Kursbesuchsbestätigung für Fahrtkostenerstattung d. Stadt Wien – Betreutes Wohnen betr. BF1

?        Kursbestätigung des Samariterbundes XXXX v. 07.12.2018 betr. BF3

?        Teilnahmebestätigung UKI betr. BF3 v. Dezember 2018

?        Bestätigung ehrenamtliche Teilnahme d. BF4 am Projekt „Käfigleague“ v. Juni 2017

?        Bestätigungen betr. BF2, BF3 u. BF4 bzgl. Besuch des Integrationskurses v. 16.06.2017

?        ÖSD Zertifikat A2 betr. BF2 v. 10.0.2018

?        ÖSD Zertifikat B1 betr. BF3 v. 17.01.2018

?        ÖSD Zertifikat B1 betr. BF4 v. 27.07.2018

?        Teilnahmebestätigungen betr. BF1, BF2, BF3 u. BF4 bzgl. Werte- und Orientierungskurs

Am 11.08.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer den Beschwerdeführern – in Anwesenheit ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und einem Dolmetscher für die Sprache Dari/Farsi Gelegenheit geboten wurde, Vorbringen zu erstatten und auf Fragen bzw Vorhalte des Gerichts zu antworten. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde der belangten Behörde übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

I. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der erhobenen Anträge auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme der Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie der belangten Behörde, der Beschwerden, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in die Bezug habenden Verwaltungsakten, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

Zur Person der Beschwerdeführer

Die Beschwerdeführer führen die im Spruch angeführten Namen und die Geburtsdaten. Sie sind Staatsangehörige von Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam zugehörig. Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Dari. Die BF3 und der BF4 sprechen zudem Farsi und Englisch.

Der BF1 und die BF2 haben in Afghanistan traditionell arrangiert geheiratet und sind Eltern der BF3 und des BF4.

BF1 ist Beschwerdeführer zu GZ XXXX er wurde in XXXX geboren und ist in der Provinz XXXX aufgewachsen. Er verfügt über eine fünfjährige Grundschulausbildung und hat im Heimatdorf XXXX eigene Grundstücke landwirtschaftlich bewirtschaftet und Schafe und Ziegen zum Eigenbedarf gezüchtet. Im Iran hat er verschiedene Tätigkeiten ausgeübt.

Die BF2 ist Beschwerdeführerin zu GZ XXXX , wurde in der Stadt XXXX geboren und wuchs in der Provinz XXXX auf. Sie hat keine offizielle Schule besucht, sondern privat gelernt und Prüfungen abgelegt. Sie verfügt über eine Berufserfahrung als Zahntechnikerin im Iran. In Afghanistan war sie im Haushalt tätig.

Die BF3 ist Beschwerdeführerin zu GZ XXXX , wurde in XXXX (Iran) geboren und wuchs dort auf. Sie besuchte dort zwölf Jahre die Grundschule und ein Jahr die Universität. Schulabschlusszeugnisse (Maturazeugnis) hat sie nicht vorgelegt. Sie besitzt keine Arbeitserfahrung. In Afghanistan war sie lediglich ca. 8 Monate aufhältig.

Der BF4 ist Beschwerdeführer zu GZ XXXX , wurden in XXXX (Iran) geboren, wuchs dort auf und besuchte fünf Jahre die Grundschule und für vier Jahre die Hauptschule. In Afghanistan hat er seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen. In Afghanistan war er lediglich ca. 8 Monate aufhältig.

Der BF1 und die B2 zogen erstmals im Jahr 1991 aufgrund des Bürgerkrieges und der schlechten Sicherheitslage von Afghanistan in den Iran und lebten dort legal 23 Jahre. Ca. im Oktober 2014 kehrten sie nach Afghanistan zurück. Die BF3 reiste am 08.09.1015 per Flugzeug aus Afghanistan zunächst in den Iran und schließlich nach Europa. Der BF1, die BF2 und der BF4 reisten in weiterer Folge ebenso in den Iran und von dort schließlich nach Europa. Zwei Söhne des BF1 und der BF2 sind unbekannten Aufenthaltes.

Die älteste Tochter Z ist seit 2012 in Österreich aufhältig, seit 18.05.2017 daueraufenthaltsberechtigt. Sie ist nach ihren Angaben geschieden, ihr Ehemann lebt vermutlich in Deutschland.

Die Beschwerdeführer haben nach ihren Angaben keine Verwandten in Afghanistan.

Zur Situation in Österreich

Den Beschwerdeführern wurde mit dem angefochtenen Bescheid der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Die Beschwerdeführer haben am Werte- und Orientierungskurs teilgenommen. Sie leben von der Grundversorgung. Sie sind strafrechtlich unbescholten.

Der BF1 hat einen Deutschkurs A2 besucht und verbringt seine Freizeit mit seiner Familie im Park (Schönbrunn, Prater). Er ist nicht ehrenamtlich tätig. Er spricht kaum Deutsch, ist nicht erwerbstätig und ist aufgrund seines (Pensions-) Alters zu erwarten, dass er nicht mehr in einen Arbeitsprozess eingegliedert wird. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig, er ist kein Mitglied in einem Verein. Er hat keine nennenswerten Kontakte zu Österreichern, unterhält sich aber gerne mit seinen Nachbarn. Er hilft im Haushalt und kocht. Er leidet an keiner lebensbedrohlichen Krankheit.

Die BF2 befindet sich wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in psychologischer Therapie. Sie ist nicht lebensbedrohlich krank. Sie hat das ÖSD Zertifikat A2 bestanden, spricht aber kaum Deutsch, sie vergisst das Vokabular. Sie ist weder erwerbstätig, noch selbsterhaltungsfähig und möchte als Zahntechnikerin arbeiten, aber auch andere Arbeiten verrichten. Sie ist kein Mitglied in einem Verein und auch nicht ehrenamtlich tätig. Sie hat einen Schwimmkurs im Rahmen des Frauentreffs besucht. Die Freizeit gestaltet sie im Kreise ihrer Familie oder österreichischen bzw. nicht-österreichischen Freunden, wobei darüber hinaus keine weiteren substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden konnten. Sie fühlt sich ohne Kopftuch wie eine freie Frau.

Die BF3 leidet an einer Innenohrläsion mit Hörverlust und trägt ein Hörgerät. Abgesehen davon ist sie gesund und arbeitsfähig. Sie spricht Deutsch auf dem Sprachniveau B1 und hat einen Pflichtschulabschluss absolviert. In der Freizeit schaut sie Filme an, geht mit Freunden im Parks spazieren, manchmal Radfahren oder Schwimmen oder auf Partys. Sie hat einen Erste Hilfe–Kurs besucht. Sie ist nicht ehrenamtlich oder in einem Verein tätig. Sie zeigt Fotos von Deutschkursteilnehmern. Sie trägt kein Kopftuch in der Beschwerdeverhandlung, sie möchte ein freier Mensch sein.

Der nunmehr volljährige BF4 ist gesund und arbeitsfähig. Er spricht Deutsch auf dem Sprachniveau A2/B1 und besucht ein Bundesrealgymnasium. Er hat sich ehrenamtlich an einem interkulturellen Straßenfußballprojekt beteiligt.

Zum Fluchtgrund

Die Beschwerdeführer waren in ihrer Heimat keiner konkret und gezielt gegen ihre Person gerichteten Verfolgung ausgesetzt. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan sind die Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt.

Zum Nachfluchtgrund der westlichen Orientierung

Bei der BF2 und der BF3 handelt es sich nicht um auf Eigenständigkeit bedachte Frauen, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sind. Sie zeigen zwar „westliche“ Verhaltensweisen, eine fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung ist aber nicht zu erkennen, wonach eine Verinnerlichung eines „westlichen Verhaltens“ oder eine „westliche Lebensführung“ als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden könnte. Ihr Leben unterscheidet sich insofern von dem bisher geführten, als sie sich vor allem auf Grund der hier in Österreich angebotenen Integrationsmöglichkeiten den vorherrschenden Lebensumständen angepasst haben. Sie haben eine Schulbildung in Afghanistan bzw. im Iran erhalten.

Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, Stand 29.06.2020 (LIB) mit Covid-19 Informationen (21.07.2020), UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR), EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) folgende entscheidungsrelevante Feststellungen:

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

In der Provinz Daikundi gibt es ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Es gibt jedoch keine Auswertungsmöglichkeiten für COVID-19-Tests – es werden Proben entnommen und zur Laboruntersuchung nach Kabul gebracht. Es dauert Tage, bis ihre Ergebnisse von Kabul nach Daikundi gebracht werden. Es gibt Berichte, dass 90 Prozent der Menschen in Daikundi unter der Armutsgrenze leben und dass etwa 60 Prozent der Menschen in der Provinz stark von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Samangan gibt es ebenso ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Wie auch in der Provinz Daikundi müssen Proben nach Kabul zur Testung geschickt werden. Eine unzureichende Wasserversorgung ist eine der größten Herausforderungen für die Bevölkerung. Nur 20 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser (RA KBL 16.7.2020).

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).

„Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019). Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004). Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020). Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004). Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019). Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern.

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Paschtunen

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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