TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/15 W154 2183264-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.04.2021
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Entscheidungsdatum

15.04.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W154 2183264-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. KRACHER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 7.12.2017, Zl. 1066149707 - 150423753, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 26.4.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am 28.4.2015 statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) am 30.8.2017.

1.1. Im Rahmen seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erklärte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zunächst, aus Shahrestan in der Provinz Daikundi zu stammen, Hazara und schiitischen Glaubens zu sein. Seine Muttersprache sei Farsi, zudem spreche er Englisch. Er habe von 2006 bis 2013 die Grundschule besucht und sei Helfer in der Landwirtschaft gewesen. Ungefähr im Jahr 2005 wäre er nach Teheran gezogen.

Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor, vor ca. zehn Jahren hätte in Afghanistan ein Mann seinen Vater getötet und ihnen ihr Land weggenommen, weshalb er und seine Mutter mit den beiden anderen Geschwistern in den Iran geflüchtet seien, wo sie illegal gelebt und ständig Angst vor einer Abschiebung gehabt hätten.

1.2. In weiterer Folge wurden dem Bundesamt diverse Integrationsunterlagen des Beschwerdeführers übermittelt.

1.3. Anlässlich seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde erklärte der Beschwerdeführer zunächst, gesund zu sein und legte ein Konvolut von Integrationsunterlagen, Beschäftigungsnachweisen, Empfehlungsschreiben sowie österreichische Schulbestätigungen vor. Bestätigungen über seinen Schulbesuch in Iran habe er keine, ebenso wenig Personaldokumente aus Afghanistan oder aus in dem Iran. Der Beschwerdeführer stamme aus Shahrestan in Daikundi, sei afghanischer Staatsangehöriger und um die sechs Jahre alt gewesen, als er mit seiner Mutter und den beiden Geschwistern in den Iran, nach Teheran, ausgereist sei, wo er im Alter von neun Jahren mit der Arbeit begonnen habe und zwar mit Tieren in einer Landwirtschaft oder auch als Maurer. Er sei ledig und kinderlos, spreche Dari, Persisch sowie auch Deutsch auf B1 Niveau und gehöre der Volksgruppe der Hazara und dem schiitischen Glauben an.

Die Mutter, sein ca. 13-jähriger Bruder und die ca. 16-jährige Schwester befänden sich noch im Iran, in Afghanistan gebe es weder Familienangehörige noch engere Freunde.

Als der Beschwerdeführer ca. sechs Jahre alt gewesen sei, sei sein Vater gestorben. Welche Verwandten zu jener Zeit in Afghanistan gelebt hätten, wisse der Beschwerdeführer nicht, seine Mutter habe ihn über Familienangehörige nicht informiert, er habe nur im Alter von 14 Jahren wissen wollen, woran sein Vater gestorben sei.

Sehr viele Erinnerungen an Afghanistan habe er nicht, er könne sich nur erinnern, dass ein XXXX mit einem Dokument in der Hand in der Nacht gekommen sei, ein Grundstück verlangt und seine Mutter bedroht hätte, er wolle das Dokument für das Land haben. Dann hätte er ein Gewehr auf die Mutter des Beschwerdeführers gehalten, danach auf die Schwester und damit gedroht, sie wie den Vater des Beschwerdeführers umzubringen. Er hätte gedroht, sie alle zu töten.

An die Bevölkerungsstruktur bzw. Verwandte, wie Cousins, Onkel oder Tanten, könne er sich nicht erinnern. Vorgehalten, er hätte detailiert eine Erinnerung an die Fluchtgeschichte erzählt, aber wolle nicht das geringste über seine Verwandten wissen, erwiderte der Beschwerdeführer, diese Erzählung sei das, was er von seiner Mutter erfahren habe. Er könne sich lediglich daran erinnern, bedroht worden zu sein.

Zu seiner Fluchtgeschichte brachte er in weiterer Folge vor, er könne sich nicht daran erinnern, seine Mutter habe sie ihm weitergegeben. Diese hätte als Nachlass von ihrem Vater ein Grundstück erhalten, das ihr ihre Familienmitglieder hätten wegnehmen wollen. Ein Blutsverwandter namens XXXX hätte das Grundstück haben wollen, „mein“ Onkel, XXXX und er seien der Meinung gewesen, dass ein Erbe einer Frau nicht zustehe. An Festtagen und Zusammentreffen, an denen sie die Mutter und den Vater des Beschwerdeführers zu Gesicht bekommen hätten, habe der Verwandte die Eltern aufgefordert, das Grundstück abzutreten und auch weitere Personen einbezogen, um den Vater des Beschwerdeführers zu überreden, es aufzugeben. Damals habe der Vater des Beschwerdeführers noch gelebt.

XXXX sei wohlhabend gewesen, hätte sehr viel Geld verteilt und auch die Polizei bestochen. Eines Tages hätte die Mutter des Beschwerdeführers seinem Vater Essen auf das Feld gebracht, wo XXXX und einige weitere Personen mit dem Vater des Beschwerdeführers diskutiert hätten. Es sei zum Streit gekommen und der Vater getötet worden. Diesen Moment habe die Mutter mit ihren eigenen Augen gesehen, sei zur Polizei gegangen, habe eine Anzeige gemacht, woraufhin XXXX fest- und in Haft genommen worden sei.

Eines nachts hätte XXXX „unser“ Haus aufgesucht, die Mutter des Beschwerdeführers beschuldigt, dass sein Neffe ihretwegen im Gefängnis wäre und sie dazu aufgefordert, das Grundstückdokument auszuhändigen, was sie jedoch abgelehnt hätte. Daraufhin habe er seine Waffe gezogen, diese auf die Schwester des Beschwerdeführers gerichtet und gedroht, sie alle umzubringen. Die Mutter des Beschwerdeführers sei dann gezwungen gewesen, ihm das Dokument auszuhändigen, woraufhin er die Familie aufgefordert habe, die Region zu verlassen. Wenn sie dortgeblieben wären, hätte er sie umgebracht, weshalb sie in den Iran ausgereist seien. Dies sei der Fluchtgrund, den der Beschwerdeführer von seiner Mutter erfahren hätte.

Als er 14 oder 15 Jahre alt gewesen sei, habe der Beschwerdeführer immer wieder diesbezüglich gefragt, woraufhin ihm seine Mutter es erzählt und sie öfter darüber gesprochen hätten. Was sein Großvater mütterlicherseits gearbeitet habe, wisse der Beschwerdeführer nicht. Seine Mutter habe zwei Schwestern, die beide in Pakistan aufhältig seien und einen Bruder, der eines natürlichen Todes gestorben wäre. Jene Person, die Ihnen das Grundstück abgenommen hätte, sei mit ihnen verwandt, der Beschwerdeführer wisse jedoch nicht wie. Der andere, der im Gefängnis gewesen sei, sei der nähere Verwandte gewesen und hätte das Grundstück haben wollen. XXXX sei der Onkel väterlicherseits dieser Person.

Die Großväter des Beschwerdeführers seien zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen, ebenso der Bruder seiner Mutter. Ob sein Vater Geschwister habe, wisse der Beschwerdeführer nicht, er habe nicht nachgefragt und seine Mutter ihm darüber auch nichts erzählt.

Bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat würde er umgebracht und der Beschwerdeführer habe auch niemanden in Afghanistan. Dass seine Mutter nach dem Vorfall nicht ein zweites Mal zur Polizei gegangen sei, wo man ihr doch bereits einmal geholfen habe, erklärte der Beschwerdeführer damit, dass XXXX die Polizei bestochen hätte und ein wohlhabender Mann gewesen sei. Er hätte Geld gegeben und es wäre nichts passiert. Von der Bestechung wisse der Beschwerdeführer durch Erzählungen seiner Mutter, diese habe darüber Kenntnis, weil sie dort aufgewachsen sei. Woher diese Person so viel Geld gehabt habe wisse der Beschwerdeführer nicht, ebenso wenig kenne er die Volksgruppe der beiden Gegner.

Ausdrücklich erklärte der Beschwerdeführer, dass er in seinem Herkunftsstaat Afghanistan niemals Probleme wegen seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit gehabt habe.

1.4. Am 14.9.2017 langte bei der belangten Behörde die Stellungnahme des Beschwerdeführers zu den damals ausgehändigten Länderinformationen ein. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass laut einem im November 2007 von Accord und UNHCR veröffentlichten COI Seminarbericht zu Afghanistan festgehalten werde, dass Blutfehden unter anderem aus Streitigkeiten im Zusammenhang mit Eigentum und der Ehre von Frauen hervorgehen könnten. Blutfehden kämen vor allem bei Pashtunen, in geringerem Ausmaß aber auch bei ethnischen Usbeken und Tadschiken vor, es könne auch Fälle von Blutrache bei Hazara geben.

2. Mit dem gegenständlichen, im Spruch genannten, Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt „II.“, wohl gemeint: Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt „III.“) und dem Beschwerdeführer die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 7.12.2018 erteilt (Spruchpunkt „IV“.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können.

3. Der Beschwerdeführer erhob fristgerecht Beschwerde, in der im Wesentlichen vorgebracht wurde, es sei wegen seines damaligen Alters durchaus nachvollziehbar, dass er sich nicht an alle Ereignisse erinnern könne, sondern nur an den Vorfall, als diese Person zu ihnen nach Hause gekommen wäre und ihn bedroht hätte. Dies sei auch durchaus nachvollziehbar, weil es sich hierbei um ein Ereignis handle, welches auch für einen kleinen Jungen außergewöhnlich bzw. sogar dramatisch sein könne. Zudem könnte auch ein Nachfluchtgrund entstanden sein, zumal der Beschwerdeführer bereits ca. zweieinhalb Jahre in Österreich lebe und damit als verwestlicht anzusehen wäre.

Beantragt wurde, der Beschwerde stattzugeben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberichtigten gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen bzw. den angefochtenen Bescheid bezüglich des Spruchpunktes I. zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Bundesamt zurückzuverweisen.

4. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 26.2.2012 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Farsi und eines länderkundigen Sachverständigen für Afghanistan eine mündliche Verhandlung durch.

Zunächst erklärte der Beschwerdeführer im Wesentlichen, in Shahrestan in der Provinz Daikundi geboren und im Iran aufgewachsen zu sein. Informationen über sein Heimatdorf habe er von seiner Mutter, die er nie über dessen Größe gefragt habe. Als sie in den Iran geflüchtet seien, sei er sechs Jahre alt gewesen, weshalb er sich an nichts in Afghanistan erinnern könne. Da er keinen Vater gehabt habe, habe der Beschwerdeführer im Alter von neun Jahren zu arbeiten begonnen, den ganzen Tag gearbeitet und nicht viel Zeit gehabt, mit seiner Mutter zu sprechen. Erst im Alter von 13 oder 14 habe er sie gefragt, warum sie Afghanistan verlassen hätten.

Der Beschwerdeführer könne sich an nichts aus Afghanistan erinnern, weil er damals sehr klein gewesen sei. Nur, dass er mit Nachbarkindern gespielt hätte, wisse er noch. Ansonsten sei er von zu Hause nicht weggewesen. Er könne sich nur daran erinnern, dass sie in den Iran gegangen seien und zwar gemeinsam mit anderen Familien. Der Beschwerdeführer habe noch seine Mutter und die jüngeren Geschwister gehabt, die anderen Familien hätten ihnen auf der Flucht geholfen. Mit der Ausreise sei alles sehr schnell gegangen, sie hätten nur ihre Kleidung und das Geld mitgenommen und das Haus verlassen.

Auslöser der Flucht sei gewesen, dass XXXX bei seiner Mutter gewesen wäre und sie mit der Waffe bedroht hätte, ebenso habe er die Schwester des Beschwerdeführers mit der Waffe bedroht, er wolle sie umbringen. Er hätte die Waffe auf die Mutter und die Schwester gerichtet und sie mit dem Tode bedroht, das sei der Grund gewesen, dass er bei ihnen gewesen sei.

Er und seine Leute hätten mit dem Vater des Beschwerdeführers über dessen Grundstück gestritten und diesen getötet. Seine Mutter habe dies gesehen und XXXX bei der Polizei angezeigt, woraufhin er festgenommen worden sei. Dessen Onkel väterlicherseits sei ein reicher Mann gewesen, habe Leute gekannt und XXXX frei bekommen. XXXX sei dann bei der Mutter des Beschwerdeführers gewesen und habe sie mit der Waffe bedroht. Wie es damals, als der Beschwerdeführer sechs Jahre alt gewesen sei, in Afghanistan üblich gewesen wäre, hätten Frauen keine Erbschaft bekommen. Seine Mutter habe ihm später erzählt, die Frauen hätten keinen Wert gehabt und es sei damals wirklich sehr schlimm gewesen.

XXXX hätte sie bedroht sowie aufgefordert, dass sie so schnell wie möglich das Land verlassen müssen und noch gesagt, wenn er sie wiedersehe, würde er mit ihnen sprechen und sie umbringen. Er habe auch ein Schreiben über das Grundstück der Mutter des Beschwerdeführers erhalten, erklärt, dass er die Familie nicht mehr sehen wolle und sei dann gegangen. Daraufhin habe die Mutter große Angst bekommen, entschlossen, das Wichtigste zu packen und das Land zu verlassen.

In Afghanistan habe der Beschwerdeführer keine Schule besucht, jedoch im Iran bei einer Studentin aus Afghanistan Unterricht bekommen und den Stoff von sechs Jahren in drei Jahren gelernt. Anschließend hätten die Iraner mitbekommen, dass diese Frau illegal unterrichte und den Kurs geschlossen.

Die Mutter des Beschwerdeführers habe zwei Schwestern und einen Bruder. Die Schwestern lebten gegenwärtig in Pakistan, der Onkel sei verstorben. Der Vater des Beschwerdeführers habe vier Schwestern und zwei Brüder, einer sei älter und einer jünger als er. Zwei Tanten väterlicherseits wären verstorben, zwei weitere Tanten väterlicherseits befänden sich im Iran. Von den beiden Onkeln väterlicherseits lebe der eine nicht mehr, der zweite sei im Iran.

Zu seiner Rückkehrbefürchtung erklärte der Beschwerdeführer, er habe Angst vor XXXX , der nach wie vor hinter ihnen her sei. Zudem habe er Angst vor den Taliban. Er könne nicht richtig Dari, sondern habe einen Farsidialekt und die Taliban würden ihn umbringen. Überdies habe er keine Tazkira, was in Afghanistan auch ein Problem wäre. Aus diesem Grund hätte er Angst, in Afghanistan zu leben.

Auf Nachfrage des länderkundigen Sachverständigen, was der Beschwerdeführer damit meine, wenn er sage, Frauen hätten kein Erbrecht, antwortete der Beschwerdeführer, Frauen hätten in Afghanistan keinen Wert. Nachdem sein Großvater - ebenso wie der Onkel mütterlicherseits - gestorben sei und weil sich die beiden Schwestern seiner Mutter in Pakistan befunden hätten, hätte die Mutter des Beschwerdeführers das Grundstück bekommen, so wie es auch der Großvater mütterlicherseits entschieden hätte. Aber XXXX sei dagegen gewesen und habe unbedingt das Grundstück haben wollen.

Persönlich habe der Beschwerdeführer den Tod seines Vaters nicht erlebt, sondern nur von seiner Mutter davon erfahren. Dabei sei er ca. sechs Jahre alt gewesen, es sei unmittelbar vor ihrer Flucht passiert. Nachgefragt, wie er mit sechs Jahren vom Tod seines Vaters nichts mitbekommen habe können, erwiderte der Beschwerdeführer, er hätte die Beerdigung aus der Ferne beobachtet. Die Nachbarn hätten diese durchgeführt und dem Beschwerdeführer nicht erlaubt, den Vater zu sehen.

Zu den Umständen des Todes seines Vaters brachte der Beschwerdeführer vor, XXXX habe mehrmals seine Familie bedroht und sie aufgefordert, ihm das Grundstück zu übergeben und das Land zu verlassen. Sein Vater habe das nicht gewollt und erklärt, dass das Grundstück der Mutter des Beschwerdeführers gehöre. Letztere habe ihm erzählt, dass der Vater eines Tages auf den Feldern bei der Arbeit gewesen wäre, als XXXX und seine Leute zu ihm gekommen wären und ihn geschlagen hätten. Die Mutter habe dies gesehen. Der Beschwerdeführer habe ihn auch gekannt, er sei ein Nachbar gewesen.

Nachgefragt, wer XXXX sei, erklärte der Beschwerdeführer, es handle sich um den Onkel väterlicherseits von XXXX . Nachgefragt, wer zu seiner Mutter gekommen wäre und das Dokument für das Grundstück verlangt hätte, antwortete der Beschwerdeführer ausdrücklich, XXXX gemeinsam mit seinen Leuten. Der Beschwerdeführer habe diese nicht gekannt, diese Person hätte viele Leute gehabt.

Vorgehalten, vor dem Bundesamt habe der Beschwerdeführer behauptet, XXXX hätte das Dokument für das Grundstück herausgefordert und nicht dessen Onkel, antwortete der Beschwerdeführer, es seien viele Leute gewesen, vermutlich wäre er auch dabei. Vielleicht sei das falsch protokolliert worden. Vorgehalten, er habe gesagt, dass er von seiner Mutter über den Tod des Vaters erfahren habe, ein paar Minuten später hätte er angegeben, dass er das Begräbnis beobachtet hätte, antwortete der Beschwerdeführer, er habe nicht gesehen, wie sein Vater getötet worden sei, sondern nur die Beerdigung.

Ob sein Vater Grundstücke besessen habe wisse der Beschwerdeführer nicht, ebenso wenig, wie groß das Grundstück seiner Mutter gewesen sei. Nachgefragt, warum XXXX das Grundstück gewollt hätte, antwortete der Beschwerdeführer, weil seine Mutter dieses vererbt bekommen habe und Frauen keinen Wert hätten, hätte er es unbedingt haben wollen.

Im Rahmen dieser Verhandlung erstellte der länderkundige Sachverständige eine gutachterliche Stellungnahme zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers und erläuterte im Wesentlichen Folgendes:

„[…]

Die Angaben des BF, dass sein Vater getötet worden wäre, sind nicht authentisch.

Wenn seine Mutter das Grundstück schon längst von ihrem Vater geerbt hat, dann kann niemand das in Frage stellen. Es sei denn, dass ein Bruder oder Schwester von ihr Miterbin wäre. […] sind keine Geschwister der Mutter des BF.

Nach dem islamischen Gesetz Scharia und nach dem staatlichen Gesetz in allen Teilen Afghanistans und bei allen Ethnie und Angehörigen der verschiedenen religiösen Richtungen bekommen die Frauen als Erbe, nachdem Tode ihrer Väter, die Hälfte dessen, was ihre Brüder als Männer bekommen. Daher entsprechen die Angaben des BF der Wirklichkeit Afghanistan damals und auch heute nicht, dass die Frauen nicht erbberichtigt wären.

Betreffend die Erbberechtigung der Frauen beziehe mich auf meine Forschungen in Afghanistan während meiner Forschungsreisen nach Afghanistan, zuletzt vom 24. 12. 2020 –16. 01. 2021 und auf meine aktuelle Information, die ich heute telefonisch aus Afghanistan von meinen Mitarbeitern angefordert hatte.

Betreffend die Angaben des BF, dass er keinen Tazkira besitze und er deshalb auch nicht nach Afghanistan könne:

Diese Angaben des BF sind fern von der Realität Afghanistans: Wenn jemand im Ausland lebt, kann er über seine Botschaft einen Tazkira beantragen, nach derzeitigen Regelungen sogar Online. Aber wenn jemand in seiner Heimat ist, kann er mit zwei Zeugen und einem Schreiben des Dorfvorstehers zum Distrikts-Zentrum gehen und dort im Registerbüro ein Tazkira beantragen und auch bekommen. Zuerst wird der Antragsteller von dem zuständigen Beamten dem Distriktchef vorgestellt. Der Distrikts-Chef unterschreibt das Gesuch des Antragsstellers.

Daykundi ist hautsächlich von den Hazara bewohnt und auch beherrscht. Daher haben die Taliban dort kaum einen Einfluss. Es ist aber die Ein- und Ausreise aus- und nach Daykundi ein Problem, weil die Taliban die Hauptstraßen in diesen Gegenden immer wieder unter ihre Kontrolle bringen und die Reisenden schikanieren. Sie nehmen sogar manche mit und töten sie auch.

Nachdem der BF und seine Familienmitglieder keine Feindschaften mit Privatpersonen oder mit den Taliban hatten, werden solche Personen im Falle ihres Rückzugs in den Großstädten wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat von Taliban oder auch anderen Personen, wie […] nicht aufgesucht. Mit […] hat die Familie des BF keine Feindschaft gehabt, sie haben angeblich die Dokumente des Grundstücks der Mutter des BF von ihr gewaltsam bekommen. Das bedeutet, das Grundstück befindet sich in der Hand von [ XXXX ] und er wird nicht den BF in Großstädten suchen, zumal die Angaben des BF diesbezüglich nicht authentisch sind.“

Nachdem der Beschwerdeführer daraufhin erklärt hatte, er akzeptiere das nicht, wurde er von der erkennenden Richterin aufgefordert, dies konkret zu begründen und antwortete, hier wäre alles anders geschrieben worden. Er hätte heute alles erzählt, was er von seiner Mutter mitbekommen habe. Für ihn sei nie eine Tazkira ausgestellt worden und im Iran hätte er auch keine beantragen können. XXXX hätte auch wirklich das Grundstück gewollt und sei ein Verwandter der Mutter gewesen. Seine Mutter habe ihm erzählt, dass sie geglaubt hätten, Frauen dürften kein Erbe bekommen. Sie habe das Grundstück vererbt bekommen, aber der genannte Mann hätte ihr das wegnehmen wollen.

Daraufhin erläuterte der länderkundige Sachverständige, dass Frauen ein Erbrecht hätten, die Angaben des Beschwerdeführers stimmten nicht mit der Wirklichkeit Afghanistans überein.

Die Möglichkeit der Beantragung der Tazkira online habe er deswegen erwähnt, weil die afghanischen Migranten in Österreich immer wieder Dokumente aus der Heimat benötigten. Früher sei der Erhalt einer Tazkira aus Afghanistan sehr schwierig gewesen, jetzt habe der Staat den Weg verkürzt. Eine Beantragung in Afghanistan habe mit einer Onlinebestellung nichts zu tun, es sei jedoch nicht ausgeschlossen, dass das Innenministerium in Afghanistan eine solche ermögliche.

Betreffend der Farsisprache des Beschwerdeführers könnten die Taliban nichts dagegen haben, weil es derzeit noch 2 Millionen Afghanen im Iran gebe, deren Sprache nach jahrzehntelangem dortigen Aufenthalt natürlich farsigefärbt sei. Daher wäre dies kein Anlass für die Taliban, den Beschwerdeführer deshalb zu belangen. Nochmals wies der Sachverständige darauf hin, dass ein Ruckkehrer aus Europa, ausgenommen die Taliban und die IS, nicht illegal in Afghanistan einreisten, sondern mit afghanischen Papieren von afghanischen Vertretungen oder solchen, die von den entsprechenden ausländischen Behörden ausgestellt worden seien. Mit diesen Papieren komme der Beschwerdeführer in eine sichere Stadt hinein, wo er nicht von den Taliban empfangen werde, sondern von den staatlichen Behörden.

Seitens der erkennenden Richterin wurden die aktuellen Länderfeststellungen vorgehalten und die Möglichkeit einer Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen eingeräumt.

5. Am 10.3.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Stellungnahme des Beschwerdeführers ein.

Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass der Beschwerdeführer mit sechs Jahren Afghanistan verlassen und die Information über seinen Herkunftsort von seiner Mutter erlangt habe.

Der länderkundige Sachverständige, der argumentiert habe, dass die Erbschaft der Mutter nicht habe infrage gestellt werden könne zumal es sich bei diesen Personen nicht um deren Geschwister handle, irre sich dahingehend, dass die beiden sehr wohl männliche Verwandte der Mutter seien, wie der Beschwerdeführer übereinstimmend kundgetan habe. Die vorliegenden Länderberichte belegten, dass Frauen in Afghanistan zwar ein Erbrecht hätten, dieses jedoch oft streitig gemacht, entzogen oder nicht anerkannt werde. Zitiert wurden eine Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von Witwen basierend auf einem UNAMA-Bericht von 2010, ein Zeitungsartikel sowie eine Analyse der Staatendokumentation über die gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan vom 25.6.2020.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari bzw. Farsi. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer stammt ursprünglich aus dem Distrikt Shahrestan in der Provinz Daikundi. Er wuchs im Familienverband im Iran auf, wo er in einer afghanischen Privatschule unterrichtet wurde und in der Landwirtschaft sowie auf Baustellen arbeitete.

Der Beschwerdeführer ist gesund.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1.  Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von Verwandten der Mutter wegen eines ererbten Grundstücks aufgesucht oder bedroht. Der Vater des Beschwerdeführers wurde deswegen auch nicht umgebracht.

Es gab in Afghanistan zwischen den Eltern des Beschwerdeführers und Verwandten mütterlicherseits keine Streitigkeiten um Erbschaften oder um Grundstücke oder aus anderen Gründen.

Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Vorfall, wonach seine Mutter und die Schwester von einem Verwandten mütterlicherseits wegen Erbschaftsstreitigkeiten mit einer Waffe bedroht worden seien und sich nur durch Herausgabe des Grunstücksdokuments hätten retten können, hat sich nicht ereignet.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land, seinem Aufwachsen im Iran oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist, und die ihn in Afghanistan exponieren würde.

1.2.2.  Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Verwandten mütterlicherseits oder durch Mitglieder der Taliban.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils, seines Farsiakzents oder seines Aufenthalts in einem europäischen Land bzw. seines Aufwachsens im Iran weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

1.3.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung 16.12.2020 (Auszug):

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

UNAMA 27.10.2020

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020 vgl.; BBC 25.3.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 6.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban, Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020) und verfügt über Kontakte zu IS (RA KBL 12.10.2020; vgl. EASO 8.2020). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani] (EASO 8.2020c; cf. UNSC 27.5.2020).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019). Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika und Khost aktiv. Sie verfügen jetzt über mehr Macht als in den Vorjahren und führen mehr Operationen durch. Es gibt keine größeren Gegenmaßnahmen der afghanischen Regierung oder der Sicherheitskräfte gegen das Netzwerk (RA KBL 12.10.2020)

Die afghanische Regierung entließ drei führende Mitglieder des Netzwerks im Zuge des Gefangenenaustausch im November 2019 (RA KBL 12.10.2020; vgl. NYT 19.11.2019, BBC 19.11.2019). Das Haqqani-Netzwerk ist an den aktuellen Friedensverhandlungen beteiligt (RA KBL 12.10.2020)

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Es ist aber nicht erwiesen, ob er mit dem IS im Irak und in Syrien verbunden ist oder nicht. (RA KBL 12.10.2020). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019) bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern (EASO 8.2020). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020; vgl. RA KBL 12.10.2020), da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region (SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020) wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl.UNSC 27.5.2020, UNGASC 17.3.2020). Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020) und 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als 'Abtrünnige', die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche (EASO 8.2020c; vgl. SaS 10.2.2020). Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Am 4.4.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan (RA KBL 12.10.2020; vgl. AnA 30.4.2020, HRW 6.4.2020), und laut NDS wurde das Hauptführungs- und Koordinierungsgremium des islamischen Staates eliminiert, aber die Teilnetzwerke existieren noch immer in verschiedenen Bereichen. Die Gruppe ist immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch (RA KBL 12.10.2020)

Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019). Einer Quelle zufolge hat Al-Qaida weniger Macht als in den letzten Jahren (RA KBL 12.10.2020b). Gemäss UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in 12 Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).

Quellen:

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LWJ - Long War Journal (4.12.2017): Taliban touts defection of Islamic State ‘deputy’, https://www.longwarjournal.org/archives/2017/12/taliban-touts-defection-of-islamic-state-deputy.php, Zugriff 23.10.2020

LWJ - Long War Journal (5.3.2015): Mapping the emergence of the Islamic State in Afghanistan, https://www.longwarjournal.org/archives/2015/03/mapping-the-emergence-of-the-islamic-state-in-afghanistan.php, Zugriff 23.10.2020

MT - Military Times (27.2.2020): ISIS loses more than half its fighters from US airstrikes and Taliban ground operations, https://www.militarytimes.com/flashpoints/2020/02/27/is

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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