TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/20 W157 2213879-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.04.2021
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Entscheidungsdatum

20.04.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W157 2213879-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Margret KRONEGGER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II.      Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang

1.       Erster Antrag auf internationalen Schutz – Zurückweisung ohne Eintritt in die Sache

1.1.     XXXX (im Folgenden: „Beschwerdeführer“), ein afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Paschtunen/Tadschiken, brachte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Ungarn ein. Anschließend reiste er nach Österreich ein und stellte dort am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2.    Bei der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung führte der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, Afghanistan wegen der Taliban verlassen zu haben. Diese hätten ihn ständig bedroht und verlangt, dass er sich ihnen anschließe, andernfalls er getötet werde.

1.3.    Nachdem der Beschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: „belangte Behörde“) darüber informiert wurde, dass beabsichtigt werde, seinen Antrag auf internationalen Schutz wegen der Zuständigkeit Ungarns zurückzuweisen, erfolgte am XXXX eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im Beisein eines Rechtsberaters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari.

1.4.    Die belangte Behörde wies mit Bescheid vom XXXX , Zl. XXXX , den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wegen der Zuständigkeit Ungarns als unzulässig zurück (Spruchpunkt I.). Weiters wurde eine Außerlandsbringung angeordnet und eine Abschiebung nach Ungarn für zulässig erklärt (Spruchpunkt II.).

2.       Zweiter Antrag auf internationalen Schutz – Abweisung und gegenständliche Beschwerde

2.1.    Am XXXX stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.

2.2.    Bei der Erstbefragung am XXXX gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi zum fluchtauslösenden Ereignis an, lange Zeit im Iran gewesen zu sein und ab und zu seine Heimat besucht zu haben. Dieser habe sich eineinhalb Jahre in Afghanistan aufgehalten und sei von den Taliban sowie der „Terrorbande“ XXXX zu terroristischen Aktivitäten aufgefordert worden. Der Beschwerdeführer habe erfahren, dass Leute, die nicht kooperativ auftreten würden, mit dem Tod bedroht und verfolgt werden würden. Daraufhin sei er wieder in den Iran zurückgekehrt, wo er sich eineinhalb Jahre aufgehalten habe, ehe er sich zur Ausreise nach Europa entschlossen habe.

2.3.    Am XXXX wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Dieser gab zum Fluchtgrund zusammengefasst zu Protokoll, sich aufgrund seiner persönlichen Haltung und Denkweise zur Freiheit, für die er bereits in der Vergangenheit in Afghanistan eingetreten sei, vor den konservativen Regierungsmitgliedern in seinem Herkunftsstaat zu fürchten. In diesem Zusammenhang gab der Beschwerdeführer mehrere Vorfälle wieder: So habe er vor ca. 25 Jahren Kassetten des Altpräsidenten XXXX unter Leuten verteilt; Kollegen der Verteilungsaktion seien danach von Soldaten des Führers der XXXX XXXX mitgenommen worden. Bei einem späteren Aufenthalt im Heimatland habe er die Teilnahme an einem „Meeting“ der XXXX verweigert und sei deshalb als Parteifeind angesehen worden. Im Iran habe der Beschwerdeführer Demonstrationen organisiert. Den Iran verlassen habe er wegen der finanziellen Unterstützung einer iranischen Familie, auf die die iranischen Behörden aufmerksam geworden seien.

2.4.    Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom XXXX wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe für das Verlassen des Heimatlandes nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertige. Er könne eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Provinzen Kabul, Herat und Balkh in Anspruch nehmen. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

2.5.    Hiegegen wurde innerhalb offener Frist am XXXX Beschwerde erhoben. Der Beschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, dass er eine Verfolgung von radikal-islamistischen Gruppierungen bzw. durch konservative Regierungsparteien wegen seiner politischer Gesinnung sowie der im Iran gesetzten Aktivitäten befürchte. In Afghanistan, insbesondere auch in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, herrsche überdies eine prekäre Sicherheits- und Versorgungslage und befinde er sich aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und seines längeren Aufenthalts außerhalb Afghanistans in einer aussichtslosen Situation, weshalb keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe; dass finanzielle Unterstützung durch die Familie des Beschwerdeführers möglich sei, sei eine bloße Mutmaßung der belangten Behörde. Darüber hinaus sei kein schwerwiegendes öffentliches Interesse erkennbar, das einen derart gravierenden Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers rechtfertige.

2.6.    Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.7.    Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes wurde die Rechtssache am XXXX der Gerichtsabteilung XXXX zugewiesen.

2.8.    Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes wurden die Rechtssachen am XXXX der Gerichtsabteilung W157 zugewiesen.

2.9.    Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein einer Vertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari insbesondere zu seiner Situation in Afghanistan, seinen Fluchtgründen und seiner Situation in Österreich befragt.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen

1.1.    Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen/Tadschiken an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, die er in Wort und Schrift beherrscht. Außerdem spricht er Farsi, ein wenig Arabisch, Kurdisch, Indisch und Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Badakhshan ( XXXX ) geboren und lebte später auch in Tadschikistan, Dubai und im Iran; insgesamt hielt er sich – ausgenommen kurzzeitiger Aufenthalte infolge von Abschiebungen – ca. 24 Jahre außerhalb Afghanistans auf, ehe er nach Europa kam. Der Beschwerdeführer besuchte im Herkunftsstaat zehn Jahre lang eine Schule, absolvierte eine zweijährige militärische Ausbildung und half danach vier Jahre lang in einem Zentrum für Kinder und Jugendliche aus. Im Iran genoss er eine vierjährige Ausbildung im Bauwesen und arbeitete zwölf Jahre lang in diesem Bereich als selbstständiger Unternehmer.

Die Familie des Beschwerdeführers (Mutter und Geschwister) lebt nach wie vor in XXXX . Zudem leben zwei Onkel mütterlicherseits in Badakhshan. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie kaum in Kontakt.

Der Beschwerdeführer leidet an keiner lebensbedrohlichen Krankheit, fühlt sich jedoch seit ca. einem Jahr psychisch nicht gut, weshalb er vom Arzt Antidepressiva verschrieben bekam. Davon abgesehen ist er gesund.

Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über eine verbindliche Einstellungszusage als Koch. In der Vergangenheit betätigte er sich mehrfach ehrenamtlich.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2.    Fluchtgründe des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer, der nicht sonderlich religiös ist und sich kritisch über die Verhältnisse in Afghanistan (keine freie Meinungsäußerung, keine Freiheit der Wissenschaften, Unterdrückung der Frauen etc.) äußert, machte sich – bevor er fast 30 Jahren seine Heimat verließ – für demokratische Werte in seinem Herkunftsstaat stark. So verteilte er zur Zeit der Mujaheddin zusammen mit anderen Aktivisten Kassetten mit Aufnahmen von Reden des Altpräsidenten XXXX über die Freiheit und die freie Gesellschaft an Menschen oder versuchte junge Erwachsene, die durch die XXXX oder die XXXX manipuliert wurden, aufzuklären und zu einer Abkehr von den islamistischen Parteien zu bewegen. Der Beschwerdeführer, der schon in der Schule einer politisch tätigen Jugendgruppe angehörte, westliche Kleidung trug und Sportarten wie Volley- und Fußball betrieb, machte aus seiner liberalen Haltung kein Geheimnis (sein Weltbild vertrat er auch gegenüber der anders denkenden Familie) und motivierte seine Mitmenschen stets dazu, Dinge zu hinterfragen und nicht einfach unreflektiert hinzunehmen.

Auch während seines anschließenden Aufenthaltes im Iran blieb der Beschwerdeführer politisch aktiv und organisierte regierungskritische Demonstrationen; im Jahr XXXX wurde er sogar als Mittelsmann tätig, um Gelder zur Unterstützung oppositioneller Tätigkeiten nach Afghanistan zu bringen.

In Österreich setzt der Beschwerdeführer seine Aufklärungsarbeit fort. Er redet etwa mit seiner Ansicht nach „fanatischen“ Menschen in seiner Unterkunft, um sie auf den „richtigen“ Weg zu bringen und ihnen eine Integration in die österreichische Gesellschaft zu ermöglichen; der Beschwerdeführer ist davon überzeugt, dass es „Aufgabe eines Menschen“ ist, so zu handeln.

Die aufgeschlossene Lebenseinstellung und Denkweise des Beschwerdeführers, die maßgeblicher Bestandteil seiner Identität ist und sich im Zuge jahrzehntelanger Abwesenheit aus Afghanistan durch Erfahrungen in aufgeklärteren (als der afghanischen) Gesellschaften sogar noch verstärkt hat, entspricht nicht der in seinem Herkunftsstaat mehrheitlich vorherrschenden konservativ-restriktiven Weltanschauung und den dortigen Traditionen. Der Beschwerdeführer, der ein selbstbestimmtes Leben führen und Entscheidungen unbeeinflusst von religiösen und/oder politischen Werthaltungen treffen sowie seine fortschrittlichen Ansichten weiterhin gegenüber Dritten nicht bloß für sich behalten möchte, sondern für jedermann ersichtlich danach handeln würde, würde daher bei einer Überstellung in seine Heimat im ganzen Land eine lebensbedrohliche oder seine körperliche oder geistige Integrität beeinträchtigende Gefahr von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren drohen.

1.3.    Situation im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020 (im Folgenden kurz: „LIB“).

1.3.1.  Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (LIB, Kapitel 4).

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht. Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (LIB, Kapitel 4).

Seit 2001 haben sich zuvor islamistisch-militärische Fraktionen, kommunistische Organisationen, ethno-nationalistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Gruppen in politische Parteien gewandelt. Diese repräsentieren einen vielgestaltigen Querschnitt der politischen Landschaft und haben sich in den letzten Jahren zu gefestigten Institutionen entwickelt. Jedoch ist keine von ihnen eine weltanschauliche Organisation oder dient der Wählermobilisierung, wie es für Parteien in reiferen Demokratien üblich ist (LIB, Kapitel 14.1).

1.3.2.  Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, die die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 5).

1.3.2.1. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, die Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen, wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB, Kapitel 5).

Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).

1.3.2.2. COVID-19

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

1.3.3.  Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u.a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 22).

Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos – Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang – als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 22).

Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst. Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen, oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (LIB, Kapitel 22).

1.3.4.  Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, die die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Kapitel 12).

Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen, als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (LIB, Kapitel 12).

1.3.5.  Medizinische Versorgung

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 23).

Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Kapitel 23).

Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab – mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. WHO und USAID zählten zwischen Jänner und August 2020 30 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen (LIB, Kapitel 23).

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte, wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten, berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen. In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul, als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist, wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (LIB, Kapitel 3).

1.3.6.  Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 18).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 18.1.).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (LIB, Kapitel 18.1.).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, die die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 18.2.).

1.3.7.  Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel 17).

1.3.8.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

1.3.8.1. Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt (LIB, Kapitel 5).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (LIB, Kapitel 11.1).

Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LIB, Kapitel 11.1).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potentiellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LIB, Kapitel 11.1).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden. Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in denen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen (LIB, Kapitel 11.1).

Es ist bekannt, dass – wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen – die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LIB, Kapitel 11.1).

1.3.9.  Badakshan

Die Provinz Badakhshan liegt im Nordosten Afghanistans und grenzt an Tadschikistan, China und Pakistan. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Badakhshan im Zeitraum 2020-21 auf 1,054.087 Personen. In der Provinz leben Tadschiken, Paschtunen, Usbeken, Hazara, Belutschen und Kirgisen (LIB, Kapitel 5.2.).

Badakhshan zählte im Mai 2020 zu den vergleichsweise volatilen Provinzen im Nordosten Afghanistans. Die Taliban und andere militante Gruppierungen sind in der Provinz aktiv und versuchen oftmals, Angriffe gegen die Regierungstruppen durchzuführen. Laut dem Long War Journal werden mit Stand Ende September 2020 zwei Distrikte (Arghanj Khwah und Yamgan) von den Taliban kontrolliert, rund 20 weitere Distrikte gelten als umkämpft. Unter anderem sind auch ausländische Kämpfer – hauptsächlich aus Tadschikistan und Usbekistan – in den Reihen der Taliban aktiv. Neben den Taliban operieren weitere Aufständischengruppen, wie zum Beispiel Al Qaida, das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) und das East Turkestan Islamic Movement (ETIM), in der Provinz. Tadschikische kriminelle Netzwerke, die in den Drogenschmuggel aus Afghanistan nach Zentralasien involviert sind, arbeiten in Badakhshan mit Rebellengruppen zusammen. Auf Regierungsseite befindet sich Badakhshan im Verantwortungsbereich des 217. Afghan National Army (ANA) „Pamir“ Corps, das der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, das von deutschen Streitkräften geleitet wird. Die US-amerikanischen Streitkräfte leisten in der 44 Provinz Luftunterstützung für die afghanischen Bodentruppen und versorgen diese mit nachrichtendienstlichen Informationen (LIB, Kapitel 5.2.).

In den ersten drei Quartalen des Jahres 2020 zählte UNAMA 135 zivile Opfer (43 Tote, 92 Verletzte) in der Provinz, was mehr als einer Verdopplung der Anzahl an zivilen Opfern gegenüber derselben Periode im Vorjahr entspricht (LIB, Kapitel 5.2.).

2.       Beweiswürdigung

Ad 1.1. Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung seiner Person im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen Sprachkenntnissen, seinem Familienstand, seinem Lebenslauf, seiner Schul- und Berufsausbildung sowie seiner Arbeitserfahrung und seiner Familie gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich zuletzt getätigten glaubwürdigen Aussagen des Beschwerdeführers in der Beschwerdeverhandlung.

Die Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich stützen sich auf die Aktenlage, auf die Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie auf die von ihm in und nach der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

Ad 1.2. Fluchtgründe des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer begründete seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz in der Erstbefragung vom XXXX mit einer Verfolgung durch die Taliban und der unsicheren Sicherheitslage in Afghanistan (EB, Seite 5). Auch in der Erstbefragung zum zweiten Antrag auf internationalen Schutz vom XXXX gab dieser eine Furcht vor den Taliban an, ergänzte jedoch auch, bei einer Rückkehr in seine Heimat Probleme mit der radikalen XXXX zu erwarten, die ihn zu einer Zusammenarbeit aufgefordert habe und die, wie er erfahren habe, unkooperativ auftretende Leute töte (EB, Seite 5). Der Beschwerdeführer wiederholte das Vorbringen mit der XXXX später in der Einvernahme vor der belangten Behörde (BFA, Seite 14). Dort brachte er – weil er aufgefordert wurde, möglichst chronologisch über alle Ereignisse, die ihn zum Verlassen seines Heimatstaates veranlasst hätten – zunächst auch einen Vorfall betreffend die Verteilung von Kassetten mit demokratischen Inhalten zur Mujaheddin-Zeit ins Treffen. Zudem gab er bekannt, sich gegen die XXXX ausgesprochen zu haben sowie Demonstrationen im Iran organisiert und XXXX auch als Mittelsmann finanziert zu haben. Zuletzt schilderte er auch seinen Ausreisegrund aus dem Iran. Der Beschwerdeführer deutete während dem Interview mehrfach an, dass ihm aufgrund seiner weltoffenen Einstellung eine Lebensführung in Afghanistan unmöglich sei (BFA, Seite 13).

Die belangte Behörde befand im bekämpften Bescheid – im Wesentlichen auf ein im Vergleich zu den Erstbefragungen gesteigertes Fluchtvorbringen gestützt –, dass der Beschwerdeführer seine Heimat nicht aufgrund einer persönlichen Bedrohung bzw. Verfolgung verlassen habe müssen.

Hierzu führt das Bundesverwaltungsgericht eingangs an, dass bei der Ersteinvernahme im XXXX tatsächlich nur Probleme des Beschwerdeführers mit den Taliban protokolliert wurden. Der Beschwerdeführer begründete dies angesichts seines Fluchtvorbringens, das im Kern auch die Geltendmachung einer Persönlichkeit mit einem zum Herkunftsstaat kontroversen Gedankengut betrifft, nachvollziehbar damit, dass er bei der Einvernahme im Beisein von 13-18 anderen Leuten nicht über alles etwas sagen hätte können (BFA, Seite 6). Eine Erstbefragung dient dem Gesetz nach außerdem vorrangig der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen. Die Angst vor den Taliban, die aus Sicht des Beschwerdeführers ebenfalls eine „fanatische“ Gruppierung sei und ihm deshalb gefährlich werden könne, hielt der Beschwerdeführer im Übrigen auch noch in der Beschwerdeverhandlung aufrecht (VP, Seite 18).

In der Erstbefragung im XXXX zum verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz legte der Beschwerdeführer Schwierigkeiten mit der XXXX dar, die auch in der nachfolgenden Einvernahme vor der belangten Behörde thematisiert wurden. Dass die übrigen Ereignisse bei der Ersteinvernahme, das zumeist lediglich aus ein paar Zeilen besteht, nicht im Protokoll verzeichnet wurden, lässt sich damit erklären, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers aus mehreren Handlungssträngen besteht. Dieser benannte nur die Vorkommnisse bei seinem letzten Aufenthalt in Afghanistan; die anderen Aspekte des Fluchtgrundes wurden umgehend nach der konkreten Aufforderung und der ihm gegebenen Möglichkeit, ausführlich über alle Ereignisse zu sprechen, vor der belangten Behörde vorgetragen. Zu berücksichtigen gilt es in diesem Zusammenhang auch, dass einem Asylwerber, weil – wie oben bereits angeführt – in der Ersteinvernahme eine Befragung zu den näheren Fluchtgründen zu unterbleiben hat, nicht in seriöser Weise später vorgeworfen werden kann, seine Fluchtgründe in der Erstbefragung zu ungenau geschildert zu haben.

Dass der Beschwerdeführer – auch wenn seine gesetzten Handlungen in den Erstbefragungen keinen Niederschlag fanden – über eine längere Zeitraum im Herkunftsstaat bzw. im Iran politisch agierte (Verteilung von Kassetten, Aufklärung von Jugendlichen, Organisation von Demonstrationen etc.) und für seine Einstellung gegenüber jedermann – auch gegenüber der eigenen anders denkenden Familie (VP, Seite 11: „Zu Hause hat niemand diese Ansichten vertreten und ich bin auch davon überzeugt, dass meine Familie in Europa sich nicht zurechtfindet und niemals bereit sein wird, hierherzukommen. Sie würde sogar meine Einladung nach Europa ablehnen.“) – offenkundig eintrat, lässt sich überdies aus der engagierten Erzählweise des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde ableiten. In Zusammenschau mit seinen dahingehenden gleichlautenden Ausführungen und dem gewonnen persönlichen Eindruck des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung (s. dazu sogleich noch unten) geht das Bundesverwaltungsgericht daher von der Richtigkeit dieser Angaben aus.

Der belangten Behörde ist hingegen aufgrund von Widersprüchlichkeiten zwischen den Einvernahmen (keine Festnahme des Beschwerdeführers nach der Kassetten-Verteilung [BFA, Seite 13] vs. Festnahme bei einer Aktion [VP, Seiten 10 f]; keine Teilnahme des Beschwerdeführers an Veranstaltungen der XXXX trotz Ladung [BFA, Seite 14] und Warnung durch „ XXXX “ [BFA, Seite 18] vs. Teilnahme an einer Veranstaltung der XXXX wegen Freunden und Warnung durch „ XXXX “ [VP, Seiten 15 f]), nachträglichen Steigerungen (keine Erwähnung einer Verfolgung des Beschwerdeführers durch Parteien der Mujaheddin im Iran [BFA, Seite 13] vs. Suche nah dem Beschwerdeführer im Iran, wodurch häufige Wohnsitzwechsel und ein Leben unter falscher Identität notwendig gewesen seien [VP, Seiten 12 f]) und vager Angaben zuzustimmen, dass sich die Schilderungen des Beschwerdeführers nicht eignen, um eine Feststellung zu einer gegen ihn bereits im Heimatstaat gerichteten Bedrohung bzw. Verfolgung (der Beschwerdeführer gestand dies in der Beschwerde auch selbst zu; Beschwerde, Seite 4) zu treffen. Auch eine Feststellung dahingehend, dass aus den bisher gesetzten Handlungen noch eine Bedrohung bzw. Verfolgung droht, ist in Anbetracht der langen Zeitspanne nicht möglich.

Die politischen Aktivitäten des Beschwerdeführers sind jedoch unter einem anderen Blickwinkel bedeutsam: Diese sind Ausdruck und Teil einer liberalen Wertehaltung, die in der Schulzeit ihren Anfang fand (VP, Seite 11: „Mein Leben hat sich von dem der anderen sehr stark unterschieden. Bereits in der Schule hat man diese Unterschiede gesehen. Ich habe ein Hemd und eine Hose angezogen, wenn ich zur Schule gegangen bin, während andere Schüler in der traditionellen Kleidung gekommen sind. In der Schule gab es eine Jugendgruppe, die sich politisch betätigt hat. Ich war Mitglied dieser Gruppe. Ich habe den ganzen Tag mit meinen Freunden verbracht. Ich bin nach dem Frühstück von zu Hause gegangen und war nur zum Schlafen daheim. Ich habe Sport betrieben, z.B. habe ich Volleyball und Fußball gespielt. Ich habe auch an anderen Veranstaltungen teilgenommen. Ich war nur mit den Personen, die ich zuvor beschrieben habe, zusammen. Auch als ich dann älter wurde und sogar während meines Wehrdienstes. Diese Leute hatten wir mir sogar dort geholfen, nicht einer Gruppe zugeteilt zu werden, die kämpft. Ich wurde einem Kommandanten zugeteilt, der im Logistikbereich tätig war.“), nach dem Verlassen der Heimat durch das langjährige Leben im Ausland erweitert wurde (VP, Seite 14: „[…] ich habe gelernt, zu akzeptieren und tolerant zu sein. Als ich das erste Mal von Afghanistan nach Tadschikistan gereist bin, habe ich sehr große Unterschiede festgestellt und zwar in der Gesellschaft. Z.B. haben Frauen und Männer zusammengearbeitet. Als ich im Iran war, gab es auch gewissen Unterschiede zu Afghanistan. Z.B. sind Frauen selber mit dem Auto gefahren, während es so etwas in Afghanistan nicht gibt. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass den Menschen, insbesondere den Frauen, ihre Freiheit gegeben wird, damit sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und es selber organisieren. Ich glaube auch, dass vor allem Frauen die Gelegenheit gegeben werden soll, am politischen und gesellschaftlichen Leben eines Landes teilzuhaben. In Afghanistan sind z.B. Frauen sehr eingeschränkt. Sie dürfen nicht einmal über ihre Kleidung selbst entscheiden und müssen sich unter einer Burka verstecken.“) und auch in Österreich nach wie vor gelebt wird (VP, Seite 14: „Als ich in das Heim in der Nähe von XXXX kam, waren dort ca. 100 Flüchtlinge, mit verschiedenen Nationalitäten, aber mehrheitlich aus Afrika und Afghanistan. Hier habe ich wieder jene Welt, die ich in Afghanistan gesehen hatte, erlebt. Die Menschen haben auf mich einen sehr radikalen und fanatischen Eindruck gemacht. Das hat man auch in ihrer Umgangsform gesehen. Z.B. gab es einzelne Personen, die Bier trinken wollten und deshalb von allen anderen verurteilt wurden. Auch gab es kein Verständnis für die Ausgaben, z.B. haben sie alle Herdplatten aufgedreht, um Strom zu verbrauchen, mit dem Argument, dass das Sozialamt das bezahlen würde. Ich habe mit all diesen Leuten gesprochen. Inzwischen haben sie viele Dinge verstanden und ihre Umgangsformen haben sich weitgehend gebessert. Es gab Tage, an denen ich vier Stunden mit einer einzigen Person gesprochen habe, um sie aufzuklären.“); im Falle einer Überstellung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat könnte es dadurch zu Problemen kommen (VP, Seite 14: „Wenn ich früher weniger liberal war, dann bin ich jetzt noch mehr liberal.“).

Die belangte Behörde unterzog das Vorbringen einer gelebten modernen Weltanschauung, die mit jener in Afghanistan dominierenden Denkart im Konflikt steht, im angefochtenen Bescheid keiner näheren Prüfung und erklärte vielmehr u.a. die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Verteilungsaktion für bedeutungslos.

Festgehalten wird in diesem Kontext noch, dass es nicht einmal darauf ankommt, ob der Beschwerdeführer diese Überzeugung schon im Herkunftsstaat hatte bzw. danach tätig wurde, weil es ausreicht, diese Ansichten auch erst im Zuge des Aufenthaltes in Österreich entwickelt zu haben.

Der Beschwerdeführer brachte jedenfalls während des Verfahrens (BFA, Seiten 13 und 18) und besonders in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (VP, Seiten 10 ff und 14 f) überzeugend und glaubwürdig zum Ausdruck, dass er eine Denk- und Lebensweise im Bundesgebiet pflegt, die nicht mit jenen in Afghanistan vorherrschenden Gepflogenheiten kompatibel ist. Die ihm gestellten Fragen zu seiner Lebensführung wurden spontan, ohne zu zögern und gründlich beantwortet. Der Beschwerdeführer hinterließ durch sein authentisches Auftreten und seiner – teils sehr tief reichenden – Aussagen den Eindruck einer intellektuellen, aufgeschlossenen Persönlichkeit, der demokratische Werte (vornehmlich Freiheit und Selbstbestimmung, aber auch Meinungs- und Religionsfreiheit, Gleichberechtigung usw.) ein ureigenes Anliegen sind und die es als eine Art Lebensaufgabe sieht, vom „rechten“ Weg abgekommenen Menschen dorthin zurückzuführen (VP, Seite 15: „Als Mensch sehe ich es als meine Aufgabe, fanatischen Menschen den richtigen Weg zu zeigen, zu ermöglichen, dass sie sich in die Gesellschaft integrieren und ein Teil davon werden. […] Ich habe ihnen gesagt, dass ich das als eine Aufgabe eines Menschen sehe, so vorzugehen. Ich würde alles genauso noch einmal tun und möchte damit auch nicht aufhören. Wenn ich heute ein Kind mit einem Messer sehe, dann würde ich ihm sofort das Messer aus der Hand nehmen, damit es sich nicht verletzt, obwohl ich weiß, dass ich nicht die Polizei bin. Aber ich weiß auch, dass wenn ich die Polizei anrufe, das Kind bis dahin verletzt sein kann.“).

Der Beschwerdeführer legte eindrucksvoll dar, dass er ein Leben, in dem er seine persönliche Überzeugung sowie Wertehaltung unterdrücken müsste und er keine selbständigen Entscheidungen treffen dürfte, rigoros ablehnt und fürchtet, deshalb in seiner Heimat verfolgt zu werden, jedoch nicht bereit ist, sein liberales Weltbild aufzugeben, sondern vielmehr darauf besteht (VP, Seite 15: „Die Ans

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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