TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/26 W128 2198146-1

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Veröffentlicht am 26.04.2021
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Entscheidungsdatum

26.04.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W128 2198146-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael FUCHS-ROBETIN über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 26.04.2018, Zl. 1094539403-151761185, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

Der Beschwerde von XXXX wird stattgegeben und XXXX wird gemäß
§ 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2015 – gemeinsam mit seinem Bruder XXXX , geb. XXXX , – nach Österreich ein und stellte am 21.11.2015 (zeitgleich mit seinem Bruder) vor der Polizeiinspektion St. Georgen/Attergau EAST-West einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund gab er an, sein Heimatdorf XXXX stehe unter Kontrolle der Taliban und die Taliban hätten sie immer wieder aufgefordert, für sie zu arbeiten; sein Vater habe dies jedoch nicht „akzeptiert“. Eines Tages sei sein Vater von den Taliban entführt worden. Die Taliban hätten seiner Familie in Folge ein Foto geschickt, auf dem erkennbar gewesen sei, dass sein Vater von den Taliban gefoltert worden sei. Die Taliban hätten verlangt, dass sein Bruder und er ihnen beitreten; ansonsten würde ihr Vater umgebracht werden. Aus Furcht vor den Taliban hätten er und sein Bruder dann Afghanistan verlassen.

2. Am 26.01.2016 legte der Beschwerdeführer ein Foto seines Vaters vor, auf welchem dieser mit einer großen Wunde auf der Stirn und einem blutüberströmten Gesicht abgelichtet ist, und brachte diesbezüglich vor, dass die auf dem Foto ersichtlichen Verletzungen von der Folter bzw. Misshandlung durch die Taliban stammen würden (AS 175).

3. Am 09.04.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen und gab dabei zusammengefasst an, dass sein Vater von 2003 bis 2013 für die amerikanische NGO XXXX gearbeitet habe. Er sei Programm-Direktor gewesen und habe bei der Errichtung von Schulen in Afghanistan mitgeholfen. Im Anschluss habe sein Vater (von 2013 bis 2015) als Staatsanwalt für die afghanische Regierung gearbeitet. Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass die Taliban in ihr Dorf eingedrungen seien und gewollt hätten, dass die jungen Leute sich ihnen anschließen. Sein Vater sei aufgrund seiner beruflichen Tätigkeiten von den Taliban mehrmals bedroht worden. Eines Abends seien mehrere Taliban in ihr Haus eingedrungen und hätten seinen Vater zusammengeschlagen und „mitgenommen“. Die Taliban hätten auch ihn und seinen Bruder XXXX „mitnehmen“ wollen; er und sein Bruder hätten sich jedoch im Garten verstecken können. Nachdem die Taliban ihren Vater „mitgenommen“ hätten, hätten sie noch – erfolglos – das Haus nach ihm und seinem Bruder durchsucht. Seine Mutter sowie seine restlichen Geschwister seien während des Vorfalls zu Hause gewesen; diesen sei jedoch nichts passiert, weil die Taliban kein Interesse an Frauen hätten und seine übrigen Geschwister sich noch im Kindesalter gewesen seien. Nach dem Vorfall seien er und sein Bruder zu ihrem Onkel ins Dorf XXXX (ebenfalls in der Provinz Kabul) gefahren und dort ein paar Tage geblieben; danach hätten sie Afghanistan verlassen.

Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer mehrere Fotos seines Vaters vor, die ihn bei seiner Arbeit für die amerikanische NGO sowie bei seiner Tätigkeit als Staatsanwalt für die afghanische Regierung zeigen (AS 179 bis AS 191). Weiters legte er ein Lobschreiben des afghanischen Bevölkerungsrates des Distriktes XXXX (AS 173; inkl. Übersetzung [AS 203]) betreffend die Tätigkeit seines Vaters als Staatsanwalt vor. Zudem legte er ein weiteres Foto seines Vaters vor und brachte vor, dass die Taliban dieses von ihm während seiner Entführung bzw. Festhaltung gemacht hätten (AS 177). Abschließend legte er zahlreiche Integrationsunterlagen vor (Zertifikat des ÖSD Wien über die bestandene B1-Deutschprüfung, Abschlussbericht des STARTwien Jugendcollege, Teilnahmebestätigung von diversen Integrationskursen der Stadt Wien).

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und gewährte ihm eine Frist von zwei Wochen für eine freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe unglaubwürdig seien, weil diese im Widerspruch zu den Aussagen seines Bruders XXXX im parallellaufenden Asylverfahren stünden. So habe der Beschwerdeführer beispielsweise angegeben, dass seine Familie nach der Entführung von den Taliban zwei Fotos und einen Drohbrief erhalten habe; sein Bruder XXXX habe hingegen ausgeführt, dass sie nur zwei Fotos – und keinen zusätzlichen Drohbrief – erhalten hätten. Weiters hätten er und sein Bruder unterschiedliche Angaben betreffend den Verbleib der übrigen Familienmitglieder gemacht. Zudem hege das BFA Zweifel an der Echtheit der vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweismitteln (Fotos), zumal in Asylverfahren – insbesondere betreffend den Herkunftsstaat Afghanistan – oftmals gefälschte Beweismittel vorgelegt werden würden.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht vollumfänglich Beschwerde wegen „inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung“ und wegen „Verletzung von Verfahrensvorschriften“. Dabei betonte er im Wesentlichen, dass ihm aufgrund der Tätigkeit seines Vaters für die amerikanische NGO sowie für die afghanische Regierung bei einer Rückkehr eine asylrelevante Verfolgung drohen würde. Das BFA habe nicht ausreichend Ermittlungen betreffend die Tätigkeit seines Vaters getätigt. Auf den vorgelegten Fotos sei sein Vater bei seiner Arbeit – sowohl für die amerikanische NGO als auch für die afghanische Regierung – erkennbar. Weiters habe das BFA nicht hinreichend begründet, aus welchem Grund es an der Echtheit der Beweismittel Zweifel hege. Dass in Asylverfahren oftmals gefälschte Beweismittel verwendet bzw. eingesetzt werden, würden für den vorliegenden Fall keine hinreichenden Verdachtsmomente begründen.

6. Am 03.09.2018 brachte der Beschwerdeführer eine Beschwerdeergänzung ein, mit der er zwei Videos vorlegte und vorbrachte vor, dass auf diesen Videos sein Vater bei seiner Arbeit für die amerikanische NGO erkennbar sei. Auf dem ersten Video sei erkennbar, wie sein Vater Menschen in Dörfern, insbesondere im Zusammenhang mit dem Aufbau von Schulen, besuche und unterstütze. Auf dem zweiten Video sei sichtbar, wie sein Vater Kleidung und Sachleistungen an Frauen und Kinder verteile.

7. Am 14.03.2019 sowie am 17.06.2019 fand im Asylverfahren des Bruders des Beschwerdeführers XXXX vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer als Zeuge einvernommen wurde.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.09.2019, Zl. W161 2198144-1, wurde die Beschwerde des Bruders des Beschwerdeführers als unbegründet abgewiesen.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass weder glaubwürdig sei, dass der Vater der Brüder für eine amerikanische NGO gearbeitet habe noch, dass er als Staatsanwalt für die afghanische Regierung tätig gewesen sei. Weiters sei nicht glaubwürdig, dass er von den Taliban entführt worden wäre. Eine asylrelevante Verfolgungsgefahr bestehe für den Beschwerdeführer (hier gemeint Bruder XXXX ) – bei einer allfälligen Rückkehr – demnach nicht.

Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe im Laufe des Verfahrens gesteigert habe sowie seine Aussagen teilweise im Widerspruch zu den Angaben seines Bruder XXXX stünden. Weiters könne nicht davon ausgegangen werden, dass es sich auf den vorgelegten Fotos bzw. Videoausschnitten tatsächlich um den Vater des Beschwerdeführers handle. Im Ergebnis sei bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine asylrelevante Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers anzunehmen.

5. Am 16.03.2021 fand im gegenständlichen Verfahren eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in welcher der Beschwerdeführer als Partei sowie seine in Österreich lebenden Verwandten XXXX (Mann seiner Tante), XXXX (Cousin) und XXXX (Cousine) als Zeugen vernommen wurde und weitere Unterlagen vorgelegt wurden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zum Beschwerdeführer

1.1.1. Der am XXXX geborene, somit 22-jährige Beschwerdeführer, ist afghanischer Staatsangehöriger, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Er ist ledig und kinderlos. Er wuchs im Dorf XXXX , Disktrikt XXXX , Provinz Kabul, auf, wo er auch bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 lebte. Er besuchte in Afghanistan neun Jahre lang die Schule. Er hat drei jüngere Bruder sowie eine jüngere Schwester. Sein Vater XXXX arbeitete von 2003 bis 2013 als Projektleiter und Dolmetscher für die amerikanische NGO XXXX , eine Non-Profit-Organisation, die im Jahr 2003 vom amerikanischen Juristen XXXX gegründet wurde und afghanische Dörfer in Bildungs- und Wirtschaftsangelegenheiten sowie in der Gesundheitsversorgung unterstützt. Im Jahr 2005 wirkte die Organisation beim Bau einer Schule im Dorf XXXX mit.

Im Anschluss arbeitete der Vater des Beschwerdeführers von 2013 bis 2015 als Staatsanwalt für die afghanische Regierung.

Der Beschwerdeführer und seine Familie wurden aufgrund der Tätigkeiten des Vaters von den Taliban mehrmals bedroht. Eines Abends, im Herbst 2015, drangen mehrere Taliban in das Haus der Familie ein, schlugen den Vater zusammen und entführten ihn. Der Beschwerdeführer sowie sein jüngerer Bruder XXXX (geboren am XXXX ) konnten sich während des Vorfalls im großen Garten verstecken. Seine Mutter und die jüngeren Geschwister befanden sich während des Vorfalls im Haus, blieben jedoch unversehrt. Nachdem die Taliban den Vater in ihre Gewalt gebracht hatten, durchsuchten sie noch – erfolglos – das Haus nach dem Beschwerdeführer und seinem Bruder XXXX .

Nach diesem Vorfall verließen der Beschwerdeführer und sein Bruder XXXX – aus Furcht vor weiteren Bedrohungen durch die Taliban – ihr Heimatdorf und wohnten ein paar Tage bei ihrem Onkel mütterlicherseits im Dorf XXXX (ebenfalls Provinz Kabul). Wenige Tage später erhielt ihre Mutter – die weiterhin mit den jüngeren Geschwistern im Heimatdorf und im Haus der Familie verblieb – von den Taliban ein Foto des Vaters, auf dem dieser mit blutverschmierten Gesicht erkennbar war sowie einen Drohbrief, in welchem die Taliban den Beschwerdeführer sowie den jüngeren Bruder „einforderten“. In Folge verließen der Beschwerdeführer sowie sein Bruder XXXX Afghanistan. Ihre Mutter sowie ihre jüngeren Geschwister blieben noch für kurze Zeit im Heimatdorf; nachdem sie jedoch von den Taliban ein weiteres Foto des Vaters erhielten zogen sie zum Onkel ins Dorf XXXX und verließen kurze Zeit später ebenfalls Afghanistan in Richtung Türkei. Der weitere Aufenthalt der Mutter sowie der jüngeren Geschwister ist nicht bekannt.

Ebenso unbekannt ist der Aufenthalt des Vaters seit dessen Entführung.

Ende 2015 reisten der Beschwerdeführer und sein Bruder XXXX schlepperunterschützt in Österreich ein und stellten jeweils am 12.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Sein Bruder XXXX erhielt am 12.09.2019 eine zweitinstanzliche (mittlerweile rechtskräftige) negative Asylentscheidung und ist seit 03.10.2019 nicht mehr aufrecht in Österreich gemeldet (ZMR-Auszug vom 12.03.2021).

Die Tante des Beschwerdeführers und dessen Mann ( XXXX ) wohnen seit ungefähr 40 Jahren in Österreich und sind mittlerweile österreichische Staatsbürger. Dessen drei Kinder – somit die Cousins und die Cousine des Beschwerdeführers – sind in Österreich geboren und aufgewachsen und ebenfalls österreichische Staatsbürger. Der Beschwerdeführer pflegt ein sehr enges und familiäres Verhältnis mit seinen in Österreich lebenden Verwandten.

Der Beschwerdeführer hat sich seit seiner Ankunft in Österreich bestens integriert: Er absolvierte bereits im Dezember 2017 die B1-Deutschprüfung, machte ihm November 2020 seinen Pflichtschulabschluss und verfügt – im Falle eines positiven Asylbescheides – über eine Einstellungszusage im Unternehmen seines Cousins XXXX . Darüber hinaus besucht er derzeit ein Abendgymnasium und strebt den Beruf des Informatikers an.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Strafregisterauszug vom 15.03.2021).

Für den Beschwerdeführer besteht bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine landesweite lebensbedrohliche Verfolgungsgefahr durch die Taliban.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020

-        Landinfo Report zu Afghanistan vom 23.08.2017: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne

1.2.1. Allgemeine Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt.

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu.

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020, S. 22 f)

1.2.2. Lage in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (Kabul)

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt. Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi.

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle, dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt – statt, wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm. Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt.

Das USDOD beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben. Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt.

Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an. So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind. Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht. Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen und der von hohen Mauern umgeben ist.

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Command- Capital (TAAC-C) untersteht.

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet. Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung. Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen. Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet. Es wird berichtet, dass der Islamische Staat in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen. Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staates zu stören, zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020, S. 33 ff)

1.2.3. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020, S. 26)

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen.

Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können. Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar.

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde.

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben.

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind.

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020, S. 26 f)

Der Nachrichtendienst der Taliban

Die Regierungsbeamten sind überzeugt, dass die Taliban über alles unterrichtet sind, was geschieht, selbst in Gegenden, in denen sie nur schwach vertreten sind. Natürlich behaupten die Taliban, dass ihre Nachrichtendienste in allen afghanischen Provinzen vertreten sind. Wenngleich dies bis zu einem gewissen Maß zutrifft, unterschiedet sich diese Präsenz nach Intensität und Qualität außerordentlich stark, denn einige Provinzen sind fast völlig unter der Kontrolle der Taliban und andere kaum betroffen. In den Gebieten, in denen die Taliban kaum oder gar nicht vertreten sind, können sie sich nicht der Informationen aus dem Netz von Mitgliedern oder Sympathisanten bedienen. Es gibt dort offensichtlich keine Mitglieder, aber selbst ein einsamer Sympathisant, hätte es schwer, Informationen an die Taliban weiterzuleiten. In den Gebieten mit starker Präsenz, kommen die Talibanpatrouillen regelmäßig in die Dörfer und schöpfen alle Informationen ab, die ihnen die Sympathisanten mitteilen wollen, dort, wo sie schwach sind, ist das nicht möglich.

Identifizierung von Zielpersonen

Insbesondere die Einschüchterung und Identifizierung von Zielpersonen durch die Taliban hängt stark von den Resultaten ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit ab. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Einschüchterung und Verfolgung nur eine von vielen Aufgaben der Nachrichtendienste sind. Sie untersuchen auch verdächtige Kollaborateure der Regierung und wählen die Zielpersonen aus der schwarzen Liste aus, die auf die Abschussliste gesetzt werden sollen (dies ist eine Teilmenge der schwarzen Liste, mit denjenigen, die zur Tötung frei gegeben wurden). Eine Ausnahme bildet hier der Nachrichtendienst von Quetta, der nicht zu einer Militär-Kommission gehört und soweit berichtet wurde, keine Zielpersonen auswählt. Außerdem sollen die Dienste ein Auge auf Taliban haben, die sich „daneben benehmen“, wenn es also zu Übergriffen gegen die Bevölkerung und Korruption kommt.

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“:

a)       Politische Feinde: die Anführer und wichtigsten Mitglieder der Parteien und Gruppen, die den Taliban feindlich gesinnt sind

b)       Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer 'feindlicher' Regierungen - alle Zivilisten, die für die Regierung oder für westliche diplomatische Vertretungen und andere Einrichtungen arbeiten;

c)       Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges;

d)       Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern;

e)       Personen, die gegen die Shari'a (entsprechend der Auslegung der Taliban) und die Regeln der Taliban verstoßen;

f)       Kollaborateure der afghanischen Regierung – praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft;

g)       Kollaborateure des ausländischen Militärs – praktisch jeder, der den ausländischen Streitkräften in irgendeiner Weise hilft;

h)       Auftragnehmer der afghanischen Regierung;

i)       Auftragnehmer anderer Länder, die gegen die Taliban sind;

j)       Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten;

k)       Personen jeder Art, die die Taliban in irgendeiner Weise für nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erachten, die die Zusammenarbeit verweigern.

Diese Kategorien von Zielpersonen beinhalten eine Reihe von Gruppen, die sich nur schwer genau quantifizieren lassen, aber es dürften mit aller Wahrscheinlichkeit insgesamt mehr als eine Million Menschen sein (die Sicherheitskräfte sind zirka 400.000 bis 450.000 Mann stark, ferner hat die Regierung über 500.000 zivile Mitarbeiter, dazu kommen noch zehntausende von Auftragnehmern).

Anschläge gegen die genannten Personengruppen gibt es seit den Anfängen des Aufstandes (2002). In der Tat war die Ermordung einzelner 'Kollaborateure' 2002-2004, als ihr militärisches Potenzial noch schwach war, die wesentliche Aktivität der Taliban. 2005-2007 begannen die Taliban großangelegte militärische Operationen und die gezielten Morde verloren etwas an Bedeutung. Ab 2007 mussten die Taliban vermehrt Einschüchterungstaktiken anwenden, als sie dem vermehrten militärischen Druck durch die ausländischen Streitkräfte (ISAF) ausgesetzt waren. Eine asymmetrische Taktik sollte die Konsolidierung der Kabuler Regierung verzögern bzw. verhindern.

Mit dem Abzug eines Großteils der ausländischen Streitkräfte im Laufe des Jahres 2014 verschoben sich die Prioritäten für die Taliban wiederum. 2014, als die ausländischen Kräfte kaum noch an den Kampfhandlungen teilnahmen, zeigten die Unterlagen der UNAMA über die zivilen Opfer von gezielten Ermordungen durch die Taliban einen leichten Rückgang um 3,6%, dies war der erste Rückgang seit Beginn der Erhebungen durch die UNAMA 2008. 2015 schnellte die Zahl dann wieder um 10,4% nach oben, 2016 fiel sie stärker als jemals zuvor, um 27,3% (Tabelle 1 unten). Da die Taliban nach übereinstimmenden Berichten zu diesem Zeitpunkt ihre Operationen ausweiteten und weite Gebiete unter ihre Kontrolle brachten, ist dieser Rückgang sicherlich nicht darauf zurückzuführen, dass sie dazu weniger in der Lage gewesen wären, sondern vielmehr auf einen anderen Fokus und eine Änderung der Strategie: man war weniger daran interessiert, die afghanische Regierung zu unterminieren, als daran, sie direkt zu stürzen. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass viele der 'Kollaborateure', die sich schutzlos fühlten, aus diesen gefährdeten Gebieten flohen und die Taliban somit keine leichten Ziele mehr hatten.

Außer den Personen in den oben genannten Kategorien a), d), e) und k) bieten die Taliban allen Personen, die sich 'fehlverhalten' die Chance, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Personen in den Kategorien a), d), e) und k) haben allein schon durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie, Verbrechen begangen, im Gegensatz zu einer Tätigkeit als Auftragnehmer. Dies sehen die Taliban nur dann als Verbrechen an, wenn der Auftragnehmer die Warnungen der Taliban in den Wind schlägt. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperation an die Taliban zu binden. Die Personen der Kategorien b), c), f), g), h), i) und j) können einer ‘Verurteilung’ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlichen ‘feindseligen’ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen.20

b) Regierungsmitarbeiter und Mitarbeiter westlicher Regierungen: Sie können einer Warnung oder Verurteilung vor Erhalt des letzten Drohbriefes entgehen, wenn sie Abgaben zahlen, Informationen liefern und ihre Kollegen für die Taliban ausspionieren, um deren Aktionen gegen die eigenen Arbeitgeber zu unterstützen oder zur Verbesserung der Organisation der Taliban beizutragen.

c) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges: wie b) oben, sie haben aber auch die Option, zu den Taliban überzulaufen und Absichtserklärungen mit den Taliban zu unterzeichnen (als gesamte Einheit), in denen eine im gemeinsamen Interesse liegende Gegenleistung angeboten wird.

f) Kollaborateure der afghanischen Regierung: wie b) oben

g) Kollaborateure des ausländischen Militärs und im militärischen Zusammenhang stehende Unterstützungsleistungen, einschließlich der Mitarbeiter in den Unterkünften: wie b) oben

h) Auftragnehmer der afghanischen Regierung: wie b) oben

i) Auftragnehmer, die für talibanfeindliche Länder tätig sind: wie b) oben

j) Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten: wie b) oben

Die Taliban nennen als ihre wichtigsten Zielpersonen die Offiziere der nationalen Sicherheitsdienste (NDS), Dolmetscher bzw. alle, die für das/mit dem ausländischen Militär und Diplomaten arbeiten. So behaupten die Taliban beispielsweise, dass sie 2015 15 Dolmetscher in Kabul und den umliegenden Vororten getötet hätten und im Jahr 2016 bis Anfang Dezember; es bleibt unklar, ob die Taliban ihre Opfer auch zu Recht als Dolmetscher identifiziert haben. Die Taliban bauschen ihre Erfolge sicherlich auf, indem sie unzutreffende Opferzahlen angeben (insbesondere, wenn Bomben eingesetzt werden). Die meisten Angriffe fanden in den Vororten statt (2016 waren es 17). Die Taliban nehmen natürlich auch Ausländer ins Visier, insbesondere, wenn sie irgendwie an der Bekämpfung des Aufstandes beteiligt sind.

Überall, wo die Taliban vertreten sind, zielten sie von vorne herein insbesondere auf die Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte ab, die sich weigern, den Dienst zu quittieren. Sie übten Druck auf deren Familien aus, um deren Ausscheiden zu erzwingen und drohten Bestrafung an, wenn ihrer Forderung nicht Folge geleistet würde. In einigen Fällen sind sie sogar so weit gegangen, Verwandte hinzurichten. Zumeist waren diese Sicherheitskräfte und ihre Familien schließlich gezwungen, in sicherere, von der Regierung kontrollierte Gebiete umzusiedeln, obwohl die Taliban ihre Ziele teilweise auch dort heimsuchen. Andere, die es sich leisten können, scheiden aus und im Laufe der Jahre sind hunderte hingerichtet worden. Selbst diejenigen, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden.

Allerdings gibt es auch Ausnahmen von diesen allgemeinen Regeln zur Verfolgung von Zielpersonen. Die Mashhad Shura misst den Regierungskollaborateuren nur geringe Priorität zu, stattdessen konzentriert sie sich auf die Kollaborateure mit westlichen Regierungen, mit Daesh und auf Gegenspione sowie auf westliche Staatsangehörige. Die Rasool Shura kooperiert häufig taktisch mit den Sicherheitskräften der afghanischen Regierung und verfolgt die Regierungsmitarbeiter überhaupt nicht. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Jagd nach Eindringlingen von anderen Taliban-Gruppen. Ob aktive Angehörige der Sicherheitskräfte verfolgt werden, hängt auch von taktischen Erwägungen ab: die Mashhad Shura tut dies seit 2015 nicht mehr und in bestimmten Gebieten, in die sie erst kürzlich vorgedrungen sind, fahren die Taliban einen sanfteren Kurs, sie wirken auf die Familien ein, ihre Söhne aus den Sicherheitskräften herauszuholen, jedoch ohne Gewaltandrohung. Somit hängt das Maß der tatsächlichen proaktiven Verfolgung von Angehörigen der Sicherheitskräfte durch die Taliban von taktischen Erwägungen ab.

Im Grunde genommen steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein 'Übeltäter' ist und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können. Diese Details sind wesentlich, denn nach den Regeln der Taliban, muss ein Kollaborateur gewarnt werden und Gelegenheit erhalten, auf den richtigen Weg zurückzukehren, bevor er auf die schwarze Liste gesetzt wird. Damit die Einschüchterungstaktiken der Taliban funktionieren, hängen sie also davon ab, dass ihre Informanten Angaben zu den potenziellen Zielpersonen liefern. Die Taliban behaupten jedoch, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, dass sie regelmäßig Berichte darüber erhalten, wer neu ins Land einreist.

Die Regeln der Taliban

In dem Maße, in dem das System der Taliban Gestalt annahm und ihre Verhaltenskodizes ausgefeilter wurden, wurden auch Regeln eingeführt, die vorschrieben, dass die Taliban Kollaborateure mindestens zweimal warnen mussten, bevor sie gegen sie vorgingen. Dieses Verfahren galt wohl ab 2009 oder 2010. Von der Regel ausgenommen sind lediglich "schlimme Kriminelle", wie führende Persönlichkeiten in der Regierung. Daher gilt folgendes Verfahren für das Vorgehen gegen einen bestimmten Kollaborateur:

1. Person identifizieren;

2. Kontaktdaten herausfinden (Adresse oder Telefonnummer);

3. Person mindestens zweimal warnen;

4. verhören und vor Taliban-Gerichte stellen;

5. Person auf die schwarze Liste setzen, wenn sie sich weigert, den Anordnungen der Taliban Folge zu leisten;

6. Günstige Gelegenheit abwarten, um zuzuschlagen.

Die praktische Durchführung von Abschnitt 6 (s.o.) hängt normalerweise von den Fähigkeiten des lokalen Verfolgungsteams ab, dessen Arbeitsauslastung und dem mit der Vollstreckung des ’Urteils' verbundenen Risiko. Eine geschützte Zielperson bzw. eine in einem Gebiet, das von den Behörden stark bewacht wird, könnte zwar für die Taliban wichtig sein, bei ihrer Liquidierung bestünde aber andererseits auch ein hohes Risiko, dass das Mordkommando die Operation nicht überlebt. Eine weniger wichtige Zielperson, die in einem leicht zugänglichen Gebiet mit guten Fluchtmöglichkeiten wohnt, könnte von den Taliban eher liquidiert werden, als eine bedeutendere, die besser geschützt ist.

Gelegentlich werden auch Familienangehörige zu Zielpersonen; es scheint, dass die Taliban diese Aktionen eingeschränkt haben, nachdem die Polizei und die Miliz als Vergeltungsmaßnahme die Familienangehörigen der Taliban verfolgten.

Die Taliban beobachten alle Fremden, die in den Dörfern und Kleinstädten unter ihrer Kontrolle ankommen genau, genauso wie die Dorfbewohner, die in Gebiete unter Regierungskontrolle reisen. Sie fürchten offensichtlich, ausspioniert zu werden und versuchen, die Rekrutierung von Informanten durch die Regierung zu beschränken. Wer in die Taliban-Gebiete ein- oder ausreist sollte die Reise überzeugend begründen können, möglichst belegt mit Nachweisen über Geschäftsabschlüsse, medizinische Behandlung etc. Wenn die Taliban einen Schuldigen suchen, der für die Regierung spioniert haben soll, ist jeder, der verdächtigt wird, sich an die Behörden gewandt zu haben, in großer Gefahr.

2. Beweiswürdigung

Der festgestellte Sachverhalt stützt sich auf die im Rahmen der Feststellungen jeweils in Klammer angeführten Beweismittel und im Übrigen auf nachstehende Beweiswürdigung:

2.1.1. Die wesentlichen biografischen Feststellungen zum Beschwerdeführer beruhen auf seinen diesbezüglich glaubwürdigen Angaben vor dem Bundesverwaltungsgericht.

2.1.2. Die Feststellungen zur beruflichen Tätigkeit seines Vaters beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers, den vorgelegten Beweismitteln (zwei Videos sowie zwei Fotos), den Aussagen seines Bruders XXXX , einer Internetrecherche sowie der Aussage des Zeugen XXXX (Mann der Tante des Beschwerdeführers):

Zunächst ergab eine Internetrecherche, dass die NGO XXXX tatsächlich existiert. Sie wurde im Jahr 2003 gegründet und unterstützte im Jahr 2005 (finanziell) den Bau einer Schule im Dorf XXXX (https://www.trustineducation.org/). Das Vorbringen des Beschwerdeführers – sein Vater habe von 2003 bis 2013 für die NGO XXXX gearbeitet – ist somit durchaus glaubwürdig, zumal XXXX das Heimatdorf des Beschwerdeführers und seiner Familie ist.

Die vom Beschwerdeführer vorgelegten Videos – die überdies auch auf YouTube abrufbar sind – beschreiben die Arbeit der NGO; insbesondere zeigen sie die in XXXX errichtete Schule. Auf dem ersten Video wird der Vater des Beschwerdeführers kurz gezeigt und auch namentlich genannt. Auf dem zweiten Video ist er – neben dem Gründer der NGO XXXX – erkennbar und es ist ersichtlich, wie beide Kleidung und Spielsachen an Kinder verteilen. Die vom Beschwerdeführer vorgelegten Fotos (AS 179 und AS 181) zeigen ebenfalls seinen Vater bei der Arbeit für die NGO; auf Foto auf AS 181 ist erkennbar, wie sein Vater gemeinsam mit XXXX ein Hilfspaket verteilt.

Sofern das BFA Zweifel an der Echtheit der vorgelegten Beweismittel hegt ist festzuhalten, dass die vorgelegten Videos ebenso auf einer öffentlichen Internetplattform (YouTube) abrufbar sind und im Jahr 2007 bzw. im Jahr 2011 hochgeladen wurden. Ein Zusammenhang mit der Asylantragstellung ist somit – zumindest in zeitlicher Hinsicht – auszuschließen. Zudem gibt es keine Anhaltspunkte, inwiefern dem Beschwerdeführer hier eine Fälschung der Videos hätte möglich sein sollen, zumal das zweite Video erkennbar von der NGO selbst hochgeladen wurde (https://www.youtube.com/watch?v=Uflr10cr8-M, https://www.youtube.com/channel/UClzL3ZS5OY4LlKI3JCmq6fQ).

Auch bei den vorgelegten Fotos ist von keiner Fälschung auszugehen, zumal auf dem zweiten Foto neben dem Vater des Beschwerdeführers auch der Gründer der NGO XXXX erkennbar ist; dass es sich dabei tatsächlich um XXXX handelt, ist – nach Abgleichen mit diversen anderen im Internet auffindbaren Fotos – mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen (https://www.trustineducation.org/about/board-staff/, https://www.google.at/search?q=Budd+McKenzie&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwjm-sOXk9jvAhWChP0HHRa_AbEQ_AUoAXoECAEQAw&biw=1452&bih=829).

Zudem wurden dem Zeugen XXXX , der den Vater des Beschwerdeführers vor vielen Jahren in Pakistan kennen gelernt hatte, mehrere Fotos des Vaters gezeigt und der Zeuge konnte bei Foto 4 (AS 181), auf welchem insgesamt sechs Männer abgebildet waren, unter anderen der Vater des Beschwerdeführers, der mit dem Gründer XXXX ein Hilfspaket verteilte, die Identifizierung der Vaters des Beschwerdeführers auf zwei der unscharf abgebildeten Männer einschränken. Bei einem dieser Männer handelte es sich tatsächlich um den Vater des Beschwerdeführers. Somit ist davon auszugehen, dass der Zeuge den Vater des Beschwerdeführers kannte.

Da somit das Vorbringen des Beschwerdeführers, sein Vater habe von 2003 bis 2013 für die NGO gearbeitet und beim Bau einer Schule in XXXX mitgewirkt, im Hinblick auf die Ergebnisse der Internetrecherche glaubwürdig erscheint, die vorgelegten Fotos und Videos die Tatsachenrichtigkeit des Vorbringens bestärken, der Bruder XXXX im parallellaufenden Asylverfahren diesbezüglich übereinstimmende Angaben machte und es auch dem Zeugen XXXX (mit Einschränkungen) möglich war, den Vater des Beschwerdeführers auf einem Foto zu identifizieren, ist es insgesamt glaubwürdig, dass der Vater des Beschwerdeführers von 2003 bis 2013 für die amerikanische NGO XXXX als Projektleiter und Dolmetscher tätig war.

2.1.3. Ebenso ist glaubwürdig, dass der Vater des Beschwerdeführers von 2013 bis 2015 als Staatsanwalt für die afghanische Regierung arbeitete: Der Beschwerdeführer tätigte im Verfahren diesbezüglich gleichbleibende und widerspruchsfreie Angaben, die sich überdies mit den Aussagen seines Bruders XXXX im parallellaufenden Asylverfahren decken. Weiters legte er ein „Lobschreiben“ des Bevölkerungsrates des Distriktes XXXX (AS 197 [inkl. Übersetzung auf AS 203]) vor, in dem seinem Vater für seine erbrachten Leistungen gedankt wurde. Anhaltspunkte an der Richtigkeit der diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers bzw. an der Echtheit des vorgelegten Lobschreibens zu zweifeln gab es für das Gericht nicht.

2.1.4. Weiters konnte der Beschwerdeführer glaubhaft machen, dass seine Familie aufgrund der Tätigkeiten seines Vaters Bedrohungen durch die Taliban ausgesetzt war und sein Vater eines Abends von den Taliban entführt wurde:

Zunächst schilderte der Beschwerdeführer die diesbezüglichen Geschehnisse im gesamten Asylverfahren im Großen und Ganzen gleichbleibend und widerspruchsfrei:

Bei der Erstbefragung gab er als Fluchtgrund an, die Taliban hätten gewollt, dass sie mit ihnen arbeiten, sein Vater habe dies jedoch nicht „akzeptiert“ und sei eines Tages von den Taliban entführt worden. Die Taliban hätten seiner Familie ein Bild geschickt, auf dem erkennbar gewesen sei, dass sein Vater von den Taliban gefoltert worden sei; die Taliban hätten verlangt, dass sein Bruder und er ihnen beitreten; ansonsten würde ihr Vater umgebracht werden.

In der Einvernahme vor dem BFA präzisierte der Beschwerdeführer sein Vorbringen dahingehend, dass er ausführte, dass sein Vater für eine amerikanische NGO sowie als Staatsanwalt für die afghanische Regierung gearbeitet habe und schilderte detailreich die Geschehnisse am Abend der Entführung.

Es ist nicht als Steigerung zu werten, dass der Beschwerdeführer nicht bereits in der Erstbefragung die beruflichen Tätigkeiten seines Vaters erwähnte, zumal die Erstbefragung der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Asylwerbers dient und sich grundsätzlich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat (vgl. VwGH 16.07.2020, Ra 2019/19/0419). Zudem kann das Vorbringen des Beschwerdeführers, die Taliban hätten gewollt, dass sie mit ihnen arbeiten und sein Vater dies nicht „akzeptiert“ habe, durchaus auch als „Eckpunkt“ seiner in Folge in der Einvernahme näher geschilderten Fluchtgründe angesehen werden. Von einer Steigerung des Fluchtvorbringens ist demnach nicht auszugehen.

Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG schilderte der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe im Wesentlichen gleichbleibend und in sich schlüssig: Er schilderte die Entführung seines Vaters detailreich und – insbesondere unter Berücksichtigung seiner Angaben vor dem BFA – widerspruchsfrei.

Auch im Hinblick auf die Länderberichte erscheint sein Vorbringen überaus plausibel: Mitarbeiter „westlicher“ Regierungen sowie afghanische Regierungsmitarbeiter geraten regelmäßig ins Visier der Taliban. Dolmetscher ausländischer Regierungen sind sogar einer der wichtigsten Zielpersonen der Taliban. Der Vater des Beschwerdeführers – als ehemaliger Mitarbeiter (und auch Dolmetscher) einer amerikanischen NGO sowie als Staatsanwalt der afghanischen Regierung – fällt somit aufgrund seiner beruflichen Tätigkeiten zweifach ins Visier der Taliban. Dass die Taliban demnach ein solch großes Interesse an ihm hatten, dass sie ihn und seine Familie bedrohten und seinen Vater eines Abends entführten, ist überaus glaubwürdig. Zudem findet auch die vom Beschwerdeführer geschilderte Vorgehensweise der Taliban in den Länderberichten Deckung: So wird eine Person, die ins Visier der Taliban gerät, in der Regel zunächst zweimal ermahnt und aufgefordert, die nicht im Interesse der Taliban gelegene Aktivität einzustellen. Erst bei einer diesbezüglichen Weigerung wird sie auf die schwarze Liste der Taliban gesetzt und in Folge gewaltsam verfolgt oder getötet. Der Beschwerdeführer gab hierzu an, dass sein Vater bzw. seine Familie bereits vor der Entführung seines Vaters von den Taliban mehrmals bedroht bzw. ermahnt worden sei und sie aufgefordert worden wären, für die Taliban zu arbeiten. Die vom Beschwerdeführer geschilderte Vorgehensweise deckt sich somit mit der Berichtslage.

Sofern diverse Unschärfen im Verfahren hervorkamen bzw. der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe im Laufe des Verfahrens „ausbaute“, sind diese nicht als seine Glaubwürdigkeit absprechende Widersprüche bzw. als wesentliche Steigerung seines Fluchtvorbringens zu werten:

Der Beschwerdeführer brachte in seiner Zeugeneinvernahme im Asylverfahren seines Bruders XXXX im Jahr 2019 erstmals vor, dass die Entführung seines Vaters – neben dessen beruflicher Tätigkeit – auch im Zusammenhang mit einer „Todfeindschaft“ seiner Familie mit der Familie eines Kommandanten namens XXXX stehe und diese verfeindete Familie mit der Person, die seinen Vater entführt habe, zusammenarbeite. Er habe von dieser Feindschaft über seinen Onkel ms., der in XXXX wohne, bzw. über seinen Onkel vs., der in den USA lebe, im Laufe seines Aufenthaltes in Österreich erfahren.

Es ist durchaus glaubwürdig, dass der Beschwerdeführer erst später – im Laufe seines Asylverfahrens in Österreich – von der Familienfeindschaft erfahren habe, zumal er bei seiner Ausreise aus Afghanistan erst 16 Jahre alt gewesen war. Dass ihm seine Familie – insbesondere sein Vater – von dieser Feindschaft nicht bereits in Afghanistan erzählt hat, ist angesichts seines damaligen Alters durchaus nachvollziehbar. Eine grobe Steigerung ist in seinem Vorbringen dadurch nicht zu erblicken.

Zu den Widersprüchlichkeiten zwischen den Aussagen des Beschwerdeführers und seinem Bruder ist Folgendes festzuhalten: Angesichts der damaligen Stresssituation und der Tatsache, dass die Vorfälle mittlerweile mehr als fünf Jahre zurückliegen, kann in den leicht widersprüchlichen Aussagen des Beschwerdeführers und seinem Bruder betreffend die Dauer des Versteckthaltens während der Entführung des Vaters – der Beschwerdeführer gab an, sie hätten sich zwei Stunden im Garten versteckt, und sein Bruder XXXX führte aus, sie hätten sich eineinhalb Stunden im Garten versteckt – wohl kaum eine wesentliche Divergenz erblickt werden. Ebenso konnten in den Angaben des Beschwerdeführers und seines Bruders betreffend die Anzahl der Taliban, die beim Vorfall anwesend waren bzw. in ihr Haus eingedrungen seien, keine Widersprüchlichkeiten geortet werden: Beide gaben übereinstimmend an, dass es „viele“ gewesen seien (der Beschwerdeführer wisse nicht mehr wie viele und sein Bruder vermute, dass es um die zehn gewesen seien) und von diesen drei bis vier auch ins Haus eingedrungen seien und nach ihrem Vater gesucht hätten. Widersprüche konnten in den diesbezüglichen Aussagen nicht erblickt werden.

Im Hinblick auf das Asylverfahren des Bruders des Beschwerdeführers und dessen Aussagen ist im Wesentlichen festzuhalten, dass sich dessen Angaben im Großen und Ganzen mit den Angaben des Beschwerdeführers decken und das Gericht keine groben und wesentlichen Widersprüchlichkeiten orten konnte.

Sofern das BFA in den Aussagen der Brüder diverse Divergenzen erblickte, konnte der Beschwerdeführer diese nachvollziehbar aufklären: Dass er – als älterer Bruder – mit seiner Mutter und seinem Onkel in Afghanistan telefonisch in Kontakt war und sein Bruder Nadeem seine Informationen – beispielsweise über den Verbleib ihrer Mutter sowie der jüngeren Geschwister – nur „indirekt“ über ihn bezog und er seinem jüngeren Brüder diesbezüglich nicht jedes Detail mitteilte, erscheint angesichts des Alters des jüngeren Bruders XXXX (bei der Einreise erst 15 Jahre alt) durchaus glaubwürdig. Dass sein Bruder XXXX somit nicht wusste, dass ihre Mutter von den Taliban – neben den Fotos des Vaters – auch einen Drohbrief erhalten habe, weil der Beschwerdeführer ihm dies nicht erzählt habe, erscheint durchaus plausibel.

Im Ergebnis konnte der Beschwerdeführer demnach glaubhaft machen, dass er und seine Familie aufgrund der beruflichen Tätigkeiten seines Vaters Bedrohungen durch die Taliban ausgesetzt war und sein Vater eines Abends von den Taliban entführt wurde. Es ist glaubwürdig, dass sein Vater zehn Jahre für eine amerikanische NGO arbeitete sowie zwei Jahre als Staatsanwalt für die afghanische Regierung tätig war. Es ist demnach – im Hinblick auf die Länderberichte – auch glaubhaft, dass sein Vater ins Blickfeld der Taliban geriet und die Taliban seinen Vater eines Abends zusammenschlugen und entführten. Aufgrund des (zweifachen) Interesses der Taliban an seinem Vater und dessen durchaus hohen Positionen bei beiden Tätigkeiten – Projektleiter sowie Dolmetscher bei der NGO sowie Staatsanwalt für die afghanische Regierung – ist es auch glaubhaft, dass der Beschwerdeführer und sein Bruder XXXX ebenso ins Visier der Taliban gerieten, zumal Familienangehörige laut den Länderberichten ebenfalls einer Verfolgung ausgesetzt sein können. Dass ihre Mutter und die jüngeren Geschwister, die sich zum damaligen Zeitpunkt noch im Kindesalter befanden, während der Entführung unversehrt blieben, erscheint – da die Taliban laut Berichten grundsätzlich weder an Frauen noch an Kindern ein besonderes Interesse haben – ebenso plausibel. Laut den Länderberichten ist es den Taliban grundsätzlich möglich eine Person überall in Afghanistan ausfindig zu machen – auch in Regionen, die unter Regierungskontrolle stehen (wie beispielsweise in der Stadt Mazar-e Sharif). Ob sie eine Person dort dann auch tatsächlich verfolgen, hängt von der Wichtigkeit der Zielperson ab. Aufgrund der von den Taliban bereits gesetzten Verfolgungshandlungen – Entführung des Vaters sowie Zusendung zweier Fotos und eines Drohbriefes – und der Tatsache, dass laut den Länderberichten Dolmetscher westlicher Regierungen einer der wichtigsten Zielpersonen der Taliban sind, kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer – als Sohn eines ehemaligen Dolmetschers und Projektleiters einer amerikanischen NGO sowie eines ehemaligen Staatsanwaltes – bei einer Rückkehr keiner landesweiten Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt wäre. Es ist demnach glaubhaft, dass für den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine landesweite Verfolgungsgefahr durch die Taliban besteht.

2.2. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den genannten (im Rahmen der mündlichen Verhandlung eingeführten) Quellen, die schon das BFA (zum Teil) seinem Bescheid zugrunde legte und die im Wesentlichen inhaltsgleich blieben. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, denen auch die Parteien nicht entgegentraten, besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1 Zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt A)

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Verfolgung ist gemäß § 2 Abs. 11 AsylG jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie. Nach Art. 9 der Statusrichtlinie muss eine Verfolgungshandlung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.

Unter anderem können als Verfolgung folgende Handlungen gelten:

- Anwendung physischer oder psychischer, einschließlich sexueller Gewalt,

- gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder diskriminierend angewandt werden,

- unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,

- Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,

- Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 2 fallen und

- Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

3.1.2. Der Beschwerdeführer konnte glaubhaft machen, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine asylrelevante Verfolgung droht:

Wie festgestellt, besteht für den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der beruflichen Tätigkeiten seines Vaters eine landesweite, von den Taliban ausgehende, Verfolgungsgefahr. Aufgrund der Arbeit seines Vaters für eine amerikanische NGO sowie seiner Tätigkeit als Staatsanwalt für die afghanische Regierung würde dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan durch die Taliban eine politisch-oppositionelle Gesinnung unterstellt werden. Zwar handelt es sich dabei um keine staatliche bzw. von der afghanischen Regierung ausgehende Verfolgung, jedoch kann auch eine von privaten Personen und Gruppierungen – somit auch von den Taliban – ausgehende Verfolgung asylrechtlich Relevanz zukommen, sofern der Staat nicht in der Lage oder gewillt ist, Schutz gewähren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehen in Afghanistan weder ein ausreichend funktionierender Polizei-, noch ein funktionierender Justizapparat bzw. sind staatliche Akteure aller drei Gewalten häufig nicht in der Lage, vor Bedrohungen durch die Taliban zu schützen.

Weiters erreicht die von den Taliban ausgehende Verfolgungsgefahr die asylrechtlich notwendige Schwelle des § 2 Abs. 11 AsylG: Wie sich aus den Länderberichten ergibt werden Personen, die sich auf der schwarzen Liste der Taliban befinden, zum Teil auf die Abschussliste der Taliban gesetzt und in Folge gezielt getötet. Beim Beschwerdeführer ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er sich aufgrund seines Vaters ebenfalls auf dieser Liste befindet und für ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Gefahr bestünde, durch die Taliban gezielt getötet zu werden. Die von den Taliban ausgehende Verfolgungsgefahr erreicht demnach die asylrechtlich relevante Schwelle des § 2 Abs. 11 AsylG.

Wie bereits ausgeführt, ist der afghanische Staat aufgrund des zum gegenwärtigen Zeitpunktes nicht hinreichend funktionierenden Polizei- und Justizapparats nicht in der Lage, vor Bedrohungen der Taliban hinreichend Schutz zu leisten, weshalb für den Beschwerdeführer auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 AsylG besteht.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten liegen demnach vor: Es ist glaubhaft, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund einer ihm unterstellten politischen Gesinnung, und somit aufgrund eines in der GFK angeführten Grundes, eine lebensbedrohliche – und somit asylrelevante – Verfolgung droht, weshalb der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides stattzugeben war und dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen war.

3.2. Zur Unzulässigkeit der Revision (Spruchpunkt B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG ni

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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