TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/29 W177 2207375-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.04.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

29.04.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W177 2207375-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die NOAH Sozialbetriebe gemeinnützige GmbH, 4072 Alkoven, Anton-Strauch-Alle 1, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz, vom 29.08.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom 20.11.2020 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 15.12.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 15.12.2017 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers nach dem AsylG 2005 statt. Der Beschwerdeführer gab an, afghanischer Staatsangehöriger zu sein und bis 2013 im Iran gelebt zu haben. Danach habe er sich zwei Jahre lang in der Provinz Kunduz aufgehalten. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. Seine Muttersprache sei Dari. Er habe im Iran fünf Jahre eine Grundschule besucht. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern, sein Bruder und seine fünf Schwestern würden noch in Afghanistan leben. Den Entschluss zum Verlassen seines Herkunftsstaates habe er bereits 2013 gefasst, nach dem er aus dem Iran abgeschoben worden sei. Als Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, dass er Afghanistan verlassen habe, weil es ein unsicheres Land sei. Er habe in Kunduz gelebt, wo es Krieg gebe. Er habe keine weiteren Gründe einer Antragstellung. Im Falle seiner Rückkehr hätte er persönlich mit keinen Sanktionen zu rechnen, jedoch würden dort junge Leute umgebracht werden, weil sie sich nicht den Taliban anschließen würden.

3. Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr kurz „BFA“) am 19.07.2018 gab der Beschwerdeführer an, gesund zu sein. Er könne keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen, werde sich aber bemühen, eine Kopie seiner Tazkira vorlegen zu können. Er sei 15 Jahre alt und sein Geburtsdatum sei mit XXXX festgelegt worden. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit und Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. Er sei im Iran geboren worden, habe dort bis zu seinem zehnten Lebensjahr gelebt und fünf Jahre eine Schule besucht. Danach sei er mit seiner Familie nach Afghanistan abgeschoben worden. Dort habe er sich in Kunduz aufhalten und seinem Vater in der Landwirtschaft und in einem Lebensmittelgeschäft geholfen. Ein Jahr sei er dort auch in einer Schule gewesen. Nach zwei Jahren habe er Afghanistan in Richtung Pakistan verlassen und sei in der Folge nach Europa weitergezogen. Dies sei im Oktober 2016 gewesen. Sein Vater habe diese schlepperunterstützte Reise finanziert. Er sei ledig und habe keiner Kinder. Seine Verwandten, mit denen er regelmäßig in Kontakt sei, würden wieder in den Iran zurückwollen und seien deshalb auch in die Provinz Nimrouz gezogen, die sich nahe dem Iran befinden würde. Sonstige Verwandte würden allesamt im Iran leben. Er sei nirgendwo vorbestraft und habe in seinem Heimatland auch keine Probleme mit den staatlichen Behörden gehabt. Von diesen werde er weder gesucht noch sei von diesem festgenommen worden. Er sei auch nicht wegen seiner politischen Gesinnung, seiner Religion, seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt worden.

Sein Heimatland habe er verlassen, weil die Taliban sein Heimatdorf angegriffen hätten. Bei diesem Angriff sei der Cousin seines Vaters getötet worden, weil er Polizist gewesen sei. Die Taliban hätten es nicht erlaubt, dass dieser Cousin seines Vaters begraben werde, jedoch habe sich sein Vater widersetzt und ihn dennoch begraben. Seither seien sein Vater, dessen Bruder sowie dessen Frau mit den Taliban verfeindet. Die Taliban hätten es auch nicht erlaubt, dass seine Schwestern eine Schule besuchen dürfen und sie hätten auch verlangt, das Geschäft seines Vaters während der Gebetszeiten zu schließen. Die Taliban hätten sich im Laden auch selbstbedient und nichts gezahlt. Auf Beschwerde seines Vaters sei dieser von den Taliban verprügelt worden. Er selbst habe ihnen gesagt, dass er am Freitag nicht beten wolle. Damals sei er noch jung gewesen und ihm wäre daher nichts passiert. Heute würde ihn diese Aussage in Gefahr bringen. Er sehe in diesem Vorbringen zum damaligen Zeitpunkt weder eine Straftat noch eine Verfolgung wegen seiner politischen Gesinnung. Er sei nie für eine politische Partei eingetreten. Eine Verfolgung aus religiösen Gründen sehe er darin auch nicht. Religion sei für ihn nicht wichtig und er habe noch nie freiwillig gebetet oder diese ausgeübt. In Afghanistan könne er keine Fortschritte machen, deswegen sei er auch geflohen. Auch wegen der Taliban, die in seiner Heimatprovinz leben würden. Auf Vorhalt, dass seine Familie bereits umgezogen wäre und er sich auch in einer anderen Provinz niederlassen hätte können, führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Vater einfach in Probleme gerate, weil er sich schnell provozieren lasse. Außerdem wolle seine Familie sich nicht in einer anderen Provinz niederlassen. Eventuell habe seine Familie diesen Ort auch schon wieder verlassen. Im Falle seiner Rückkehr habe er nur Ortskenntnis von Kunduz und nirgendwo sonst in Afghanistan ein soziales Netz. Ebenso könne er sich nicht mit der dortigen Kultur anfreunden. Er wolle nicht zum Beten gezwungen und von den Taliban mitgenommen werden.

Er selbst sei von den Taliban nicht persönlich bedroht worden, jedoch habe sein Vater Schwierigkeiten mit den Taliban gehabt. Dieser müsse jetzt immer übersiedeln und halte sich nie länger an einem Ort auf.

In Österreich lebe er von der Grundversorgung und arbeite noch nicht. Er lerne fleißig die deutsche Sprache. Er habe viele Freunde, mit denen er die Freizeit verbringen würde. Eine Freundin habe er nicht. Er sei weder Mitglied in einem Verein noch ehrenamtlich tätig gewesen, zumal er sich mit der Schule beschäftigt habe. In seiner Ortschaft habe der Mullah die Herrschaft innegehabt, auch wenn die Taliban dort gewesen wären. Kultur beschrieb er dahingehend, dass man eine schlimme Tat nicht begehen solle oder man eine Beschwerde nur auf ein begründetes Recht berufen solle.

4. Ein nach einer Untersuchung am 31.07.2018 erstelltes medizinisches Sachverständigengutachten ergab, dass seitens des Beschwerdeführers noch eine Minderjährigkeit angenommen werden könne und das angegebene Geburtsdatum auch plausibel sei und er daher mit 15.05.2021 volljährig werden würde.

5. In einer seitens seiner gesetzlichen Vertretung am 05.08.2018 ergangenen Stellungnahme wurde darauf hingewiesen, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund seiner Minderjährigkeit noch nicht bewusst gewesen sei, dass er Statements getätigt habe, die eine Verfolgung aus politischen und religiösen Gründen nach sich ziehen würden. Außerdem habe er deswegen auch nicht die Begriffe „Kultur“ und „Politik“ richtig erfassen können. Da der Beschwerdeführer alleine nach Österreich gekommen sei, könne davon ausgegangen werden, dass er sich schnell an die österreichischen Werte gewöhnen werde, zumal er sich in einer sehr prägenden Entwicklungsphase befinden würde.

6. Mit Bescheid vom 29.08.2018 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 29.08.2019 erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst aus, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers keine konkrete bzw. keine konkret den Beschwerdeführer betreffende Verfolgungshandlung beinhaltet habe. Er habe sich lediglich auf Vorfälle in seiner Heimatprovinz berufen, weshalb eine landesweite Verfolgung zu verneinen gewesen sei. Auf konkrete Nachfrage habe der Beschwerdeführer auch vermeint, dass er niemals persönlich bedroht oder verfolgt worden sei. Es sei daher der Eindruck entstanden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan nicht bedroht oder verfolgt werde, sondern dieser aufgrund einer Ausbildung nach Europa geflohen sei. Der Beschwerdeführer sei zwar im Iran geboren worden, jedoch sei er in einem afghanischen Umfeld sozialisiert worden und habe auch zwei Jahre in Afghanistan verbracht. Allerdings würde seine Minderjährigkeit derzeit gegen eine Rückkehr in sein Heimatland sprechen. Es würden daher beim Beschwerdeführer subjektive Umstände vorliegen, die annehmen ließen, dass dieser auch bei einer Rückkehr in eine als relativ sicher gesehenen Region Afghanistans in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.

7. Mit Verfahrensanordnung vom 30.08.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

8. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, durch seine gesetzliche Vertretung, mit Schreiben vom 04.10.2018 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin wurde unter anderem festgehalten, dass der Beschwerdeführer das Fluchtvorbringen glaubwürdig und nachvollziehbar geschildert habe. Er sei vom Islam abgefallen und deswegen in seinem Herkunftsstaat einer asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt, die sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen würde. Bezüglich seiner vorgebrachten Apostasie müsse eine authentische, innere und aktuelle Intensität ermittelt werden. In seinem Vorbringen hätte berücksichtigt werden müssen, dass der Beschwerdeführer minderjährig sei und er die Begrifflichkeiten einer politisch und religiösen Verfolgung nicht auf sein Vorbringen antizipieren habe können. Er habe aber dargelegt, dass er durch diese Handlungen nicht gewillt sei, sich den religiösen und politischen Gegebenheiten seines Herkunftsstaates anzupassen und sich seine Ansichten trotz seines jungen Alters bereits verfestigt hätten.

9. Mit Schreiben vom 09.10.2018 legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht gegenständliche Beschwerde samt Verfahrensakt vor und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

10. Mit Schreiben vom 15.10.2018 teilte die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers mit, dass sich seine Familie wieder im Iran befinden würde und er in Kontakt zu dieser stehe. Ebenfalls wurden Identitätsnachweise seiner Familienangehörigen in Kopie beigefügt.

11. Mit Schreiben vom 19.10.2018 legte die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers den Obsorgebeschluss eines Bezirksgerichtes vor. Eine Betreuungsvereinbarung würde mit Schriftsatz vom 24.09.2019 vorgelegt.

12. In einer seitens des Beschwerdeführers am 02.07.2019 verfassten Stellungnahme führte dieser aus, dass er weiterhin Deutsch lerne und Theater spiele. Er sei aber von seinem bisherigen Standort in eine andere Stadt verlegt worden und durch einhergehende Betreuerwechsel sehr unzufrieden. Durch die nicht zufriedenstellende Betreuung seien Konflikte entstanden und der Beschwerdeführer habe auch viele Prüfungen an der Schule nicht mehr geschafft.

13. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 19.05.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W199 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.

14. Mit Schreiben vom 18.11.2020 wurden seitens der gesetzlichen Vertretung des Beschwerdeführers zahlreiche integrationsbegründende Unterlagen des Beschwerdeführers vorgelegt.

15. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.11.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer, seine gesetzliche Vertretung und eine Vertrauensperson persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an dieser Verhandlung, mit Schreiben vom 13.11.2020 entschuldigt, nicht teil.

Der Beschwerdeführer gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nachdem die Parteien auf das Verlesen der Aktenteile verzichteten, erklärte der erkennende Richter diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift. Es erfolgte die Erörterung einer vorläufigen Beurteilung der politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat, die auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, der aktuellen EASO Guidance und der aktuellen UNHCR-Richtlinie basiere. Diese erfolgte auch unter der Berücksichtigung von COVID-19.

Der Beschwerdeführer gab an, dass er keine Religionszugehörigkeit habe. Er vermeinte, dass die bisher im Verfahren getätigten Angaben der Wahrheit entsprochen hätten und er diesbezüglich keine Ergänzungen und nichts zu korrigieren habe. Zu seiner im Iran lebenden Familie habe er regelmäßigen Kontakt.

Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage führte der Beschwerdeführer aus, dass es in Afghanistan große Unterschiede zwischen Männern und Frauen gäbe. Sowohl im Iran als auch in Afghanistan habe er Moslem sein müssen, jedoch lehne er diese Religion aus unterschiedlichen Gründen ab. Es gäbe keine Freiheit und gute Sachen wären dort verboten. Neben dem Unterschied zwischen Männern und Frauen würde dieses System auch noch die Korruption und den Machterhalt begünstigen. Er lehne alle Religionen ab, weil es keinen Gott geben würde. Auch wenn es Personen gäbe, die an Gott glauben, habe er sich selbst gefragt, warum dies so sei. Er sei hierbei aber zu keinem Ergebnis gekommen. Es würden Terroranschläge gemacht werden, um ins Paradies zu kommen. Dies könne es aber nicht geben, weil es keinen Gott geben würde. Gesellschaftliche Regeln und Gesetze seien notwendig. Warum sollten jedoch diese religiösen Gesetze, die vor tausenden von Jahren geschaffen worden wären, heute noch akzeptiert werden. Er sei gegen religiöse Regeln und meine, dass der Staat eigene Gesetze und Regeln haben müsse. Es gebe aber ein Problem, dass sich die Gesellschaften bzw. die Einwohner keine Regeln auflegen können. Dies würden daher die Mullahs machen. Er sehe eine Trennung von Staat und Religion und eine freie Religionswahl als sehr wichtig an.

Abseits der Religion sei die Gleichbehandlung sehr wichtig. Frauen müssten daher die gleichen Rechte haben. Politik sei in der idealen Gesellschaft wichtig, jedoch interessiere er sich nicht dafür. Religion dürfe in dieser jedoch keine Macht haben, Rassismus ebenfalls. Gerechtigkeit, in Form von Gewährung derselben Rechte für alle, sei ebenfalls wichtig.

Im Iran habe er nur gebetet, wenn er dazu gezwungen worden wäre. Sein Vater hätte manchmal gewollt, dass er am Freitagsgebet teilnehme, jedoch sei seine Familie nicht streng religiös gewesen. Er habe es im Iran aber auch nicht gutgefunden, dass die Religion den Staat regiert habe. Jedoch sei er damals sehr jung gewesen und habe sich damals keine Gedanken darübergemacht. Über andere Weltanschauungen mache er sich keine Gedanken, weil er sich lieber auf die Schule fokussiere.

Zu Afghanistan habe er kaum Bezug. Seine Heimatregion sei Kunduz und dort habe seine Familie Probleme gehabt. Dort würde er sich nicht sicher fühlen und an anderen Orten habe er kein soziales Netz. Außerdem würde er wegen seiner religiösen Einstellung dort große Probleme haben. Was ihm genau passieren könne, wisse er nicht, jedoch hätten die Taliban das Sagen und daher könne in Afghanistan alles passieren. Auf den Vorhalt, dass die Taliban in manchen Teilen des Landes keine Macht hätten, meinte der Beschwerdeführer ausweichend, dass die Taliban ihn entweder töten oder entführen würden. Er würde sich im Falle seiner Rückkehr jedenfalls Angst seine Einstellung nicht kundmachen. Der Beschwerdeführervertreter vermeinte daraufhin, dass der Beschwerdeführer bereits vor dem BFA angeführt habe, dass er gegenüber den Taliban das Beten verweigert habe. Ebenfalls wurde ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vorgelegt. Dies würden seine westliche Geisteshaltung und die Abkehr vom Islam ebenfalls offensichtlich machen. Eine Rückkehr zu den afghanischen Sitten und Gebräuchen wäre für den Beschwerdeführer noch einmal schwerer, weil er sich hier in einem künstlerisch geprägten Umfeld aufhalten würde.

Danach folgte der Schluss der Verhandlung, wobei die Verkündung einer Entscheidung gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel.

16. Am 08.01.2021 legte der Beschwerdeführer einen ergänzenden Schriftsatz und ein Konvolut an Unterlagen, bestehend aus Empfehlungsschreiben und einer Austrittserklärung aus der islamischen Religionsgemeinschaft, vor. Darin wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer bald volljährig werde und sich seine Einstellung zur westlichen Lebensweise und zur Abkehr vom Islam gefestigt hätte.

17. Der Beschwerdeführer legt im Verlauf des Verfahrens folgende Unterlagen vor:

?        Stundenplan einer Schulklasse

?        Teilnahmebestätigungen an diversen Deutschkursen

?        Identitätsnachweise der Familienangehörigen in Kopie

?        Obsorgebeschluss

?        Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung

?        Schulbesuchsbestätigung

?        Teilnahmebestätigungen an einem Theaterprojekt

?        Zahlreiche Unterstützung- und Empfehlungsschreiben

?        Bestätigungen einer Theatergruppe samt Lichtbildern die den Beschwerdeführer beim Theaterspielen zeigen

?        Austrittsbestätigung aus der islamischen Glaubensgemeinschaft

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und wurde als Moslem sunnitischer Glaubensrichtung geboren. Der Beschwerdeführer wurde im Iran geboren, wo er bis zu seinem zehnten Lebensjahr aufhältig gewesen ist und fünf Jahre in die Schule ging. Danach hat er zwei Jahre in der Provinz Kunduz gelebt. Dort besuchte er ein Jahr die Schule und sammelte Arbeitserfahrung als Verkäufer und in der Landwirtschaft. Der Beschwerdeführer reiste danach aus Afghanistan aus und gelangte in der Folge im Laufe des Jahres 2017 nach Europa, wo er in Österreich, wo er unter Umgehung der Grenzkontrollen am 15.12.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Die Familienangehörigen des Beschwerdeführers, bestehend aus seinen Eltern, seinem Bruder sowie seinen fünf Schwestern, halten sich allesamt im Iran auf. In Afghanistan hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt zu sonstigen Verwandten oder Bekannten.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wuchs im Iran und in Afghanistan als sunnitischer Muslim in einem nicht sehr religiösen Elternhaus auf. Er ging nur selten in Moschee und betete nur, wenn er dazu gezwungen wurde. Er lehnte es bereits in Afghanistan ab, die islamischen Sitten und Gebräuche zu befolgen. Er lehnt alle Religionen ab und glaubt nicht an Gott. Er ist gegen religiöse Regeln und der Ansicht, dass der Staat eigene Gesetze und Regeln haben muss. Eine Trennung von Staat und Religion und eine freie Religionswahl sieht er als sehr wichtig an.

Abseits der Religion ist die Gleichbehandlung für ihn sehr wichtig. Die Demokratie ist für ihn auch ein wesentlicher Grundpfeiler in einer aufgeklärten Gesellschaft. Religion und Rassismus hätten in dieser keine Macht. Gerechtigkeit, in Form von Gewährung derselben Rechte für alle, ist in einer solchen ebenfalls wichtig.

Der Beschwerdeführer hat sich während seines Aufenthaltes in Österreich aus tiefer, freier und persönlicher Überzeugung endgültig vom islamischen Glauben abgewandt. Diese Abwendung ist mit einer Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit in identitätsstiftender Weise vollzogen worden. Es ist nicht anzunehmen, dass der Beschwerdeführer seinen Abfall vom islamischen Glauben in seinem Herkunftsstaat Afghanistan verleugnen würde bzw. verleugnen könnte.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines Abfalles vom islamischen Glauben physische und/oder psychische Gewalt.

Dem Beschwerdeführer steht als vom Islam Abgefallenen keine innerstaatliche Fluchtalternative offen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich aktuell strafgerichtlich unbescholten.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung wegen der bloßen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tadschiken ausgesetzt ist.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 (in der aktuellen Fassung vom 21.07.2020, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Stand 21.7.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020)

.

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

In der Provinz Daikundi gibt es ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Es gibt jedoch keine Auswertungsmöglichkeiten für COVID-19-Tests – es werden Proben entnommen und zur Laboruntersuchung nach Kabul gebracht. Es dauert Tage, bis ihre Ergebnisse von Kabul nach Daikundi gebracht werden. Es gibt Berichte, dass 90 Prozent der Menschen in Daikundi unter der Armutsgrenze leben und dass etwa 60 Prozent der Menschen in der Provinz stark von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Samangan gibt es ebenso ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Wie auch in der Provinz Daikundi müssen Proben nach Kabul zur Testung geschickt werden. Eine unzureichende Wasserversorgung ist eine der größten Herausforderungen für die Bevölkerung. Nur 20 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser (RA KBL 16.7.2020).

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).

Stand 29.6.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

Stand: 18.5.2020

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an CO-VID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Län-der tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

0.       Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:

Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.

1.2.1. Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senato

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten