TE Bvwg Beschluss 2021/4/30 W175 2241891-1

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Veröffentlicht am 30.04.2021
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Entscheidungsdatum

30.04.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z1
AsylG 2005 §4a
AsylG 2005 §57
BFA-VG §21 Abs3 Satz2
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §61 Abs1 Z1
FPG §61 Abs2
VwGVG §24 Abs2 Z1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch


W175 2241888-1/2E

W175 2241891-1/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Neumann über die Beschwerden 1.) des XXXX , geboren am XXXX , und 2.) des XXXX , geboren am XXXX , syrische Staatsangehörige, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.03.2021, Zahlen: 1.) 1266488804-200630139 und 2.) 1266486505-200630125:

A) Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 2. Satz BFA-VG stattgegeben und die bekämpften Bescheide werden behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Erstbeschwerdeführer (BF1) stellte am 21.07.2020 für sich und seinen minderjährigen Sohn (BF2) die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

Eine Eurodac-Abfrage ergab, dass die Daten des BF1 von Griechenland am 01.09.2019 wegen unrechtmäßigen Aufenthaltes und am 26.09.2019 aufgrund der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz gespeichert wurden.

In der Erstbefragung am 22.07.2020 gab der BF1 an, Syrien wegen des Krieges im Mai oder April 1029 verlassen zu haben, um in die Türkei zu reisen, wo er sich bis August 2019 aufgehalten habe.

Danach habe er sich fünf Monate (Anm.: etwa bis Jänner 2020) in Griechenland aufgehalten, wo er erkennungsdienstlich behandelt worden sei und in einem Camp und einem Hotel übernachtet habe.

Schließlich sei er über Albanien und den Kosovo nach Serbien (Aufenthalt an die sechs Monate) gereist, wo er mit einem Schlepper Kontakt aufgenommen habe. Danach sei er nach Rumänien gereist, wo die rumänische Polizei seine Papiere verbrannt habe. Letztlich sei er über weitere ihm unbekannte Länder nach Österreich gelangt.

Bei der Weiterreise nach Deutschland wurde dem BF am 21.07.2020 die Einreise verweigert (AS 69). Er habe mit dem BF2 in die Niederlande wollen, da dort eine rasche Familienzusammenführung möglich sei.

I.2. Über Anfrage gemäß Art. 34 Dublin III-VO vom 30.07.2020 teilten die griechischen Behörden nach einem Erinnerungsschreiben vom 04.09.2020, mit Schreiben vom 04.01.2021 (Anm.: fünf Monate später) mit, dass der BF1 in Griechenland am 26.09.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Er sei zusammen mit dem BF2 registriert worden, beiden sei am 31.03.2020 in erster Instanz der Flüchtlingsstatus zuerkannt, sowie eine Aufenthaltserlaubnis, gültig bis 14.05.2023, erteilt worden. Die BF hätten die Entscheidung und die Reisedokumente nicht entgegengenommen.

I.3. Am 19.01.2021 gab der BF1 im Rahmen einer Niederschrift vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) an, dass sich seine Frau und vier weitere Kinder in der Türkei aufhielten.

Auf den Hinweis, dass ihnen in Griechenland der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden sei, gab der BF1 an, dass er davon nichts wisse, er habe keine Geduld gehabt und sei weitergereist. Er sei nach Österreich gekommen, um seine Familie nachzuholen. Er könne nicht nach Griechenland, da er finanzielle Probleme habe. Insgesamt verstehe er die Erklärungen der Behörde nicht, er sei „verwirrt“.

Der BF1 gab an, er sei gesund, der BF2 habe „Schmerzen in den Rückengelenken“. Vorgelegt wurden:

?        eine ärztliche Zuweisung zur Radiologie betreffend den BF2 datiert mit 24.03.2021

?        eine Terminvormerkung der Kinderorthopädie des AKH Wien für den 24.03.2021 (erstellt am 23.12.2020) und

?        eine Verordnung (unter anderem Physiotherapie, ansonsten unleserlich).

I.4. Mit Bescheid vom 10.03.2020 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 4a AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass sich die BF nach Griechenland zurückzubegeben haben (Spruchpunkt I.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt II.). Gleichzeitig wurde gegen die BF gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Griechenland gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.).

Bescheidmäßig wurde zusammengefasst festgehalten, dass die BF in Griechenland Flüchtlingsstatus erhalten hätte. Es könne nicht festgestellt werden, dass die BF in Griechenland systematischen Misshandlungen beziehungsweise Verfolgungen ausgesetzt gewesen seien oder diese dort zu erwarten hätte; es bestehe kein Familienleben in Österreich. Die BF seien gesund und nicht immungeschwächt. Der BF2 habe Gelenkschmerzen. „Unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen“ hätten sich im Verfahren keine Hinweise ergeben, dass der BF2 an einer schweren körperlichen Krankheit oder an einer schweren psychischen Störung leide. Wie der BF2 selbst angegeben habe, seien sie in Griechenland versorgt und untergebracht worden.

Gegen den oben genannten Bescheid des BFA wurde am 19.04.2021 fristgerecht Beschwerde erhoben. Auf die prekären Lebensbedingungen in Griechenland wurde hingewiesen. Der BF2 bekomme seit zwei Monaten eine Physiotherapie aufgrund einer Missbildung der Wirbelsäule, eine Operation sei in Zukunft erforderlich. Er benötige eine gezielte Betreuung, andernfalls sich sein körperlicher und psychischer Gesundheitszustand verschlechtern würde. Vorgelegt wurden:

?        ein klinisch-psychologischer Kurzbefund einer klinischen Psychologin und Universitätslektorin vom April 2021, wonach der BF2 ausgeprägte Förder- und Bildungsdefizite aufweise. Er zeige assoziierte tonische Reaktionen, die Wahrnehmungskoordination und Rhetorik beeinflussten, er habe deutliche Schwächen in der Basiswahrnehmung und der Raumorientierung

?        diverse Unterstützungsschreiben, etwa das einer Sonderschulpädagogin u.a.

?        einen Befund eines Röntgeninstitutes vom 05.11.2020, wonach der BF2 eine deutliche Impression des linken Femurkopfes aufweise, einen Beckenschiefstand und eine angedeutete linkslaterale Skoliose in der Brustwirbelsäule.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu A) Stattgebung der Beschwerde:

II.1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetz 2005 idgF (AsylG) lauten:

„§ 4a (1) Ein Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn dem Fremden in einem anderen EWR-Staat oder der Schweiz der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde und er dort Schutz vor Verfolgung gefunden hat. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, in welchen Staat sich der Fremde zurück zu begeben hat. § 4 Abs. 5 gilt sinngemäß.

§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

1.       der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,

2.       …

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.

§ 57. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:

1.

wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2.

zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3.

wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs. 3 und § 73 AVG gehemmt.

(3) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.

(4) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können.“

§ 21 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idF BGBl. I Nr. 24/2016 lautet:
„§ 21 (3) Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.“

Der Verwaltungsgerichtshof (Ra 2016/18/0049, 03.05.2016) hat festgehalten, dass nach dem klaren Wortlaut des § 4a AsylG für die Beurteilung der Frage, ob ein Antrag auf internationalen Schutz gemäß dieser Bestimmung zurückzuweisen ist, darauf abzustellen ist, ob dem Fremden in einem anderen EWR-Staat oder der Schweiz der Status des Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde und er dort Schutz vor Verfolgung gefunden hat. Dass der Fremde dort zudem über einen aufrechten Aufenthaltstitel verfügen muss, lässt sich dem § 4a AsylG nicht entnehmen. Weiters ergibt sich aus dem Wortlaut der soeben zitierten Bestimmung, dass bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz nach § 4a AsylG - im Gegensatz zu jener nach § 4 AsylG - keine Prognoseentscheidung zu treffen ist. Während nämlich gemäß § 4 AsylG eine Prognose dahingehend zu treffen ist, ob der Fremde in dem in Frage kommenden Drittstaat Schutz vor Verfolgung finden kann (Hinweis E vom 6. Oktober 2010, 2008/19/0483; vgl. auch ErlRV 952 BlgNR 22. GP 33), stellt
§ 4a AsylG unmissverständlich darauf ab, ob dem Fremden von einem anderen EWR-Staat oder der Schweiz der Status des Asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten bereits zuerkannt wurde. Ob der Fremde bei Rückkehr in den nach Ansicht Österreichs zuständigen Staat eine Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung erlangen würde können oder ihm etwa die Aberkennung seines in der Vergangenheit zuerkannten Schutzstatus drohen könne, ist daher gemäß § 4a AsylG nicht zu prüfen.

Bei einer Zurückweisung nach § 4a AsylG 2005 handelt es sich um eine Entscheidung außerhalb des Anwendungsbereichs der Dublin III-VO (VwGH Ra 2016/19/0072, 30.06.2016 mit Hinweis auf Ra 2016/18/0049, 03.05.2016).

Die seit dem 01.01.2014 anwendbare Dublin III-VO geht, wie sich aus der Legaldefinition in ihrem Art. 2 lit. f ergibt, nunmehr von einem einheitlichen Status für Begünstigte internationalen Schutzes aus, welcher gleichermaßen Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte umfasst. Auf Personen, denen bereits in einem Mitgliedstaat Asyl oder subsidiärer Schutz gewährt wurde und deren Asylverfahren zu beiden Fragen rechtskräftig abgeschlossen ist, findet die Dublin III-VO im Fall eines neuerlichen Antrages auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat keine Anwendung.

Laut Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 19.03.2019, C-297/17, ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als subsidiär Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erfahren. Der Umstand, dass Personen, denen solch ein subsidiärer Schutz zuerkannt wird, in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch insofern anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.

Ausgeführt wurde dazu in Rn. 83 bis 94 wie folgt:

„83 Was erstens die in Rn. 81 des vorliegenden Urteils genannte Situation betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden, und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihren Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).

84 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten hat im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

85 Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies gilt insbesondere bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie, in dem im Rahmen des mit dieser Richtlinie eingerichteten gemeinsamen Asylverfahrens der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck kommt.

86 Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).

87 In diesem Kontext ist in Anbetracht des allgemeinen und absoluten Charakters des Verbots in Art. 4 der Charta, das eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist und ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbietet, festzustellen, dass es für die Anwendung von Art. 4 der Charta gleichgültig ist, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren (vgl. entsprechend Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 88).

88 Daher ist das Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein neuer Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt wurde, in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem bereits subsidiären Schutz gewährenden Mitgliedstaat nachzuweisen, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (vgl. entsprechend Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).

89 Insoweit ist festzustellen, dass die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Schwachstellen nur dann unter Art. 4 der Charta, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, fallen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung).

90 Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).

91 Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 93).

92 Im Hinblick auf die insoweit vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen ist festzustellen, dass unter Berücksichtigung der Bedeutung, die der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat, Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie, die nicht zu einer Verletzung von Art. 4 der Charta führen, die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, ihre durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie eingeräumte Befugnis auszuüben.

93 Der vom vorlegenden Gericht ebenfalls genannte Umstand, dass subsidiär Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die den in den Rn. 89 bis 91 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien entspricht.

94 Jedenfalls kann der bloße Umstand, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als in dem bereits subsidiären Schutz gewährenden Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren (vgl. entsprechend Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C-163/17, Rn. 97).“

Aus dieser Entscheidung ergibt sich, dass, obwohl grundsätzlich im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung gilt, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht, nicht ausgeschlossen werden kann, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. Dies gilt sowohl während eines laufenden Asylverfahrens als auch - wie im Gegenstand - im Falle der Zuerkennung internationalen Schutzes.

Die Zurückweisung eines neuerlichen Antrages auf internationalen Schutz, wenn dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz gewährt worden ist, ist dann nicht möglich, wenn der Antragsteller einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erfahren, wobei eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit gefordert wird, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Selbst wenn keine existenzsichernden Leistungen zu Verfügung stehen, kann dies nur dann zu der Feststellung führen dass der Antragsteller in diesem Mitgliedstaat tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände und anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt wird.

II.2. Aus dem Akteninhalt geht insgesamt Folgendes hervor:

Die BF hielten sich etwa in der Zeit von 01.09.2019 bis Jänner 2020, somit etwa sechs Monate, in Griechenland auf. Die griechischen Behörden benötigten fünf Monate und ein Erinnerungsschreiben, um mitzuteilen, dass die BF in Griechenland am 26.09.2019 Anträge auf internationalen Schutz gestellt hätten, denen am 31.03.2020 in erster Instanz stattgegeben worden sei. Beide hätten eine Aufenthaltserlaubnis, gültig bis 14.05.2023. Die BF nahmen die Entscheidungen und die Reisedokumente nicht entgegen, da der BF1 laut eigene Angaben mit seinem Sohn nicht in Griechenland bleiben wollte, sondern in ein Land reisen wollte, dass seiner Ansicht nach eine rasche Familienzusammenführung ermöglichen würde.

Der BF1 hat die Grundschule besucht und arbeitete als Brunnenbauer. Ob er in der Lage war, der Befragung durch das BFA zu folgen, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Er gab an, finanzielle Schwierigkeiten gehabt zu haben.

Der BF2 ist kann entgegen der Ansicht der belangten Behörde nicht als „gesund“ bezeichnet werden. Vorgebracht werden Entwicklungsstörungen, psychische Beeinträchtigungen und deutliche Schwächen in der Basiswahrnehmung und der Raumorientierung. Weiters weist er teils deutliche Veränderungen im Bereich der Beckenknochen und der Brustwirbelsäule auf. Diese Umstände sind durch glaubhafte und nachvollziehbare ärztliche Unterlagen belegt.

Die Frau des BF1 und vier weitere Kinder sind in der Türkei aufhältig.

II.3. Die fallrelevanten Länderfeststellungen im gegenständlichen Bescheid lauten wie folgt:

„(Anmerkung: Die Feststellungen sind durch die Staatendokumentation des Bundesamtes zusammengestellt und entsprechen dem Stand vom 04.10.2019 – letzte Aktualisierung 19.03.2020).

Schutzberechtigte

Letzte Änderung: 4.10.2019

Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte erhalten zunächst eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre. Humanitär Schutzberechtigte erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre. Die Aufenthaltserlaubnis wird in der Regel ein bis zwei Monate nach der Entscheidung ausgestellt. In der Zwischenzeit gilt die Asylwerberkarte mit dem Stempel „Pending Residence Permit". Nach fünf Jahren Aufenthalt kommt ein Flüchtling für eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung infrage, wenn er bestimmte Voraussetzungen erfüllt (AIDA 3.2019). Subsidiär Schutzberechtigte haben keinen Anspruch auf Familienzusammenführung. Sie erhalten außerdem nur dann international gültige Reisedokumente, wenn sie keine Reisedokumente ihres Heimatstaats erlangen können. Darüber hinaus bestehen keine rechtlichen und tatsächlichen Unterschiede bei der Behandlung der genannten Personengruppen (AA 26.9.2018a; vgl. AIDA 3.2019).

NGOs bezeichnen die Lebensbedingungen für Menschen mit internationalem Schutzstatus in Griechenland als alarmierend. Schutzberechtigte sehen sich nicht nur mit fehlenden Möglichkeiten zur Integration in die griechische Gesellschaft konfrontiert, sondern auch oft mit unzulänglichen Lebensumständen und humanitären Standards, einer äußerst prekären sozioökonomischen Situation und kämpfen oft um ihr bloßes Überleben. Es bestehen weiterhin flächendeckende Defizite bezogen auf die Aufnahme, Versorgung und Integration von Schutzberechtigten. In der Praxis besteht für Flüchtlinge immer noch kein gesicherter Zugang zu Unterbringung, Lebensmittelversorgung, medizinischer und psychologischer Behandlung oder zum Arbeitsmarkt. Auf dem Festland sind Fälle bekannt, in denen anerkannte Flüchtlingeinoffiziell für einige Monate weiter in den Unterbringunszentren bleiben durften und Bargeld erhielten wie Asylbewerber. Jedoch wurden für sie keine weiteren Integrationsmaßnahmen ergriffen. Sie erhielten keinen Zugangzu entsprechenden Informationen oder Unterstützung bei der Integration (Pro Asyl/RSA 8.2018).

Besondere staatliche Hilfsangebote für anerkannte Schutzberechtigte neben dem allgemeinen staatlichen Sozialsystem bestehen nicht. Konzepte für eine speziell zugeschnittene Information durch öffentliche Behörden sowie Zugangserleichterungen zu staatlichen Leistungen für anerkannte Schutzberechtigte befinden sich im Aufbau (AA 26.9.2018a; vgl. Pro Asyl/RSA 8.2018).

Integrationsplan

Die sogenannte Nationale Strategie zur Integration von Drittstaatsangehörigen ist nur teilweise umgesetzt. Maßnahmen und Projekte des Ministeriums für Arbeit und Sozialfürsorge sind zwar für diejenigen, die unter der Armutsgrenze leben, vorgesehen, aber nicht für Personen, die kein Griechisch sprechen oder verstehen (Pro Asyl/RSA 8.2018).

In der Praxis werden konkrete Integrationsprogramme (z.B. Soforthilfe für Integration und Unterbringung (ESTIA)) weitgehend von einer EU-Finanzierung abhängig sein, da weder auf nationaler noch auf kommunaler Ebene nennenswerte Ressourcen zur Verfügung stehen. Positiver gestaltet sich die Integration der etwa 12.000 schulpflichtigen Flüchtlingskinder in Griechenland, von denen im Schuljahr 2017/2018 ca. 8.000 eingeschult waren (AA 6.12.2018).

Sozialleistungen

Gemäß Gesetz haben Flüchtlinge in Griechenland dieselben sozialen Rechte wie griechische Staatsbürger, aber bürokratische Hürden, staatliche Handlungsdefizite, mangelnde Umsetzung des Gesetzes und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise können den Genuss dieser Rechte schmälern (AIDA 3.2019; vgl. Pro Asyl/RSA 30.8.2018; UNHCR 4.2019). Das neue System der sozialen Grundsicherung vom Februar 2017 befindet sich noch im Aufbau und wird schrittweise eingeführt. Es sieht Geldleistungen (erste Säule) sowie Sachleistungen (zweite Säule) und Arbeitsvermittlung (dritte Säule) vor. Eine etablierte Verwaltungspraxis besteht bislang nicht. Allerdings wurde der Zugang im Rahmen einer Gesetzesänderung im Juni 2018 für jene Personen eingeschränkt, die in EU-finanzierten Aufnahmelagern und Apartments wohnen. Die überwiegende Mehrheit der anerkannten Schutzberechtigten bezieht bisher keine soziale Grundsicherung (AA 6.12.2018). Voraussetzung für den Leistungsbezug allgemeiner Sozialhilfe ist das Einreichen verschiedener Dokumente (Aufenthaltserlaubnis, Sozialversicherungsnummer, Bankverbindung, Steuererklärung über das Online-Portal Taxis-Net), wobei der Nachweis des dauerhaften einjährigen Mindestaufenthalts im Inland durch die inländische Steuererklärung des Vorjahres nachzuweisen ist. Dabei sind Unterlagen grundsätzlich online und in griechischer Sprache einzureichen, staatlicherseits werden keine Dolmetscher gestellt (AA 7.2.2018). Bei der Beschaffung der genannten Dokumente stoßen jedoch die Betroffenen in der Praxis auf zahlreiche Schwierigkeiten (Pro Asyl/RSA 30.8.2018; vgl. UNHCR 4.2019). Einige NGOs bieten punktuell Programme zur Unterstützung bei der Beantragung von Sozialleistungen an. Erster Anlaufpunkt ist die HELP-Webseite des UNHCR. Es beraten z. B. der Arbeiter-Samariter-Bund, die Diakonie und der Greek Refugee Council (AA 6.12.2018; vgl. UNHCR 4.2019). Im Juli 2019 gab es 72.290 Bezieher der EU-finanzierten Geldleistungen im Rahmen sogenannter Cash-Card Programm des UNHCR, darunter 13.800 anerkannte Schutzberechtigte (UNHCR 7.2019). Es besteht kein Anspruch auf Teilnahme an dem Cash-Card-Programm, es handelt sich nicht um einen Sozialhilfeanspruch, sondern um humanitäre Hilfe. Der Bezugszeitraum endet grundsätzlich nach Anerkennung bzw. nach einer Übergangsfrist von 6 bis 12 Monaten. In der Praxis wurden bisher keine Asylwerber nach ihrem Statuswechsel von dem Bezug ausgeschlossen. Für bereits anerkannte Schutzberechtigte ist ein Neueintritt in das Cash-Card-Programm allerdings nicht möglich (AA 6.12.2018). Der Auszahlungsbetrag beträgt zwischen 90 € für eine Einzelperson mit Unterkunft und Verpflegung und bis zu 550 € für eine Familie mit sieben oder mehr Personen (AIDA 3.2019; vgl. UNHCR 7.2019).

Medizinische Versorgung

Anerkannte Schutzberechtigte haben durch Gesetz vom 20. Februar 2016, umgesetzt seit Ende 2016, einen gesetzlichen Anspruch auf unentgeltliche medizinische Behandlung (auch in Krankenhäusern) und sind in die staatliche Krankenversicherung mit einbezogen. Das Gesundheitssystem erfüllt diesen Anspruch auch in der Praxis, insbesondere im Rahmen der Notfallversorgung (AA 7.2.2018). Trotz des günstigen Rechtsrahmens wird der tatsächliche Zugang zu medizinischer Versorgung in der Praxis durch einen erheblichen Ressourcen- und Kapazitätsmangel sowohl für Fremde als auch für die einheimische Bevölkerung erschwert. Der von verschiedenen Sparmaßnahmen stark betroffene öffentliche Gesundheitssektor steht unter enormem Druck und ist nicht in der Lage, den gesamten Bedarf an Gesundheitsleistungen weder für die einheimische Bevölkerung noch für Migranten zu decken. Ein weiteres Problem stellt die Ausstellung der Sozialversicherungsnummer (AMKA) dar (AIDA 3.2019). Kosten fallen bei Medikamenten im ambulanten Bereich an, da der staatlich festgesetzte erstattete Preis in Apotheken teilweise unterhalb des realen Verkaufspreises gilt. Mit Blick auf die allgemein begrenzten Haushaltsmittel sind Schutzberechtigte wie die griechische Bevölkerung auch hierbei Budgetierungen und restriktiver Medikamentenausgabe insbesondere bei teuren Krebsmedikamenten unterworfen. Seit Anfang 2017 werden Medikamente für Bedürftige nicht mehr kostenlos in Krankenhausapotheken abgegeben, sondern sind über Apotheken zu beziehen. Dabei wird ein staatlich festgesetzter Preis erstattet, der z. T. unterhalb des üblichen Abgabepreises in Apotheken liegt. Der Differenzbetrag ist privat zu tragen. An einigen Orten unterstützen private Sozialkliniken Bedürftige mit kostenloser Medikamentenabgabe. Fälle von Behandlungsverweigerung sind seltene Ausnahmen (AA 6.12.2018; vgl. AA 7.2.2018).

Wohnmöglichkeiten

Anerkannte Schutzberechtigte haben seit 2013 Zugang zu Unterbringung unter den gleichen Bedingungen wie Drittstaatsangehörige, die sich legal in Griechenland aufhalten. Eine staatliche Sozialleistung zur Wohnungsunterstützung besteht derzeit auch für die griechische Bevölkerung noch nicht (AA 26.9.2018a; vgl. AIDA 3.2019). In der Praxis wird Schutzberechtigten, die als Asylwerber in einem Flüchtlingslager oder in einer Wohnung des UNHCR-Unterbringungsprogramms (ESTIA) untergebracht waren, gestattet, nach ihrer Anerkennung für weitere 6 Monate in der gleichen Unterkunft zu bleiben (Pro Asyl/RSA 8.2018). Wohnraum wäre grundsätzlich auf dem freien Wohnungsmarkt zu beschaffen (AA 6.12.2018). Das private Anmieten von Wohnraum für bzw. durch anerkannte Schutzberechtigte wird durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, Bekannte und Studenten, sowie gelegentlich durch Vorurteile erschwert (AA 26.9.2018a). Personen, die keine Unterkunft haben und nicht das Geld besitzen, eine zu mieten, leben oft in überfüllten Wohnungen, verlassenen Häusern ohne Zugang zu Strom oder Wasser oder werden obdachlos (AIDA 3.2019; Pro Asyl/RSA 8.2018). Schutzberechtigte haben Zugang zu Unterbringungseinrichtungen für Obdachlose, die jedoch nur begrenzt vorhanden sind. Eigene Unterbringungsplätze für anerkannte Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte existieren nicht. Es gibt auch keine eigene Unterstützung für ihre Lebenshaltungskosten. In Athen etwa gibt es vier Asyle für Obdachlose (zugänglich für griechische Staatsbürger und legal aufhältige Drittstaatsangehörige). Aber es ist äußerst schwierig, dort zugelassen zu werden, da sie chronisch überfüllt sind und Wartelisten führen (AIDA 3.2019; vgl. Pro Asyl/RSA).

Die Aufnahme ins ESTIA-Programm ist nur für diejenigen anerkannten Schutzberechtigten möglich, welche die Kriterien der Vulnerabilität erfüllen und bereits als Asylwerber an dem Programm teilgenommen haben. Im Rahmen des Programms werden hauptsächlich Familien untergebracht (AIDA 3.2019). Prioritäre Kriterien sind das Vorliegen einer medizinischen Indikation, bevorstehende Geburt oder Neugeborene, alleinerziehende Mütter sowie Unterbringung der vulnerablen Personen von den Erstaufnahmeeinrichtungen auf den ostägäischen Inseln (AA 6.12.2018). Im Rahmen des ESTIA-Programms waren im März 2019 6.790 anerkannte Schutzberechtigte untergebracht (UNHCR 4.2019). Die Auslastungsquote lag Ende August 2019 mit 21.622 Einwohnern (Asylwerber und anerkannte Schutzberechtigte) bei 98,2% der Kapazitäten (ESTIA 28.8.2019). Anerkannte Schutzberechtigte sind dazu aufgerufen, die Wohnungen innerhalb einer Übergangsphase von 6 bzw. 12 Monaten nach ihrer Anerkennung zu verlassen. In der Praxis ist es bisher aber nicht zu erzwungenen Räumungen gekommen (AA 6.12.2018). Personen, die nach Zuerkennung ihres Schutzstatus in Griechenland ESTIA verlassen und einen Zweitantrag in einem anderen EU-Staat stellen, verzichten in eigener Verantwortung auf diesen sozialen Vorteil (AA 6.12.2018).

Einige NGOs bieten punktuell Wohnraum an. Hierzu gehören z.B. Caritas Hellas, Orange House und PRAKSIS. Insbesondere Caritas Hellas unterhält einen sogenannten „Social Spot" in Athen. Hier werden täglich Hilfestellungen zu verschiedenen Themen angeboten. Zudem verfügt Caritas Hellas über Wohnräumlichkeiten sowie Kooperationen mit der armenischen Kirchengemeinde, welche u. a. auch für kurzfristige Unterbringungen zur Verfügung stehen. Weitere gemischte Wohnprojekte der Caritas Hellas im Stadtteil Neos Kosmos werden von den römisch-katholischen Bischöfen in Griechenland unterstützt. Die Zahl der Unterkünfte in Athen ist insgesamt nicht ausreichend. Diese Stellen arbeiten mit Bedürftigen direkt und unmittelbar zusammen. Bedürftige können sich nach Ankunft in Griechenland unmittelbar an die vorgenannten Organisationen wenden (AA 6.12.2018).

Arbeitsmarkt

Ein Zugang zum Arbeitsmarkt steht rechtlich dauerhaft und legal im Land lebenden Personen zu, damit grundsätzlich auch Schutzberechtigten. Geldleistungen der Arbeitslosenversicherung erhalten nur Personen mit entsprechenden Vorversicherungszeiten für eine Dauer von maximal einem Jahr. Die griechische Arbeitsagentur ODEA stellt nunmehr seit Juni 2018 für alle Schutzberechtigten eine Arbeitslosenkarte aus. Eine Registrierung bei der Arbeitsagentur, welche Voraussetzung für weitere Sozialleistungen ist, war zuvor in der Praxis für Schutzberechtigte kaum möglich, da als Voraussetzung ein Wohnungsnachweis auf den Namen der Person vorgelegt werden musste. Nachdem diese Hürde weggefallen ist, wurden innerhalb weniger Monate über 4.000 Personen aus dem EU-finanzierten Unterkunftsprogramm ESTIA registriert. Die Arbeitslosenkarte berechtigt zu folgenden Leistungen: kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs; kostenloser Eintritt in Museen; Ermäßigungen für Gas-, Wasser- und Stromrechnungen, Rabatte in einigen Fast-Food-Restaurants, Mobilfunkangebote und ermäßigte berufliche Fortbildungsmaßnahmen. Einige NGOs bieten punktuell Programme zur Fortbildung und Unterstützung bei der Arbeitssuche an. Hierzu gehören z.B. der Arbeiter-Samariter-Bund, die Diakonie und der Greek Refugee Council (AA 6.12.2018). Die Chancen zur Vermittlung eines Arbeitsplatzes sind gering. Die staatliche Arbeitsagentur OAED hat bereits für Griechen kaum Ressourcen für die aktive Arbeitsvermittlung (Betreuungsschlüssel: 1 Mitarbeiter für über 1.000 Arbeitslose) und noch kein Programm zur Arbeitsintegration von Flüchtlingen aufgelegt. Migration in den griechischen Arbeitsmarkt hat in der Vergangenheit vor allem in den Branchen Landwirtschaft, Bauwesen, haushaltsnahe und sonstige Dienstleistungen stattgefunden. Allerdings haben sich die Arbeitschancen durch die anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise allgemein deutlich verschlechtert. Möglichkeiten zur Arbeitsaufnahme bestehen z.T. bei NGOs etwa als Dolmetscher oder Team-Mitarbeiter (AA 26.9.2018a).

Bildung

Ein Zugang zum Bildungssystem wird faktisch durch Sprachbarrieren und die stark akademisch ausgerichtete Bildungslandschaft in Griechenland erschwert. Es bestehen einzelne Projekte einer dualen Berufsausbildung etwa im Bereich der Landwirtschaft. Das griechische Bildungsministerium konzentriert sich in seinen Bemühungen bisher auf den Unterricht für die 5 bis 17-jährigen schulpflichtigen Flüchtlingskinder, von denen im Schuljahr 2017/2018 ca. 62% eingeschult waren. Zahlreiche NGOs bieten Sprachkurse für Griechisch und Englisch an (AA 26.9.2018b).

Unterstützung durch NGOs

NGOs spielen bei der Integration Schutzberechtigter eine wichtige Rolle. Es gibt sowohl in Griechenland aktive internationale wie auch lokale NGOs. Die Angebote sind vielfältig, allerdings mit Schwerpunkt in den Ballungsräumen Athen und Thessaloniki, wo sich auch die meisten Schutzberechtigten befinden. Die NGOs sind Umsetzungspartner der internationalen Hilfsprojekte, finanziert von der EU und in weiten Teilen koordiniert vom UNHCR. Die Programme werden genutzt (AA 26.9.2018a). Bekannte Organisationen sind unter anderem: Society for the care of minors (sma-athens.org), Apostoli, eine Organisation der griechisch-orthodoxen Kirche (mkoapostoli.com), Arsis (arsis.gr), National Centre for Solidarity (ekka.org.gr) Hellenic Red Cross (redcross.gr), Positive Voice - Greek Association of HIV Positive Persons (positivevoice.gr), Klimaka (klimaka.org.gr), Nostos (nostos.org.gr), Doctors of the World (mdmgreece.gr), Medical Intervention (medin.gr), Praksis (praksis.gr) sowie Faros (faros.org.gr) usw. (AA 6.12.2018; vgl. UNHCR 4.2019).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (6.12.2018): Auskunft des AA an das Verwaltungsgericht Stade, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684461/684543/18914234/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_06%2E12%2E2018%2C_508%2D516.80_51293.pdf?nodeid=19635053&vernum=-2, Zugriff 26.9.2019

-        AA – Auswärtiges Amt (26.9.2018a): Auskunft des AA an das Verwaltungsgericht Schwerin, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684461/684543/18914234/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_26%2E09%2E2018%2C_508%2D516.80_50799.pdf?nodeid=19309208&vernum=-2, Zugriff 26.9.2019

-        AA – Auswärtiges Amt (26.9.2018b): Auskunft des AA an das Verwaltungsgericht Greifswald, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/683266/693991/696617/696619/696431/18970518/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_26%2E09%2E2018%2C_508%2D516.80_51035.pdf?nodeid=19373612&vernum=-2, Zugriff 26.9.2019

-        AA – Auswärtiges Amt (7.2.2018): Auskunft des AA an das Verwaltungsgericht Köln, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/683529/683531/683613/18932792/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_07%2E02%2E2018%2C_508%2D516.80_49957.pdf?nodeid=18971400&vernum=-2, Zugriff 26.9.2019

-        AIDA – Asylum Information Database (3.2019): Country Report: Greece, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_gr_2018update.pdf, Zugriff 26.9.2019

-        ESTIA – Emergency Support to Integration & Accomodation (28.8.2019): ESTAI Accomodation Capacity – Weekly Update, http://estia.unhcr.gr/en/estia-accommodation-capacity-weekly-update-27-august-2019/, Zugriff 26.9.2019

-        Pro Asyl/RSA – Refugee Support Aegean (8.2018): Update – Stellungnahme – Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/683266/684671/701739/1999815/1999817/20085633/PRO_ASYL%2C_Lebensbedingungen_international_Schutzberechtigter_in_Griechenland%2C_30%2E08.2018.pdf?nodeid=20085316&vernum=-2, Zugriff 26.9.2019

-        UNHCR – UN High Commissioner for Refugees (7.2019): Cash Assistance Update, http://estia.unhcr.gr/en/greece-cash-assistance-july-2019/, Zugriff 26.9.2019

-        UNHCR – UN High Commissioner for Refugees (4.2019): Fact Sheet; Greece; 1-31 March 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2006858/69017.pdf, Zugriff 26.9.2019“

Laut Bescheid sei „aufgrund der aktuellen Länderfeststellungen festzustellen, dass in Griechenland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verletzung der EMRK im gegenständlichen Zusammenhang nicht eintreten werde. Die ausgewogenen Quellen zeigten in ihrem wesentlichen Inhalt übereinstimmend das Bild über die aktuelle Lage von Schutzberechtigten in Griechenland, die dieselben sozialen Rechte hätten, wie griechische Staatsangehörige, sowie einen gesetzlichen Anspruch auf medizinische Behandlung“.

Nicht berücksichtigt und nicht herangezogen wurde folgende Passage der Länderfeststellungen zu Griechenland (enthalten in „Länderinformation der Staatendokumentation zu Griechenland aus dem COI-CMS, generiert am 28.04.2021):

„Aktuelle Entwicklungen des griechischen Asylgesetzes (seit Ende 2019)

Letzte Änderung: 19.3.2020

Das griechische Parlament hat mit großer Mehrheit eine Verschärfung des Asylgesetzes beschlossen. Die weitreichende Asylgesetzgebung soll ab Anfang 2020 gültig sein. Einige der wichtigsten Änderungen kurz zusammengefasst:

Verfahren in 5 Stufen: 1.) Information 2.) Aufenthalt in Aufnahmezentren 3.) Registrierung und medizinische Kontrolle (Vulnerabilität führt zu prioritärem Verfahren, hat aber keine substanzielle Auswirkung auf den Asylantrag) 4.) „neues Asylverfahren“ 5.) Beförderung entweder auf das Festland (vulnerable Personen) oder in Rückführungszentren.

Aufnahmephase: Bei Nichtbeachtung von Überstellungsentscheidungen erfolgt eine automatische Zuweisung ins Rückführungsverfahren; der Antrag wird innerhalb von drei Tagen abgewickelt; ebenso gilt dies bei einem Verstoß gegen die Verhaltensregeln in den Hotspots.

Verfahrensdauer: Laut dem neuen Gesetz beträgt das reguläre Asylverfahren 6 Monate (+ 3 Monate bei Massenzustrom), das beschleunigte Verfahren 20 Tage (+ 10 Tage bei Massenzustrom) und das Schnellverfahren (Fast-Track) auf den Inseln 7 Tage. Folgeanträge werden innerhalb von 5 Tagen geprüft.

Subsidiärer Schutz: Die Dauer der Aufenthaltserlaubnis bei Gewährung von subsidiären Schutz wurde von drei Jahren auf ein Jahr gekürzt.

Beschwerdefristen: Zukünftig betragen die Beschwerdefristen beim regulären Asylverfahren 3 Monate, beim beschleunigten Verfahren 40 Tage, bei Unzulässigkeit 30 Tage, bei Beschwerden von Inhaftierten 20 Tage.

Zugang zu Beschäftigung wird erst nach 6 Monaten nach Einbringung des Asylantrags gewährt.

Haft: Das Gesetz sieht vor, dass Flüchtlinge „ausnahmsweise und aus bestimmten Gründen“ für 50 Tage in Haft gehalten werden können, die verlängert werden kann, aber nicht länger als 18 Monate dauern darf.

Aufenthaltsrecht: Ein Aufenthaltsrecht in Griechenland besteht nur bis zum Abschluss des Asylverfahrens in der ersten Beschwerdeinstanz, ein Verfahren in der zweiten Instanz hat keine aufschiebende Wirkung für die Rückführung.

Zusammensetzung des Beschwerdeausschusses: Im bisherigen System setzten sich die Beschwerdeausschüsse für abgelehnte Asylwerber aus zwei griechischen Richtern und einem vom UNHCR ausgebildeten unabhängigen Sachverständigen im Flüchtlingsrecht zusammen. Die Ausschüsse sollen zukünftig aus drei Verwaltungsrichtern bestehen. Weiters kann eine Einzelrichterkonstellation beispielsweise für beschleunigte Verfahren angewendet werden.

Unbegleitete Minderjährige/Vulnerable: Das neue Gesetz sieht vor, dass das beschleunigte Verfahren auf unbegleitete Minderjährige und andere vulnerable Gruppen angewendet werden kann. Es gibt Änderungen bei der Definition der Familienangehörige, die Einschränkungen bei der Familienzusammenführung bedeuten können. Weiters wurde das Vulnerabilitätskriterium Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (inklusive Überlebende von Schiffsbrüchen) gestrichen.

Zugang zu medizinischer Versorgung:

Ab 2020 werden Asylwerber nur noch Zugang zur Notfallversorgung haben.

Unterbringung:

Die neue Regelung sieht vor, dass anerkannte Flüchtlinge gezwungen werden, ihre Unterkunft innerhalb von zwei Monaten statt den bisherigen sechs Monaten nach Schutzgewährung zu verlassen.

Verpflichtung der Bewerber zu persönlicher Vorsprache bei jedem Schritt des Asylverfahrens: so soll sicherstellen, dass sich der Asylwerber in der zugewiesenen Region aufhält.

NGOs: die am System beteiligten NGOs müssen künftig eine Zertifizierung besitzen (ÖB 23.10.2019a; vgl. AI 24.10.2019; DZ 1.11.2019; EK 22.10.2019; GGHR 1.11.2019; ECRE 31.10.2019; HRW 29.10.2019; TNH 4.11.2019; UNHCR 24.10.2019; MoCP 11.11.2019).

UNHCR, der Ombudsmann, die Nationale Menschenrechtskommission, zivilgesellschaftliche Organisationen und die Athener Anwaltskammer zeigten sich tief besorgt über das Ziel der Gesetze, über die Vereinbarkeit ihrer Bestimmungen mit dem nationalen und internationalen Recht und den Verwaltungsdruck, den die Gesetze auf die Asylbehörden ausüben können. Oppositionsparteien (SYRZIA, KINAL, KKE) äußerten bei den Diskussionen im Parlamentsausschuss am 29.10.2019 ähnliche Bedenken (ECRE 31.10.2019; vgl. ÖB 23.10.2019a; ÖB 23.10.2019b; BI 1.11.2019; HRW 29.10.2019; UNHCR 24.10.2019).

Die Opposition sowie NGOs hatten auch Kritik an der Begutachtungsfrist geübt, die mit vier Arbeitstagen sehr kurz bemessen war. Die kurze Frist zur öffentlichen Konsultation des Gesetzesentwurfs wurde von der Nationalen Kommission für Menschenrechte ebenfalls kritisiert, die die Regierung in Menschenrechtsfragen berät (ÖB 23.10.2019a; vgl. UNHCR 24.10.2019).

Kommentar der Staatendokumentation: Die weiteren praktischen Auswirkungen ab 1.1.2020 werden beobachtet und es wird gegebenenfalls mittels KI reagiert.“

II.4. Hierzu ist vorab festzuhalten, dass das die Bescheiden zugrundeliegende Länderinformation der Staatendokumentation (Stand 04.10.2019) keinesfalls als aktuell bezeichnet werden kann. So ergibt sich bereits aus nicht in den Bescheiden angeführten Passagen der Länderinformation (enthalten in „Länderinformation der Staatendokumentation zu Griechenland aus dem COI-CMS, generiert am 28.04.2021), dass es in Griechenland Anfang 2020 zu weitreichenden Verschärfungen des Asylgesetzes „kommen soll“. Angeführt wird - für den gegenständlichen Fall wesentlich - explizit, dass „die neue Regelung vorsieht, dass anerkannte Flüchtlinge gezwungen werden, ihre Unterkunft innerhalb von zwei Monaten statt der bisherigen sechs Monate zu verlassen“. Dass dies rigoros umgesetzt wurde ergibt sich unter anderem aus zahlreichen Pressemitteilungen. So etwa orf.at vom 28.12.2020, wonach mitten im Winter knapp 11.000 Personen keinen Anspruch auf von Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellte Quartiere hätten, SRF etwa berichtete am 03.08.2020 von rigorosen Räumungen, wonach 15.000 anerkannte Flüchtlinge die Camps innerhalb von einem Monat verlassen müssen. Migrations- und Asylminister Mitarakis wolle EU-Gelder exklusiv für Asylsuchende verwenden.

Dem AIDA Country Report 2019 (Seite 217) lässt sich entnehmen, dass Minister Mitarakis im März 2020 betonte, dass es sein Ziel sei, berechtigten Personen innerhalb von zwei bis drei Monaten Asyl zu erteilen und danach jegliche Unterstützungen und Unterbringung einzustellen, da dies als pull-factor angesehen werde. Jeder sei nach der Zuerkennung für sich selbst verantwortlich. Eine entsprechende Gesetzgebung wurde im März 2020 verabschiedet, wonach jedwede Unterstützung, sei es in monetärer oder sonstiger Form eingestellt werde. Nach Zuerkennung wären alle Unterkünfte innerhalb von 30 Tagen zu verlassen, eingeschlossen Hotels und Apartments Aufgrund Covid-19 wurde im April 2020 eine Deadline bis 31.05.2020 festgelegt. Begünstigte internationalen Schutzes hätten Zugang zu Unterbringung unter denselben Bedingungen, und Beschränkungen denen auch legal aufhältigen Drittstaatsangehörige unterworden wären.

Die Stiftung Pro Asyl hält in einer Information vom 09.12.2020 fest, dass aufgrund besagter Regelung Schwangere die ESTIA-Unterkünfte innerhalb von zwei Monaten nach der Geburt verlassen müssten. Mit Zuerkennung des internationalen Schutzes würden Leistungen aus dem Cash-Card Programm ohne Übergangsfrist eingestellt. Die für die Eröffnung eines Bankkontos, für die Wohnungsanmietung und für die Beantragung einer Sozialversicherungsnummer, sowie für den Zugang zum Arbeitsmarkt und den Zugang zu Sozialhilfe benötigte Steuer-Identifikationsnummer (AFM) erhalte man nur nach Nachweis eines festen Wohnsitzes durch die Bescheinigung einer Unterbringungseinrichtung, eines auf den eigenen Namen ausgestellten Mietvertrages oder einer Stromrechnung. Anerkannt Schutzberechtigte die obdachlos seien oder einen entsprechenden Nachweis nicht vorlegen könnten, erhielten keine Steuer-ID.

Praktische Auswirkungen würden von der Staatendokumentation beobachtet und mittels Kurzinformation übermittelt. Diesbezügliche Kurzinformationen liegen bis dato jedoch auch nach über einem Jahr nicht vor, obwohl dies anhand der gravierenden Umstellungen im griechischen Rechtsystem erforderlich gewesen wäre. Überdies ist nicht ersichtlich, in welchem Maß sich die Umstände durch Covid-19 geändert haben, wobei zu berücksichtigen ist, dass es sich zwar um eine weltweite Pandemie handelt, das in Griechenland jedoch ohnehin stark belastete Sozialsystem dadurch unverhältnismäßig in Bedrängnis gelangen kann.

Selbst einigermaßen aktuellere Informationen wurden im Gegenstand generell nicht berücksichtigt, obwohl diese bereits mit der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Vulnerable Schutzberechtigte (Wohnraummöglichkeiten, soziales Auffangnetz bei drohender Obdachlosigkeit) vom 13.08.2020 dem BFA zugänglich sind:

„Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Situation von vulnerablen Schutzberechtigen in GRIECHENLAND vom 13.08.2020

Aktuelle Abklärung von Wohnraummöglichkeiten für vulnerable Schutzberechtigte.

Wenn Obdachlosigkeit droht, welches soziale Auffangnetz besteht?

Anmerkung der Staatendokumentation: Obwohl die Staatendokumentation über den Verbindungsbeamten explizit nach den Wohnmöglichkeiten für vulnerable Schutzberechtigte nach Rückkehr in Griechenland gefragt hat, wurden vom griechischen Migrations- und Asylministerium nur allgemeine Informationen über Leistungen für international Schutzberechtigte zur Verfügung gestellt.

Zusammenfassung:

Das griechische Migrations- und Asylministerium hat auf die Anfrage der Staatendokumentation nur allgemeine Informationen über das Integrationsprogramm namens Helios gegeben, welches in Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen durchgeführt wird. Dieses soll einen Mietzuschuss beinhalten, aber es geht aus der Quelle nicht hervor, ob das Programm für vulnerable Schutzberechtigte nach Rückkehr in Griechenland verfügbar ist.

Den nachfolgend zitierten Quellen konnten konkretere Informationen zur Unterbringung von nicht vulnerablen Schutzberechtigten nach Rückkehr und zum Helios-Programm entnommen werden. Laut dem deutschen Auswärtigen Amt (AA) wurden anerkannte Schutzberechtigte, die nach Griechenland zurückkehren, soweit bekannt in der Vergangenheit von den griechischen Behörden im Falle des Vorliegens einer expliziten Zusage zur Betreuung im jeweiligen Einzelfall beim Flüchtlingslager in Athen untergebracht.

Weiters gibt das AA an, dass anerkannt Schutzberechtigte unmittelbar in den sechs Folgemonaten ab Asylanerkennung eine Unterkunftsbeihilfe zur Anmietung von Wohnraum über das Helios II Programm erhalten sollen. Es greift jedoch nur für ein begrenztes Kontingent an Personen und steht laut dem AA anerkannt Schutzberechtigten, die nach Griechenland zurückkehren, - soweit bisher bekannt - nicht offen. Ob es im Falle von vulnerablen Schutzberechtigten anders ist, geht aus der Quelle nicht hervor.

Mit dem neuen Asylgesetz vom 01.11.2019, in Kraft seit dem 01.01.2020, sollen alle anerkannt Schutzberechtigten unmittelbar ab dem Zeitpunkt der Anerkennung der Schutzberechtigung die Unterkünfte für Asylbewerber (ESTIA-Programm des UNHCR) verlassen. Dabei gab es einmalig eine Übergangsfrist von zwei Monaten Anfang des Jahres 2020. Bei fehlenden Eigenmitteln besteht die Möglichkeit einer Unterbringung in kommunalen Obdachlosenunterkünften. Die genaue Umsetzung dieser Änderungen im Jahr 2020 ist noch unklar.

In Griechenland gibt es weiters kein staatliches Programm bzgl. Wohnungszuweisungen, einzelne Kommunen setzen Programme zur Obdachlosenhilfe mit EU-Mitteln um.

Anerkannte Schutzberechtigte sind bei wohnungsbezogenen Sozialleistungen und bei der Grundsicherung griechischen Staatsbürgern grundsätzlich gleichgestellt. Eine der wichtigsten Voraussetzungen beim Zugang zu staatlichen Hilfeleistungen, konkret die Anforderung an vorangehende längerfristige legale Inlandsaufenthalte (z.B. für soziale Grundsicherung: 2 Jahre, Wohngeld: 5 Jahre), kann jedoch von international Schutzberechtigten häufig nicht erfüllt werden.

Einzelquellen:

Die Antwort des griechischen Migrations- und Asylministeriums in Arbeitsübersetzung durch das Büro des VB:

Fragen der Staatendokumentation:

- Werden vulnerable anerkannte Schutzberechtigte, die nach Griechenland zurückkehren, bei ihrer Ankunft in Griechenland in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen untergebracht und falls ja, in welcher Art von Einrichtung?

- Wenn vulnerable anerkannte Schutzberechtigte keinen Zugang zu staatlichen Aufnahmeeinrichtungen haben, wo werden sie in der Regel nach Überstellung untergebracht?

- Wenn vulnerable anerkannte Schutzberechtigte Obdachlosigkeit droht, welches soziale Auffangnetz besteht?

Antwort des griechischen Migrations- und Asylministeriums in Arbeitsübersetzung des VB-Büros:

Aktuelles Grundprogramm für die soziale Integration Berechtigter internationalen Schutzes mit der Unterstützung der griechischen Regierung ist das Programm HELIOS, dessen Ziel die Erleichterung der Berechtigten internationalen Schutzes zur allmählichen und reibungslosen Integration in die griechische Gesellschaft ist. Das Programm wird von der internationalen Organisation für Migration (IOM) und deren Partner durchgeführt, mit direkter Finanzierung von der Generaldirektion des europäischen Ausschusses für Migration und Innenangelegenheiten (DG HOME).

Das Programm bietet Dienstleistungen an, die zur Förderung der unabhängigen/selbstständigen Lebensführung der Berechtigten internationalen Schutzes dienen. Inkludiert sind Mietzuschuss, Integrationskurse, Arbeitsunterstützung und Förderung des sozialen Zusammenhalts durch zusammenhängende/ähnlichen Aktionen.

Durch das Programm Handbuch (Handbook), in dem die F

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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