TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/3 W103 2193307-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.05.2021
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Entscheidungsdatum

03.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55 Abs2
IntG §10 Abs2 Z5
IntG §9
NAG §81 Abs36
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W103 2194688-1/7E

W103 2193307-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb XXXX , 2.) XXXX , alias XXXX , geb. XXXX , beide StA. Ukraine und vertreten durch RAe Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.03.2018, Zlen: 1.) XXXX , 2.) XXXX , zu Recht:

A) I. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. bis III. erster Satz werden gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerden gegen die Spruchpunkte III. zweiter Satz wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG idgF iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG idgF auf Dauer unzulässig ist.

III. Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 iVm §§ 9, 10 Abs. 2 Z 5 Integrationsgesetz, jeweils idgF, wird 1.) XXXX und 2.) XXXX jeweils der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ jeweils für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. dritter Satz und IV. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Ukraine, der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) sind miteinander verheiratet. Der BF1 und die BF2 stellten infolge legaler Einreise mit einem Visum C, gültig von 10.07.2015 bis 01.08.2015, am 27.07.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

Der BF1 gab anlässlich seiner am selben Tag abgehaltenen niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes an, er sei verheiratet, habe keine Kinder, jedoch einen Bruder, der in XXXX lebe, gehöre der Volksgruppe der Armenier an, bekenne sich zum christlichen Glauben und spreche muttersprachlich Armenisch, sowie gut Russisch. Er habe 11 Jahre die Gesamtschule und 5 Jahre die Universität besucht. Zuletzt sei der BF1 selbständig in der Gastronomie tätig gewesen und sein Halbbruder, XXXX , geb. XXXX , lebe in XXXX , dieser habe ihm auch Geld in die Ukraine geschickt. Der Vater des BF1 sei bereits seit 7 Jahren verstorben und seine Mutter lebe noch in Armenien, ebenso wie ein weiterer Bruder. Zuletzt habe der BF1 in XXXX , in der Südukraine, an der Adresse XXXX , gewohnt. Den Entschluss zur Ausreise habe er im April 2015 gefasst, ausgereist sei er mit seiner Frau legal am 10.07.2015 aus XXXX mit dem Zug Richtung Lemberg und von dort mit dem Bus nach Budapest. Eingereist seien sie legal mit ihren Reisepässen am 12.07.2015 von Budapest nach Wien. Der BF1 und die BF2 hätten eine Reise gebucht und seien mit dem Veranstalter legal nach Europa gefahren. Nach ihrer Ankunft in Wien seien sie mit dem Bus weiter nach Amsterdam gefahren, von dort nach Belgien und weiter nach Paris, wo sie zwei Tage geblieben seien. Im Anschluss seien sie nach Salzburg gefahren, dort seien sie am 17.05.2015 angekommen. Der Halbbruder des BF1 habe sie von dort abgeholt und seien sie mit ihm nach XXXX gefahren. In XXXX hätten der BF1 und die BF2 ein paar Tage übernachtet und heute, am 27.07.2015, einen Asylantrag gestellt. Die von ihnen gebuchte Reise sei von einem Reisebüro organisiert worden. Zum Fluchtgrund führte der BF1 aus, er sei aus der Ukraine weggefahren, um einige Zeit nicht zu Hause sein zu müssen, weil er dort mit dem Tod bedroht werde. Am 02.05.2014 habe er an einer Demonstration der Gewerkschaft teilgenommen, wobei Maskierte ihn mitgenommen und geschlagen hätten. Er sei verletzt worden und am 03.05.2014 zum Arzt gegangen. Der BF1 habe Rippenbrüche und eine Gehirnerschütterung erlitten, er könne davon ein Attest besorgen. Später habe der BF1 dann Kriegsopfern in der Ostukraine geholfen, weshalb man ihn verfolgt habe. Aus diesem Grund sei er auch bedroht worden, er solle kämpfen. Der BF1 sei im Juni 2015 nach XXXX geflüchtet. Während ihrer Reise von Frankreich nach Salzburg habe der BF1 einen Anruf von einem Freund bekommen, der ihm gesagt hätte, Soldaten hätten ihr Haus besetzt. Dort würden nun angeblich Fremde wohnen und der Freund habe ihm mitgeteilt, er solle nicht mehr nach Hause kommen. Zu seinen Rückkehrbefürchtungen befragt, gab der BF1 an, er habe Angst umgebracht zu werden. Entweder in XXXX selbst oder bei den Kämpfen in der Ostukraine. Der BF1 habe einen Stempel in seinem Pass, in dem stehe, dass er keinen Wehrdienst mehr leisten müsse, dennoch würden sie ihn in den Kampf schicken wollen. Der BF1 könne das medizinische Attest der Verletzungen besorgen.

Die BF2 gab anlässlich ihrer ebenfalls am selben Tag abgehaltenen Erstbefragung an, sie sei verheiratet, habe keine Kinder und keine Geschwister, ihre letzte Wohnadresse sei ebenfalls in XXXX , an derselben Adresse an welcher ihr Mann gewohnt habe, gewesen. Die BF2 spreche muttersprachlich Russisch, gut Ukrainisch und Moldawisch. Sie sei der russischen Volksgruppe, sowie dem christlichen Glauben zugehörig und habe 11 Jahre Gesamtschule und 6 Jahre die Universität besucht. Sie sei Lehrerin für russische Literatur. Zuletzt habe sie bei einem Juwelier gearbeitet und der Bruder ihres Mannes hätte sie finanziell unterstützt. Der Vater der BF2 sei bereits vor 19 Jahren verstorben, ihre Mutter lebe noch in XXXX und sei 56 Jahre alt. In Österreich oder anderen EU-Ländern hätte die BF1 keine Familienangehörigen. Den Entschluss zur Ausreise, hätten sie vor einem Monat gefasst, als sie bei ihrer Mutter gewesen seien. Sie seien von XXXX mit dem Zug nach Lemberg gefahren und von dort mit dem Reisebus nach Ungarn. Die Ausreise sei legal mit ihrem Reisepass erfolgt. Am 11.07.2015 seien sie nach Ungarn eingereist und einen Tag später seien sie nach Wien weitergefahren. Die BF2 und ihr Mann seien mit dem Reisebus von Lemberg nach Ungarn gefahren, von dort nach Wien und nach einem weiteren Tag nach Amsterdam. Einen Tag später seien sie nach Belgien gereist und anschließend nach Paris, wo sie zwei Tage verblieben seien. Danach seien sie am 17.07.2015 nach Salzburg gekommen, wo der Bruder ihres Mannes sie abgeholt hätte und sie nach XXXX gefahren wären. Über das Reisebüro hätten sie ein Schengenvisum erhalten, glaublich sei es bis 02.08.2015 gültig gewesen. Zum Grund ihrer Flucht, führte sie aus, ihr Mann sei bedroht worden und hätte ins Kriegsgebiet gehen sollen. Man wisse, dass man dort nur Kanonenfutter sei. Die BF2 selbst sei nicht bedroht worden. Ihr Mann sei ein gutmütiger Mensch, er habe Kriegsopfern geholfen, was den Behörden nicht gepasst habe. Aus diesem Grund sei er verfolgt und bedroht worden. Bei einer Rückkehr fürchte die BF2 ihr Mann werde mitgenommen und würde es nicht überleben.

Das Bundesamt führte im Anschluss ein Konsultationsverfahren mit Ungarn, die sich mit Schreiben vom 07.10.2015, eingelangt am 08.10.2015, für die Führung der Verfahren der beschwerdeführenden Parteien gemäß Art. 12 (2) EU-Verordnung 604/2013, für zuständig erklärten. Nach ungenütztem Ablauf der Überstellungsfristen wurden die Verfahren im Bundesgebiet zugelassen.

Am 05.12.2017 wurden die beschwerdeführenden Parteien im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz einvernommen.

Der BF1 gab zusammengefasst an, er sei gesund und am XXXX in XXXX in Weißrussland geboren. Er habe einen ukrainischen Inlandsreisepass, einen ukrainischen Führerschein sowie ein Dokument über seine Identifikationsnummer und legte eine Kopien seiner Geburtsurkunde sowie seiner Heiratsurkunde vor. Dem BF1 wurde eine Frist zur Vorlage der Originale gesetzt. Der BF1 habe auch einen Auslandsreisepass gehabt, doch dieser sei bei der Reisegruppe verblieben. Ihnen sei gesagt worden, dass sie diese erst in der Ukraine zurückbekommen würden. Der BF1 sei Staatsangehöriger der Ukraine und habe zuletzt mit seiner Frau, der BF2, in XXXX an der Adresse XXXX gelebt. Er gehöre der Volksgruppe der Armenier an, sei christlichen Glaubens und beherrsche Russisch sowie Armenisch. Der BF1 habe in Armenien 8 Jahre die Grundschule und 3 Jahre das College besucht, im Anschluss habe er 6 Jahre in XXXX studiert. Er habe eine Ausbildung zum Sport-Masseur und habe im Herkunftsstaat als Nachrichtentechniker sowie Judo-Trainer ca. 30 Jahre lang gearbeitet. In der Ukraine habe der BF1 keine Verwandten und habe er keine Kinder. In XXXX wohne noch einer seiner Cousins, der die österreichische Staatsbürgerschaft besitze. Die Ukraine habe der BF1 etwa am 11.07.2015 über Lemberg nach Budapest verlassen. Am nächsten Tag seien sie nach Wien gefahren und in Europa herumgereist. Am 17.07.2015 sei er legal und endgültig nach Österreich gekommen, wobei er ein Touristenvisum gehabt habe. Ursprünglich habe der BF1 nicht vorgehabt zu bleiben. Derzeit bestreite der BF1 seinen Lebensunterhalt von der Grundversorgung und mache kleinere inoffizielle Arbeiten bei Privatpersonen. Er habe nach einer Operation in XXXX in XXXX gelebt. Seine Frau habe dort im Kindergarten gearbeitet und der BF1 als Elektriker sowie Hausmeister. Danach seien sie von XXXX nach XXXX verlegt worden, wo der BF1 in der Kantine gearbeitet habe. Sie hätten sich nie etwas zu Schulden kommen lassen.

Der BF1 sei im Herkunftsland als Opfer aus eigenem Antrieb bei der Staatsanwaltschaft, der Polizei bzw. dem Gericht gewesen. Probleme mit Sicherheitsorganen/Sicherheitsbehörden, Gerichten oder dem Militär habe der BF1 im Herkunftsstaat gehabt. Der BF1 sei in der Ukraine politisch tätig gewesen, indem er gegen den Krieg gewesen sei. Sie hätten Leuten geholfen, die ausgebombt gewesen seien. Wohltätige Tätigkeiten seien das gewesen, offiziell sei der BF1 nirgends politisch registriert gewesen. Er sei freiwilliger Helfer gewesen.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF1 an, dass am 02.05.2014 die Ereignisse im Klukovo pole (Gewerkschaftshaus) stattgefunden hätten. Gegen 15 Uhr seien Leute mit Masken und Carmouflage-Anzügen gekommen, die um sich geschlagen hätten. Der BF1 sei zusammengeschlagen worden und habe das Bewusstsein verloren, wobei er nicht wisse, wie lange er bewusstlos gewesen sei. Zu ihm seien zwei Leute gekommen und hätten ihm geholfen aufzustehen. Er habe gesehen, dass das Gewerkschaftshaus gebrannt habe und Leute geschrien hätten. Ihm sei geholfen worden zur Straße zu gehen, dort habe der BF1 ein Taxi genommen und sei nach Hause gefahren. Am nächsten Tag habe der BF1 erfahren, dass viele Leute gestorben seien, er sei zur Polizei gegangen und habe Anzeige erstattet. Der BF1 legte in diesem Zusammenhang schwer leserliche Befunde vor. Aus einer Bestätigung gehe hervor, dass er eine Gehirnerschütterung und einen Rippenbruch erlitten habe.

Die Polizei habe dem BF1 gesagt, dass sie sich mit dieser Frage nicht beschäftigen würden und hätten ihm mitgeteilt, er solle nach Hause gehen. Sie hätten sich seine Adresse aufgeschrieben. Später seien zwei Leute in Zivilkleidung zum BF1 nach Hause gekommen, die sich als Strafverfolger ausgewiesen dem BF gedroht hätten, wenn er etwas sage, würden sie ihm Waffen oder Drogen unterjubeln und ihn für 7-8 Jahre ins Gefängnis sperren oder der BF1 müsse nach Donezk, um für die Ukraine zu kämpfen und fange sich eine Kugel ein. Nach einiger Zeit habe der BF1 einen Einberufungsbefehl bekommen, wobei er mit seiner Wehrdienstkarte und seinem Pass hingegangen sei. Der Stellungsbeamte habe ihn gefragt, ob er nochmals dem Vaterland dienen will, was der BF1 mit nein beantwortet habe, da er bereits zwei Jahre gedient habe. Der BF1 sei Kommandant einer Radartruppen-Einheit gewesen. Der Stellungsbeamte habe ihm gesagt, die Zeiten seien sehr schwer, man könne den BF1 jederzeit auf der Straße mitnehmen und in den Krieg schicken. Er habe den BF1 nach seinem Pass gebeten und ihm einen Stempel in den Inlandspass gegeben, dass er von der Wehrpflicht befreit sei. Dem BF1 sei gesagt worden, er solle den Stempel herzeigen, wenn er auf der Straße angehalten werde. Der BF1 habe sich 1 bis 1 ½ Monate aufgrund seiner gebrochenen Rippe auskuriert, dann seien zwei Polizisten zu ihm nach Hause gekommen und hätten gefragt, ob er Herr XXXX wäre. Er habe bejaht und sie hätten ihn im Anschluss mitgenommen. Der BF1 sei mit ihnen aus dem Haus gegangen, um die Ecke sei ein geschlossener LKW gestanden, sie hätten die Türen geöffnet und dem BF1 mit vorgehaltenem Sturmgewehr gesagt, dass er hineingehen solle. Der BF1 sei hineingegangen, dort seien 6 oder 7 Männer verschiedenen Alters gesessen. Die Türen seien geschlossen worden und sie seien gefahren, wohin habe der BF1 nicht gewusst. Als er stärkere Bodenunebenheiten gespürt habe, habe er gewusst, dass sie aus der Stadt hinausgeführt würden. Als die Türen aufgemacht worden seien, habe der BF1 etwas gesehen, was wie eine ehemalige Militärbasis ausgesehen habe, aber mit zerstörten Gebäuden. Dort seien viele Leute sowie Autos gewesen und der BF1 habe verstanden, dass sein Leben zu Ende gehe und er etwas tun müsse. Viele Zivilisten hätten Leute aussortiert und irgendwo hingeschickt. Um dieses Gebäude seien Leute mit Sturmgewehren gestanden. Der BF1 sei erschrocken und habe beschlossen zu flüchten. Er und ein Mann namens XXXX , er sei aus XXXX gewesen, hätten sich im Dickicht versteckt und bis zur Dunkelheit gewartet. Sie hätten sich am Licht orientiert und seien auf eine Straße zugegangen. Sie hätten vermeiden wollen Soldaten zu begegnen und gleichzeitig ein Auto anhalten wollen, um nach XXXX zurückzukommen. Nach 30 Minuten sei ein LKW vorbeigekommen, den sie angehalten hätten. Der Fahrer habe gesagt, sie könnten aufsteigen, er fahre zur LKW Garage. Beim Bahnhof sei XXXX ausgestiegen und nach Hause gefahren. Der BF1 habe ein Taxi genommen und sei ebenfalls nach Hause gefahren. Gegen halb 11 nachts habe er seine Frau angerufen und ihr gesagt, sie solle ihre Dokumente und Wertsachen einpacken, weil sie wegfahren würden. Im Anschluss hätten sie sich ins Auto gesetzt und seien in der Nacht zur Schwiegermutter des BF1 in die Stadt XXXX gefahren, die etwa 250 km entfernt liege. Der BF1 sei in Kontakt mit den Leuten geblieben, die mit ihm gemeinsam die wohltätige Aktivität ausgeübt hätten, um zu erfahren, was mit seinem Haus geschehe. Sie hätten ihm gesagt, viele Nachbarn hätten nach dem BF1 gefragt und würden in der Nähe seines Hauses ständig Autos mit abgedunkelten Scheiben stehen, die observieren würden, ob sich jemand in der Nähe aufhalte. Sie hätten dem BF1 gesagt, dass viele von jenen, die an diesem Tag beim Gewerkschaftshaus gewesen seien, eingesperrt oder umgebracht worden seien. Der BF1 hätte gedacht, alles würde schnell vorbeigehen, aber das Gegenteil sei passiert. Ihm sei gesagt worden, dass die Fenster seines Hauses eingeschlagen worden seien und Fremde sein Haus in Besitz genommen hätten. Der BF1 habe nachgedacht, was er tun solle. Zurückkehren habe er nicht können, er würde umgebracht und auch in XXXX früher oder später gefunden werden. Der BF1 habe nicht glauben können, dass so etwas im 21. Jahrhundert noch möglich sei und habe erkannt, dass ihm das Leben das Wichtigste sei, weshalb er seiner Frau vorgeschlagen habe, eine Art Hochzeitsreise zu machen, um sich abzulenken. Der BF1 habe diese Tour für zwei Personen gebucht und habe gedacht, es würde alles in Ordnung kommen, wenn er zurückkehre. Seine Kameraden, mit denen er in Kontakt geblieben sei, hätten ihm gesagt, dass manche von ihnen ins Ausland geflüchtet seien und andere getötet worden seien. Als der BF1 mit seinem Cousin in XXXX gesprochen habe, hätte dieser zu ihm gesagt, der BF1 solle wählen, entweder er kehre zurück, oder er vertraue sich den österreichischen Behörden an. Sie seien in der Früh in Salzburg gesessen und er habe nicht gewusst, ob er das richtige tue, aber er habe sich letztendlich entschlossen hierzubleiben. Als Beleg für seine Fluchtgeschichte habe der BF1 Befunde vorgelegt und den Stempel über die Befreiung gezeigt.

Nachgefragt bestehe gegen den BF1 kein Haftbefehl. Es sei nicht offiziell gemacht worden, so, dass die Mehrheit der Bevölkerung darüber nichts erfahre. Befragt dazu, was das für eine Demonstration beim Gewerkschaftshaus gewesen sei, gab der BF1 an, dass der 1. Mai als Feiertag abgesagt worden sei, weil Angst vor Anschlägen bestanden habe, weshalb Veranstaltungen auf den 2. Mai verlegt worden seien. Man müsse verstehen, dass in der Ukraine jetzt Faschismus herrsche und die Behörden einen umbringen könnten, weil man einer Minderheit angehöre sowie ein schönes Haus habe, weil das Nazis seien. Der BF1 sei bereit sein Haus dort zu verkaufen und sich hier niederzulassen. Er möge Österreich, es gefalle ihm sehr sich zu integrieren, zu arbeiten und seine Individualität zum Ausdruck zu bringen. Er bedanke sich bei Österreich, dass er aufgenommen worden und auf die Beine gebracht worden sei. Nachgefragt, wo die Militärbasis gewesen sei, meinte der BF1, dass er ja in einem geschlossenen LKW hingeführt worden sei. Es sei auf nicht bewohntem Gebiet, sondern weit entfernt der Stadt gewesen. Die Flucht konnte gelingen, weil ein Getümmel an Zivilisten stattgefunden habe und sie den Moment abgewartet hätten, als einer der Leute mit einem Sturmgewehr seine Notdurft verrichtet habe und sie hätten sich im Gebüsch versteckt. Der BF1 sei niemals strafrechtlich verurteilt worden. Bei einer Rückkehr würde er früher oder später umgebracht. Sie könnten ihn erschießen, erstechen oder erschlagen und würden ihm das Haus wegnehmen wollen. Aber wenn der BF1 bleiben dürfe, dann würde er das Haus verkaufen und würde das Geld hier anlegen. Er habe dort 20 Jahre gelebt, wolle aber nicht zurückkehren.

Die BF2 gab bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme am selben Tag im Wesentlich an, sie sei gesund und am XXXX in XXXX , der Ukraine geboren. Sie könne ihren Inlandsreisepass in Vorlage bringen. Die BF2 habe einen internationalen Reisepass gehabt, der jedoch bei der Reiseführerin verblieben sei, weitere Dokumente habe sie nicht. Sie sei Staatsangehörige der Ukraine und ihr letzter Lebensmittelpunkt sei in der Ukraine gemeinsam mit ihrem Ehemann gewesen. Die BF2 gehöre der Volksgruppe der Russen an und sei christlichen Glaubens. Sie spreche Ukrainisch, Russisch sowie ein bisschen Moldawisch und habe in der Ukraine 11 Jahre die Grundschule in XXXX besucht. Danach habe sie 6 Jahre die Universität in XXXX besucht, wo sie Russisch und Literatur studiert habe. Darüber hinaus habe sie einen Kurs für Maniküre und Pediküre gemacht. Zuletzt habe sie in XXXX fünf Jahre lang bei einem Juwelier gearbeitet und davor sei sie zwei Jahre Produktionsleiterin in einer Bettfedern Fabrik gewesen. Im Herkunftsstaat lebe noch ihre Mutter, sonst habe sie niemanden. Die BF2 habe keine Kinder und in Österreich oder der EU keine Angehörigen. Am 16. Oder 17.07.2015 sei die BF2 mit ihrem Ehemann endgültig nach Österreich eingereist, wobei sie ein Touristenvisum gehabt hätten. In Österreich lebe die BF2 mit ihrem Mann zusammen und würden sie ihren Lebensunterhalt durch die Grundversorgung bestreiten. Seit 16 Monaten seien sie in XXXX , vorher seien sie in XXXX gewesen. Die BF2 habe im Kindergarten in XXXX gearbeitet und ihr Mann in der Küche. Sie seien danach verlegt worden, wobei sie 1 ½ Monate in einem Dorf gelebt hätten, wo die BF2 ebenfalls im Kindergarten gearbeitet habe. In XXXX habe die BF2 auch immer gearbeitet. Aus eigenem Antrieb sei die BF2 lediglich einmal bei der Polizei gewesen, nämlich als ihr Mann geschlagen worden sei und ihnen mitgeteilt worden sei, die Anzeige werde nicht entgegengenommen. Die BF2 habe niemals persönlich Probleme mit Sicherheitsbehörden, Gerichten oder dem Militär gehabt. Sie erklärte vor dem BFA ausdrücklich, dass sich ihr Antrag auf das Asylverfahren ihres Mannes beziehen solle und sie keine eigenen Fluchtgründe habe.

Die BF2 sei im Herkunftsstaat niemals politisch oder religiös tätig oder Mitglied einer Partei gewesen. Außerdem sei sie nie strafgerichtlich verurteilt worden. Befragt, was sie konkret bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat erwarten würde, gab sie an, gar nicht zu wissen, was sie antworten solle. Sie müsste hinfahren um das herauszufinden.

Mit Schriftsatz vom 21.12.2017 brachte der rechtsfreundliche Vertreter der BF1-BF2 eine Stellungnahme zu den Länderberichten ein, wobei zusammenfassend ausgeführt wurde, dass der SBU Menschen foltere, die verdächtig seien „pro-separatistisch“ zu sein und der BF1 die Ukraine während aufrechter Mobilmachung verlassen habe. In der Folge wurde zu den Desertionsfolgen Stellung genommen und ausgeführt, dem BF1 werde eine feindliche politische Gesinnung auf Grund von Desertion zu Mobilmachungszeiten unterstellt.

2. Mit den im Familienverfahren ergangenen angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine (Spruchpunkte II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die beschwerdeführenden Parteien eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für deren freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte IV.).

Die Behörde stellte die Staatsangehörigkeit, Religion, Volksgruppenzugehörigkeit und die absolvierte Ausbildung der beschwerdeführenden Parteien fest. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die beschwerdeführenden Parteien in der Ukraine einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen wären oder eine solche künftig zu befürchten hätten. Der BF1 habe keine gegen ihn gerichteten Verfolgungshandlungen glaubhaft gemacht. Der BF1 sei zwar nach dem Angriff gegen ihn zur Polizei gegangen, doch hätten diese sich mit seiner Anzeige nicht beschäftigt. Aus den Länderberichten gehe hervor, dass der Ombudsmann Untersuchungen von Verfehlungen der Sicherheitsbehörden initiieren könne. Aus der Einvernahme des BF1 gehe nicht hervor, dass er versucht hätte diesen rechtsstaatlich möglichen Weg zu bestreiten. Merkwürdig sei außerdem, dass es dem BF1 gelungen sei von jenem Militärgelände auf so einfach Weise zu flüchten und vor allem nach Hause zu fahren. Es wäre denkbarer gewesen, Sicherheitsbeamte hätten den BF1 zu Hause bereits erwartet oder seine Frau befragt, schließlich habe die Flucht des B1 mehrere Stunden gedauert. Im Rahmen seiner Erstbefragung habe der BF1 angegeben, ein Freund habe ihn während der Reise angerufen und ihm gesagt, Soldaten hätten sein Haus besetzt und, dass er nicht mehr zurückkehren solle. Widersprüchlich dazu gehe aus seiner Einvernahme vor dem BFA hervor, dass der BF1 die Information über die Beschlagnahme des Hauses bereits in der Ukraine gehabt hätte. Außerdem habe der BF1 in seiner Einvernahme angegeben, über die Frage der Rückkehr mit seinem Cousin gesprochen zu haben. Überdies seien die beschwerdeführenden Parteien mit einem Touristenvisum legal ausgereist, was wohl nicht möglich gewesen wäre, wären sie tatsächlich im Herkunftsstaat verfolgt worden. Dieser Umstand wiege umso schwerer, als zwischen den Ereignissen beim Gewerkschaftshaus, der Militärbasis und ihrer innerstaatlichen Flucht bis zur Ausreise nach Europa mehr als ein Jahr vergangen sei, in der es möglich gewesen wäre den BF1 und seine Frau aufzuspüren. Insgesamt ist davon auszugehen, dass der BF1 rund um den Brand des Gewerkschaftshauses, der tatsächlich stattgefunden habe, eine Fluchtgeschichte konstruiert habe. Die BF2 habe bezogen auf ihre eigene Person keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht, sondern sich auf die ihres Mannes bezogen. Es habe bei Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden können, dass die beschwerdeführenden Parteien im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland dort einer realen Gefahr für ihr Leben oder ihre Unversehrtheit ausgesetzt wären.

Der BF1 und die BF2 seien arbeitsfähig und arbeitswillig, weshalb sie in der Lage seien ihren Lebensunterhalt selbst zu sichern.

Da keinem der Familienmitglieder der Status eines Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden wäre, sei die Ableitung eines entsprechenden Status im Wege des Familienverfahrens jeweils nicht in Betracht gekommen. Ebensowenig seien Gründe für die amtswegige Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 zu Tage getreten.

Die beschwerdeführenden Parteien würden in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt leben und hätten keine weiteren engen Familienangehörigen im Bundesgebiet. Sie seien weder Mitglieder in Vereinen oder anderen Organisationen. Zwar hätten sie immer wieder Tätigkeiten verrichtet, doch keine österreichischen Freunde und keine nachweislichen Deutschkenntnisse, weshalb keine vertiefenden Formen der Integration geltend gemacht wurden. Die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung würden daher gegenüber den privaten Interessen der beschwerdeführenden Parteien an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen, sodass sich der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung als verhältnismäßig erweise.

3. Gegen diese, den beschwerdeführenden Parteien am 21.03.2018 zugestellten, Bescheide brachte der nunmehr bevollmächtigte Vertreter der beschwerdeführenden Parteien mit – für alle Beschwerdeführer gleichlautendem – Schriftsatz vom 18.04.2018, fristgerecht vollumfänglich Beschwerde wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und inhaltlicher Rechtswidrigkeit ein. Begründend wurde darin im Wesentlichen ausgeführt, der belangten Behörde sei eine Verletzung ihrer Ermittlungspflicht iSd Rechtsprechung des VfGH, VwGH und des BVwG vorzuwerfen, indem sie eine antizipierende Beweiswürdigung durchgeführt habe. In ihrer Beweiswürdigung habe die belangte Behörde nicht ausgeführt, wieso sie das Vorbringen des BF1 für unglaubwürdig erachte. Überdies sei in der Beweiswürdigung das Vorbringen des BF1 wiederholt worden und habe die belangte Behörde ohne Quellen eine nicht angebrachte Einschätzung zu Arisierungen im Nationalsozialismus abgegeben sowie als Conclusio festgestellt, dass um den Brand des Gewerkschaftshauses, der tatsächlich stattgefunden habe, eine Fluchtgeschichte konstruiert worden sei. Weiters habe die belangte Behörde zu den Desertionsfolgen während des Kriegszustandes in der Ukraine nicht ermittelt und keine Feststellungen im Falle der Rückkehr eines Deserteurs trotz geleistetem Grundwehrdienst getroffen. In den Länderberichten werde auch entgegen der Feststellungen der Behörde ausgeführt, dass Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsbehörden stattfinden, ua. Folter, Verschwindenlassen und willkürliche Verhaftungen, was das Vorbringen des BF1 bestätige. Der SBU foltere Menschen, die verdächtig seien „pro-separatistisch“ zu sein. Aufgrund der gewerkschaftlichen Demonstration des BF1 gegen die amtierende Regierung sei ein unterstellter Verdacht einer pro-separatistischen Neigung auch naheliegend. Auch zu den nicht ermittelten Desertionsfolgen würden die Länderfeststellungen ausführen, dass der BF1 gemäß des ukrainischen Strafgesetzbuches mit einer mehrjährigen Haftstrafe zu rechnen habe. Desertion und Nichtbefolgung der Mobilisierung werde in der Ukraine verfolgt. Der Verfolgungstrend sei auch stark angestiegen, aktuelle Daten würden jedoch fehlen. Ebenso hätte die Behörde die Augen nicht vor der augenscheinlich drohenden Art 3 EMRK Verletzung verschließen dürfen. Da diese ausführe, der BF1 sei ein ehemaliger Soldat, der während aufrechter Mobilmachung geflohen sei, hätte sie zu den Haftbedingungen absprechen müssen. Diese seien eine ernste Gefahr für die Gesundheit und das Leben der Insassen. Beim BF1 sei jedenfalls eine Prüfung wegen unterstellter feindlicher politischer Gesinnung auf Grund von Desertion zu Mobilmachungszeiten vorzunehmen, weil die Haftbedingungen die asylrelevante Schwelle der unmenschlichen Bestrafung erreichen würden. Auf ein faires Verfahren könne der BF1 jedenfalls nicht hoffen. Gerade im Falle des BF1, einem ehemaligen Soldaten, der gewerkschaftlich aktiv gewesen sei und sich nachweislich der Mobilisierung entzogen habe, würden mangelhafte Feststellungen und ein unterlassenes Ermittlungsverfahren die reale Gefahr einer Art. 3 EMRK Verletzung schaffen. Die Ukraine verfolge auf von ihr kontrolliertem Gebiet Wehrdienstverweigerer und könne dem BF1 nicht zugemutet werden bei Separatisten um Schutz vor den regulären Sicherheitskräften anzusuchen. Der BF1 verfüge daher in der gesamten Ukraine über keine innerstaatliche Fluchtalternative. Die belangte Behörde hätte sohin zu dem für die Beschwerdeführer günstigen Ereignis gelangen müssen, dass dem BF1 einerseits auf Grund seiner gewerkschaftlichen Tätigkeit, andererseits wegen der Desertion eine feindliche politische Gesinnung unterstellt werde. Die belangte Behörde müsse dem BF1 sohin aufgrund der Unverhältnismäßigkeit der Desertionsstrafe in der Ukraine aufgrund der ihm unterstellten feindlichen politischen Gesinnung Asyl zuerkennen. Neben der momentanen Sicherheitslage, sei die Versorgung von Binnenvertriebenen nicht gewährleistet, weshalb die BF im Falle einer Überstellung einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK zu rechnen hätten und ihnen subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei. Bei der erlassenen Rückkehrentscheidung, hätte sich die belangte Behörde näher mit der Situation von Rückkehrern aus Europa auseinandersetzen müssen. Die Länderberichte würden festhalten, dass Rückkehrer momentan keine Chance hätten sich eine Existenz aufzubauen, da ehemals in der Ostukraine ansässige Staatsangehörige in der Westukraine verdächtigt und diskriminiert würden. Außerdem hätte sich die Behörde mehr mit dem Kindeswohl beschäftigen müssen, weil die mj. Kinder bereits einen Großteil ihres Lebens in Österreich verbracht hätten. Hätte die Behörde die vorgelegten Beweise berücksichtigt, hätte sie aufgrund der hervorragenden Integration, der Deutschkenntnisse, der sozialen Kontakte, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Unbescholtenheit sowie des Behördenverschuldens an der Aufenthaltsdauer zumindest einen humanitären Aufenthaltstitel zuerkennen müssen.

4. Die Beschwerdevorlagen in den Verfahren der beschwerdeführenden Parteien langten am 23.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit Eingaben vom 02.02.2021 übermittelte der rechtsfreundliche Vertreter aktuelle Unterlagen zur Integration der BF1-BF2.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Ukraine, Angehörige der armenischen (BF1) bzw. der russischen (BF2) Volksgruppe und bekennen sich zum christlichen Glauben. Der BF1 und die BF2 sind standesamtlich und traditionell miteinander verheiratet. Sie reisten gemeinsam legal zunächst am 12.07.2015 über Ungarn in das österreichische Bundesgebiet ein und absolvierten eine 5-tägige Reise durch Europa. Am 17.07.2015 reisten sie erneut in das Bundesgebiet ein und stellten am 27.07.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Seither halten sie sich durchgehend im Bundesgebiet auf.

Der BF1 ist in XXXX in Weißrussland geboren und hat in Armenien 8 Jahre die Grundschule und drei Jahre das College besucht. Im Anschluss hat der BF1 sechs Jahre die Universität in XXXX besucht und erfolgreich Nachrichtentechnik studiert. Außerdem hat er eine Ausbildung zum Sport-Masseur gemacht und im Herkunftsstaat als Nachrichtentechniker sowie Judo-Trainer 30 Jahre lang gearbeitet. Der Vater des BF ist vor 7 Jahren verstorben, seine Mutter und sein Bruder leben noch in Armenien.

Die BF2 ist in XXXX , in der Ukraine, geboren und hat dort 11 Jahre die Grundschule besucht. Im Anschluss hat sie 6 Jahre die Universität in XXXX , der Republik Moldawien, besucht und Russisch sowie Literatur erfolgreich studiert. In der Ukraine hat die BF2 die letzten 5 Jahre bei einem Juwelier und zuvor zwei Jahre als Produktionsleiterin in einer Bettfedern Fabrik gearbeitet. Ihr Vater ist bereits vor 19 Jahren verstorben, ihre Mutter lebt noch in XXXX . Die BF2 hat keine Geschwister.

Zuletzt haben die beschwerdeführenden Parteien zusammen in XXXX , ul. XXXX gewohnt, einem Haus im Eigentum der BF1-BF2, gewohnt.

Der BF1 spricht muttersprachlich Armenisch und sehr gut Russisch. Die BF2 spricht muttersprachlich Russisch und gut Ukrainisch sowie etwas Moldawisch.

1.2. Es kann nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführenden Parteien im Falle einer Rückkehr in die Ukraine aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wären. Die BF2 hat in Bezug auf ihre eigene Person keine individuellen Rückkehrbefürchtungen geäußert. Die BF2 berief sich auf die Fluchtgründe des BF1.

1.3. Eine Rückkehr der beschwerdeführenden Parteien nach XXXX ist möglich. Die grundlegende Versorgung der Bevölkerung ist dort gewährleistet. Außergewöhnliche Umstände, die eine Rückkehr der Beschwerdeführer nach XXXX ausschließen würden, konnten nicht festgestellt werden.

Es besteht für die BF1-BF2 als leistungsfähige Personen im berufsfähigen Alter, die an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten leiden, sowie über einen familiären Anknüpfungspunkt in der Person der Mutter der BF2 im Herkunftsstaat verfügen, im Falle einer Rückkehr nach XXXX keine reale Bedrohungssituation für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit. Die beschwerdeführenden Parteien liefen nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die BF1-BF2 sind gesund und konnten ihren Lebensunterhalt in der Ukraine in der Vergangenheit stets problemlos eigenständig bestreiten. Darüber hinaus haben Beschwerdeführer die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Die BF2-BF2 sind gesund und befinden sich weder in ärztlicher Behandlung, noch nehmen sie Medikamente. Die beschwerdeführenden Parteien leiden jeweils an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

1.4. Die unbescholtenen BF1-BF2 leben in einem gemeinsamen Haushalt einer Mietwohnung in XXXX , führen untereinander ein Familienleben und bestreiten ihren Lebensunterhalt durch staatliche Grundversorgungsleistungen. Sie haben während ihres über fünfjährigen Aufenthalts eine vertiefte Integration im Bundesgebiet erlangt. Der BF1 hat während seines Aufenthalts in XXXX als Elektriker und Hausmeister gearbeitet. Die BF2 hat im örtlichen Kindergarten mitgeholfen. Während ihres einmonatigen Aufenthalts in XXXX war der BF1 in einer Kantine beschäftigt und die BF2 hat erneut im örtlichen Kindergarten geholfen. Zumindest am 31.01.2018 haben der BF1 und die BF2 am Projekt Integration ab Tag 1 Alphabetisierung, Basisbildung und Deutschkurse teilgenommen. Von 24.09.2018 bis 19.12.2018 sowie von 11.02.2019 bis 17.05.2019 haben der BF1 und die BF2 Deutschkurse auf Sprachniveau A2 besucht. Die Integrationsprüfung auf Sprachniveau A2 am 17.12.2018 haben die beschwerdeführenden Parteien jedoch nicht bestanden. Der BF1 verfügt über einen aktuellen Arbeitsvorvertrag als Hilfsarbeiter sowie über eine Einstellungszusage als Küchenmonteur.

Der BF1 verfügt im Bundesgebiet über einen Cousin, der in XXXX wohnt und österreichischer Staatsbürger ist. Weitere Angehörige haben die beschwerdeführenden Parteien weder im Bundesgebiet, noch in der EU.

Die beschwerdeführenden Parteien haben sich einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet aufgebaut, mit welchem sie regelmäßig ihre Freizeit verbringen und sind in das Gemeindeleben ihrer Wohngemeinde sehr gut integriert.

Der Lebensmittelpunkt der beschwerdeführenden Parteien befindet sich zwischenzeitlich in Österreich, wohingegen sie zu ihrem Herkunftsstaat nur mehr vergleichswiese geringere Bindungen aufweisen. Aufgrund der seitens der beschwerdeführenden Parteien gesetzten Integrationsschritte würde eine Rückkehrentscheidung einen ungerechtfertigten Eingriff in deren Privat- und Familienleben darstellen.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat:

1.       Sicherheitslage

Der nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch vom mit großer Mehrheit bereits im ersten Wahlgang am 07.06.2014 direkt zum Präsidenten gewählte Petro Poroschenko verfolgt eine europafreundliche Reformpolitik, die von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wird. Diese Politik hat zu einer Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren geführt, obwohl Russland im März 2014 die Krim annektierte und seit Frühjahr 2014 separatistische „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine unterstützt (AA 7.2.2017).

Die ukrainische Regierung steht für einen klaren Europa-Kurs der Ukraine und ein enges Verhältnis zu den USA. Das 2014 von der Ukraine unterzeichnete und ratifizierte Assoziierungsabkommen mit der EU ist zum Jahresbeginn 2016 in Kraft getreten und bildet die Grundlage der Beziehungen der Ukraine zur EU. Es sieht neben der gegenseitigen Marktöffnung die Übernahme rechtlicher und wirtschaftlicher EU-Standards durch die Ukraine vor. Das Verhältnis zu Russland ist für die Ukraine von zentraler Bedeutung. Im Vorfeld der ursprünglich für November 2013 geplanten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens übte Russland erheblichen Druck auf die damalige ukrainische Regierung aus, um sie von der EU-Assoziierung abzubringen und stattdessen einen Beitritt der Ukraine zur Zollunion/Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft herbeizuführen. Nach dem Scheitern dieses Versuchs und dem Sturz von Präsident Janukowytsch verschlechterte sich das russisch-ukrainische Verhältnis dramatisch. In Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen und bilateraler Verträge annektierte Russland im März 2014 die Krim und unterstützt bis heute die bewaffneten Separatisten im Osten der Ukraine (AA 2.2017c).

Die sogenannten „Freiwilligen-Bataillone“ nehmen offiziell an der „Anti-Terror-Operation“ der ukrainischen Streitkräfte teil. Sie sind nunmehr alle in die Nationalgarde eingegliedert und damit dem ukrainischen Innenministerium unterstellt. Offiziell werden sie nicht mehr an der Kontaktlinie eingesetzt, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, eventuell auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von allerdings teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse von UNHCHR, Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlung wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen (AA 7.2.2017).

Seit Ausbruch des Konflikts im Osten der Ukraine in den Regionen Lugansk und Donezk im April 2014 zählte das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der UN (OHCHR) 33.146 Opfer des Konflikts, davon 9.900 getötete und 23.246 verwundete Personen (inkl. Militär, Zivilbevölkerung und bewaffnete Gruppen). Der Konflikt wird von ausländischen Kämpfern und Waffen, die nach verschiedenen Angaben aus der Russischen Föderation in die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete (NGCA) gebracht werden, angeheizt. Zudem gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen sind betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Der bewaffnete Konflikt stellt einen Bruch des Internationalen Humanitären Rechts und der Menschenrechte dar. Der Konflikt wirkt sich auf die ganze Ukraine aus, da es viele Kriegsrückkehrern (vor allem Männer) gibt und die Zahl der Binnenflüchtlinge (IDPs) hoch ist. Viele Menschen haben Angehörige, die getötet oder entführt wurden oder weiterhin verschwunden sind. Laut der Special Monitoring Mission der OSZE sind täglich eine hohe Anzahl an Brüchen der Waffenruhe, die in den Minsker Abkommen vereinbart wurde, zu verzeichnen (ÖB 4.2017).

Russland kontrolliert das Gewaltniveau in der Ostukraine und intensiviert den Konflikt, wenn es russischen Interessen dient (USDOS 3.3.2017a).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (7.2.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/file_upload/4598_1488455088_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-januar-2017-07-02-2017.pdf, Zugriff 31.5.2017

-        AA – Auswärtiges Amt (2.2017b): Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017

-        AA – Auswärtiges Amt (2.2017c): Außenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Aussenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017

-        ÖB – Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine

-        USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 12.7.2017

Ostukraine

Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim durch Russland im März 2014 rissen pro-russische Separatisten in einigen Gebieten der Ost-Ukraine die Macht an sich und riefen, unterstützt von russischen Staatsangehörigen, die „Volksrepublik Donezk“ und die „Volksrepublik Lugansk“ aus. Der ukrainische Staat begann daraufhin eine sogenannte Antiterroroperation (ATO), um die staatliche Kontrolle wiederherzustellen. Bis August 2014 erzielten die ukrainischen Kräfte stetige Fortschritte, danach erlitten sie jedoch - bedingt durch militärische Unterstützung der Separatisten aus Russland - zum Teil schwerwiegende Verluste. Die trilaterale Kontaktgruppe mit Vertretern der Ukraine, Russlands und der OSZE bemüht sich darum, den militärischen Konflikt zu beenden. Das Minsker Protokoll vom 5. September 2014, das Minsker Memorandum vom 19. September 2014 und das Minsker Maßnahmenpaket vom 12. Februar 2015 sehen unter anderem eine Feuerpause, den Abzug schwerer Waffen, die Gewährung eines „Sonderstatus“ für einige Teile der Ost-Ukraine, die Durchführung von Lokalwahlen und die vollständige Wiederherstellung der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze vor. Die von der OSZE-Beobachtermission SMM überwachte Umsetzung, etwa des Truppenabzugs, erfolgt jedoch schleppend. Die Sicherheitslage im Osten des Landes bleibt volatil (AA 2.2017b).

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten der Oblaste Donezk und Lugansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Berichte der OSZE-Beobachtermission, von Amnesty International sowie weiteren NGOs lassen den Schluss zu, dass es nach Ausbruch des Konflikts im März 2014 in den von Separatisten kontrollierten Gebieten zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Dazu zählen extralegale Tötungen auf Befehl örtlicher Kommandeure ebenso wie Freiheitsberaubung, Erpressung, Raub, Entführung, Scheinhinrichtungen und Vergewaltigungen. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte spricht von einem „vollständigen Zusammenbruch von Recht und Ordnung“, von einem „unter den Bewohnern vorherrschenden Gefühl der Angst, besonders ausgeprägt in der Region Lugansk“, sowie einer durch „fortgesetzte Beschränkungen der Grundrechte, die die Isolation der in diesen Regionen lebenden Bevölkerung verschärft, sowie des Zugangs zu Informationen“ gekennzeichneten Menschenrechtslage. Die Zivilbevölkerung ist der Willkür der Soldateska schutzlos ausgeliefert, Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit sind faktisch suspendiert. Nach UN-Angaben sind seit Beginn des bewaffneten Konflikts über 10.000 Menschen umgekommen. Es sind rund 1,7 Mio. Binnenflüchtlinge registriert und ca. 1,5 Mio. Menschen sind in Nachbarländer geflohen. Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt: Die Sicherheitslage hat sich verbessert, auch wenn Waffenstillstandsverletzungen an der Tagesordnung bleiben. Der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland) stockt jedoch trotz hochrangiger Unterstützung im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt neben den Lokalwahlen im besetzten Donbas der Dezentralisierungsprozess für den Donbas, den die Rada noch nicht abgeschlossen hat. In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Lugansk wird die staatliche Ordnung erhalten oder wieder hergestellt, um Wiederaufbau sowie humanitäre Versorgung der Bevölkerung zu ermöglichen (AA 7.2.2017).

Die von Russland unterstützten Separatisten im Donbas verüben weiterhin Entführungen, Folter und unrechtmäßige Inhaftierung, rekrutieren Kindersoldaten, unterdrücken abweichende Meinungen und schränken humanitäre Hilfe ein. Trotzdem dies offiziell weiterhin abgestritten wird, kontrolliert Russland das Ausmaß der Gewalt in der Ostukraine und eskaliert den Konflikt nach eigenem politischen Gutdünken. Die separatistischen bewaffneten Gruppen werden weiterhin von Russland trainiert, bewaffnet, geführt und gegebenenfalls direkt im Einsatz unterstützt. Die Arbeit internationaler Beobachter wird dabei nach Kräften behindert. Geschätzte 70 Quadratkilometer landwirtschaftlicher Flächen in der Ostukraine wurden von den beiden Seiten vermint, speziell nahe der sogenannten Kontaktlinie. Diese Verminungen sind oft schlecht markiert und stellen eine Gefahr für Zivilisten dar. Bis zu 2.000 Zivilisten sollen im ostukrainischen Konfliktgebiet umgekommen sein, meist durch Artilleriebeschuss bewohnter Gebiete. Die Zahl derer, die durch Folter und andere Menschenrechtsverletzungen umgekommen sein dürften, geht in die Dutzende. 498 Personen (darunter 347 Zivilisten) bleiben vermisst. Die von Russland unterstützten Separatisten begingen systematisch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen (Schläge, Zwangsarbeit, Folter, Erniedrigung, sexuelle Gewalt, Verschwindenlassen aber auch Tötungen) sowohl zur Aufrechterhaltung der Kontrolle als auch zur Bereicherung. Sie entführen regelmäßig Personen für politische Zwecke oder zur Erpressung von Lösegeld, besonders an Checkpoints. Es kommt zu willkürlichen Inhaftierungen von Zivilpersonen bei völligem Fehlen jeglicher rechtsstaatlicher Kontrolle. Diese Entführungen führen wegen ihrer willkürlichen Natur zu großer Angst unter der Zivilbevölkerung. Von einem „Kollaps von Recht und Ordnung“ in den Separatistengebieten wird berichtet. Internationalen und nationalen Menschenrechtsbeobachtern wird die Einreise in die Separatistengebiete verweigert. Wenn Gruppen versuchen dort tätig zu werden, werden sie zum Ziel erheblicher Drangsale und Einschüchterung. Journalisten werden willkürlich inhaftiert und misshandelt. Die separatistischen bewaffneten Gruppen beeinflussen direkt die Medienberichterstattung in den selbsternannten Volksrepubliken. Freie (kritische) Meinungsäußerung ist nicht möglich. Da die separatistischen Machthaber die Einfuhr von humanitären Gütern durch ukrainische oder internationale Organisationen stark einschränken, sind die Anwohner der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk mit starken Preisanstiegen konfrontiert. An Medikamenten herrscht ein erheblicher Mangel. Das erschwert auch die Behandlung von HIV und Tuberkulose. Mehr als 6.000 HIV-positive Personen in der Region leiden unter dem Mangel an Medikamenten und Medizinern (USDOS 3.3.2017a).

In den ostukrainischen Konfliktgebieten begingen Berichten zufolge auch Regierungstruppen bzw. mit ihnen verbündete Gruppen Menschenrechtsverletzungen. Der ukrainische Geheimdienst (SBU) soll Personen geheim festhalten bzw. festgehalten haben (USDOS 3.3.2017a). Nach einem Bericht über illegale Haft und Folter, sowohl durch den ukrainischen SBU sowie durch prorussische Separatisten, reagierte im Juli 2016 der SBU mit der Entlassung von 13 Personen aus der Haft (die Illegalität der Haft wurde aber abgestritten). Von der separatistischen Seite ist nichts dergleichen berichtet, obwohl deren Vergehen viel zahlreicher waren (FH 1.2017; vgl. HRW 12.1.2017).

Trotz des Abkommens von Minsk ist in der Ostukraine immer noch kein tragfähiger Waffenstillstand zustande gekommen. Russland liefert weiterhin Waffen und stellt militärisches Personal als „Freiwillige“. 2016 haben sich die lokalen Verwaltungen in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk institutionell konsolidiert und der Aufbau russisch kontrollierter Staatsgebilde ist überwiegend abgeschlossen. Unabhängige politische Aktivitäten und politische Parteien sind jedoch verboten, NGOs arbeiten dort nicht, und eine freie Presse ist nicht vorhanden (FH 29.3.2017).

Nach wie vor kam es im Osten der Ukraine auf beiden Seiten zu sporadischen Verstößen gegen den vereinbarten Waffenstillstand. Sowohl die ukrainischen Streitkräfte als auch die pro-russischen Separatisten verübten Verletzungen des humanitären Völkerrechts, darunter Kriegsverbrechen wie Folter, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. In der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk wurden Personen, die der Unterstützung der jeweils anderen Seite verdächtigt wurden, rechtswidrig inhaftiert, auch zum Zwecke des Gefangenenaustauschs. Sowohl seitens der ukrainischen Behörden als auch der separatistischen Kräfte im Osten der Ukraine kam es auf den von der jeweiligen Seite kontrollierten Gebieten zu rechtswidrigen Inhaftierungen. Zivilpersonen, die als Sympathisanten der anderen Seite galten, wurden als Geiseln für den Gefangenenaustausch benutzt. Wer für einen Gefangenenaustausch nicht in Frage kam, blieb häufig monatelang inoffiziell in Haft, ohne Rechtsbehelf oder Aussicht auf Freilassung. In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk setzten lokale "Ministerien für Staatssicherheit" die ihnen im Rahmen lokaler "Verordnungen" verliehenen Befugnisse dazu ein, Personen bis zu 30 Tage lang willkürlich zu inhaftieren und diese Haftdauer wiederholt zu verlängern. Die ukrainischen Behörden schränkten den Personenverkehr zwischen den von den Separatisten kontrollierten Regionen Donezk und Lugansk und den von der Ukraine kontrollierten Gebieten weiterhin stark ein (AI 22.2.2017).

In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk agieren lokale Sicherheitsdienste in einem vollkommenen rechtlichen Vakuum, wodurch die von ihnen festgenommenen Personen jeglicher Rechtssicherheit oder Beschwerdemöglichkeiten beraubt (HRW 12.1.2017).

In den von pro-russischen Kräften besetzten Gebieten im Osten der Ukraine kann in keinster Weise von einer freien, gar kritischen Presse die Rede sein. Die im Zuge der Annexion der Halbinsel Krim bzw. im Zuge der Kampfhandlungen im Osten bekanntgewordenen und nicht zuletzt durch OSZE-Beobachter wiederholt thematisierten Verschleppungen von Journalisten durch Separatisten sowie die Behinderung objektiver Berichterstattung gaben ebenfalls zu verstärkter Sorge Anlass (ÖB 4.2017).

Pro-russische Separatisten in der Ostukraine entführen, inhaftieren, schlagen und bedrohen Mitglieder der ukrainisch-orthodoxen Kirche Kiewer Patriarchats, Zeugen Jehovas und Angehörige protestantischer Kirchen. Auch antisemitische Rhetorik und Handlungen werden berichtet. Sie verwüsten oder beschlagnahmen weiterhin Kirchenvermögen und geben vor, nur „offizielle Kirchen“ dürften tätig werden. Faktisch werden religiöse Gruppen außer der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats systematisch diskriminiert (USDOS 10.8.2016).

Quellen:

-        -        AA – Auswärtiges Amt (2.2017b): Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017

-        -        AI - Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/336532/479204_de.html, Zugriff 1.6.2017

-        -        FH - Freedom House (29.3.2017): Nations in Transit 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/338537/481540_de.html, Zugriff 1.6.2017

-        -        FH - Freedom House (1.2017): Freedom in the World 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/336975/479728_de.html, Zugriff 22.6.2017

-        -        HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/334769/476523_de.html, Zugriff 6.6.2017

-        -        ÖB – Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine

-        -        USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 31.5.2017

2.       Rechtsschutz/Justizwesen

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering (USDOS 3.3.2017a).

Nach einer langen Phase der Stagnation nahm die Justizreform ab Juli 2016 mit Verfassungsänderungen und neuem rechtlichem Rahmen Fahrt auf. Für eine Bewertung der Effektivität der Reform ist es noch zu früh (FH 29.3.2017).

Die Reform der Justiz war eine der Kernforderungen der Demonstranten am sogenannten Euro-Maidan. Das größte Problem der ukrainischen Justiz war immer die mangelnde Unabhängigkeit der Richter von der Exekutive. Auch die Qualität der Gesetze gab stets Anlass zur Sorge. Noch problematischer war jedoch deren Umsetzung in der Praxis. Auch Korruption wird als großes Problem im Justizbereich wahrgenommen. Unter dem frisch ins Amt gekommenen Präsident Poroschenko machte sich die Regierung daher umgehend an umfassende Justizreformen. Mehrere größere Gesetzesänderungen hierzu wurden seither verabschiedet. Besonders hervorzuheben sind Gesetz Nr. 3524 betreffend Änderungen der Verfassung und Gesetz Nr. 4734 betreffend das Rechtssystem und den Status der Richter, die Ende September 2016 in Kraft traten. Mit diesen Gesetzen wurden die Struktur des Justizsystems reformiert und die professionellen Standards für Richter erhöht und ihre Verantwortlichkeit neu geregelt. Außerdem wurde der Richterschaft ein neuer Selbstverwaltungskörper gegeben, der sogenannte Obersten Justizrat (Supreme Council of Justice). Dieser ersetzt die bisherige Institution (Supreme Judicial Council), besteht hauptsächlich aus Richtern und hat ein Vorschlagsrecht für Richter, welche dann vom Präsidenten zu ernennen sind. Ebenso soll der Oberste Justizrat Richter suspendieren können. Die besonders kritisierte fünfjährige Probezeit der Richter wurde gestrichen und ihr Einkommen massiv erhöht. Auf der anderen Seite wurden die Ernennungskriterien für Richter erhöht, bereits ernannte Richter müssen sich einer Überprüfung unterziehen. Die Antikorruptionsregelungen wurden verschärft und die richterliche Immunität auf eine rein professionelle Immunität beschränkt. Richter, die die Herkunft ihres Vermögens (bzw. das enger Angehöriger) nicht belegen können, sind zu entlassen. Besonders augenfällig ist auch die Umstellung des Gerichtssystems von einem viergliedrigen zu einem dreigliedrigen System. Unter dem ebenfalls reformierten Obersten Gerichtshof als höchster Instanz, gibt es nun nur noch die Appellationsgerichte und unter diesen die lokalen Gerichte. Die zuvor existierenden verschiedensten Gerichtshöfe (zwischen Appellationsgerichten und Oberstem Gerichtshof) wurden abgeschafft. Außerdem wurde ein spezialisierter Antikorruptionsgerichtshof geschaffen, wenn auch dessen genaue Zuständigkeit noch durch Umsetzungsdekrete festzulegen ist. Die Kompetenz Gerichte zu schaffen oder umzuorganisieren etc., ging vom Präsidenten auf das Parlament über (BFA/OFPRA 5.2017).

Die andere große Baustelle des Justizsystems ist die Reform des Büros des Generalstaatsanwalts, der bislang mit weitreichenden, aus der Sowjetzeit herrührenden Kompetenzen ausgestattet war. Im April 2015 trat ein Gesetz zur Einschränkung dieser Kompetenzen bei gleichzeitiger Stärkung der Unabhängigkeit in Kraft, wurde in der Praxis aber nicht vollständig umgesetzt. Große Hoffnungen in diese Richtung werden in den im Mai 2016 ernannten neuen Generalstaatsanwalt Juri Lutsenko gesetzt. Eine neu geschaffene Generalinspektion soll die Legalität der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft überwachen. Die praktische Umsetzung all dieser Vorgaben erfordert allerdings die Verabschiedung einer Reihe begleitender Gesetze, die es abzuwarten gilt. Etwa 3.400 Posten in der Staatsanwaltschaft, die neu besetzt wurden, gingen überwiegend an Kandidaten, die bereits vorher in der Staatsanwaltschaft gewesen waren. Alle Kandidaten absolvierten eingehende und transparente Tests, aber am Ende waren unter den Ernannten nur 22 neue Gesichter, was in der Öffentlichkeit zu Kritik führte. Für die Generalinspektion ist aber neues Personal vorgesehen. Die schlechte Bezahlung der Staatsanwälte ist ein Einfallstor für Korruption. Der Antikorruptions-Staatsanwalt bekommt als einziger Staatsanwalt höhere Bezüge, obwohl gemäß Gesetz alle Staatsanwälte besser bezahlt werden müssten (BFA/OFPRA 5.2017; vgl. FH 29.3.2017).

Mit 1. Oktober 2016 hat die Generalstaatsanwaltschaft sechs Strafverfahren gegen Richter eingeleitet. Richter beschweren sich weiterhin über eine schwache Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative. Einige Richter berichten über Druckausübung durch hohe Politiker. Andere Faktoren behindern das Recht auf ein faires Verfahren, wie langwierige Gerichtsverfahren, vor allem in Verwaltungsgerichten, unzureichende Finanzierung und mangelnde Umsetzung von Gerichtsurteilen. Diese liegt bei nur 40% (USDOS 3.3.2017a).

Der unter der Präsidentschaft Janukowitschs zu beobachtende Missbrauch der Justiz als Hilfsmittel gegen politische Mitbewerber und kritische Mitglieder der Zivilgesellschaft ist im politischen Prozess der Ukraine heute nicht mehr zu finden. Es bestehen aber weiterhin strukturelle Defizite in der ukrainischen Justiz. Eine umfassende, an westeuropäischen Standards ausgerichtete Justizreform ist im September 2016 in Kraft getreten, deren vollständige Umsetzung wird jedoch noch einige Jahre in Anspruch nehmen (ÖB 4.2017).

Laut offizieller Statistik des EGMR befindet sich die Ukraine auf Platz 1 in Bezug auf die Anzahl an anhängigen Fällen in Strassburg (18.155, Stand 1.1.2017). 65% der anhängigen Fälle betreffen die nicht-Umsetzung von nationalen Urteilen. Wiederkehrende Vorwürfe des EGMR gegen die Ukraine kreisen auch um die überlange Dauer von Zivilprozessen und strafrechtlichen Voruntersuchungen ohne Möglichkeit, dagegen Rechtsmittel ergreifen zu können; Verstöße gegen Art. 5 der EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit); Unmenschliche Behandlung in Haft bzw. unzulängliche Untersuchung von derartig vorgebrachten Beschwerden; Unzureichende Haftbedingungen und medizinische Betreuung von Häftlingen (ÖB 4.2017).

Quellen:

-        BFA/OFPRA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine

-     

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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