TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/4 W189 2241525-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.05.2021
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Entscheidungsdatum

04.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §18 Abs1 Z5
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W189 2241525-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass das Einreiseverbot auf ein Jahr herabgesetzt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Ukraine, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am Folgetag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Bei der Erstbefragung gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass er aus XXXX , Lugansk Oblast, stamme und zuletzt in XXXX , Kiew Oblast, gelebt habe. Er beherrsche die Sprachen Russisch und Ukrainisch. Er sei Atheist und gehöre der Volksgruppe der Ukrainer an. Im Herkunftsstaat habe der Beschwerdeführer XXXX Jahre die Grundschule besucht. Er habe zuletzt als selbständiger Unternehmer gearbeitet. Sein Vater sei verstorben. Seine Mutter, seine Ex-Frau und seine Tochter würden in der Ukraine leben. Er leide unter Schilddrüsenkrebs und benötige demnächst Medikamente.

Zu den Fluchtgründen brachte er vor, dass er verfolgt werde, weil er ein Bürger von Lugansk sei und zur Partei „Sharija“ gehöre. Diese Partei vertrete die Absicht, in den ukrainischen Kriegsgebieten wieder Frieden einzuführen. Die ukrainischen nationalistischen Parteien seien dagegen. Aus diesem Grund werde der Beschwerdeführer verfolgt und bedroht. Er sei vor seinem Haus zweimal zusammengeschlagen worden. Er habe unzählige Bedrohungen per Telefon mit der Forderung erhalten, dass er die Ukraine verlassen solle, weil er ein Russe sei. Dies sei nur ein Teil von dem, was ihm vorgeworfen werde. Unter anderem, dass er Russe sei, weil er nicht ukrainisch spreche. Im Falle einer Rückkehr in die Heimat befürchte der Beschwerdeführer umgebracht zu werden.

Im Rahmen der Antragstellung wurde der ukrainische Reisepass des Beschwerdeführers sichergestellt, wonach er am XXXX per Flugzeug über Bulgarien in Österreich einreiste.

Eine Abfrage des Schengener Informationssystems ergab, dass von Schweden ein aufrechtes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer ausgeschrieben wurde.

2. Aufgrund eines Informationsersuchens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) gemäß Art. 34 Dublin-III-VO vom XXXX erklärten die zuständige isländische Behörde, dass der Beschwerdeführer am XXXX in Island um Asyl angesucht hat und nach Abweisung des Antrags am XXXX abgeschoben wurde; die zuständige schwedische Behörde, dass der Beschwerdeführer am XXXX in Schweden um Asyl angesucht hat und er nach Abweisung des Antrags und Rückübernahme aus Island am XXXX in die Ukraine abgeschoben wurde; die zuständige bulgarische Behörde, den Beschwerdeführer nicht zu kennen.

3. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vom BFA niederschriftlich einvernommen.

Der Beschwerdeführer gab zu seiner Person an, ukrainischer Staatsangehöriger zu sein, der Volksgruppe der Russen anzugehören und Atheist zu sein. Er stamme aus XXXX , Lugansk Oblast, und habe zuletzt als Binnenflüchtling in XXXX , Kiew Oblast, in der Wohnung seiner Tochter gelebt. Er habe nach dem Besuch der Grundschule einen mittleren technischen Schulabschluss gemacht und habe zuletzt von seinen Ersparnissen gelebt. Er habe früher in Lugansk Wohnungen und eine Sauna gehabt sowie eine Wechselstube betrieben. Er habe nun nichts mehr. Er spreche Russisch und habe in der Schule Ukrainisch gelernt. Der Beschwerdeführer sei geschieden und habe eine Tochter. Er habe Kontakt zu seiner Tochter, seiner Freundin sowie Freunden und Bekannten. Seine Tochter arbeite als Verkäuferin, sie leite eine Geschäftsabteilung. Der Beschwerdeführer sei ungefähr XXXX an der Schilddrüse operiert worden und benötige seither Medikamente. Er habe Schmerzen an der rechten Schulter.

Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er mit anderen zu Beginn des XXXX für die Partei „Sharija“ Parteizeitungen verteilt habe. Sie seien von Nationalisten angegriffen worden und der Beschwerdeführer habe eine schwere Auseinandersetzung mit XXXX aus der nationalistischen Organisation „C14“ bzw. dem „nationalen Korpus“ gehabt. Während des Wahlkampfes seien die Nationalisten ein weiteres Mal gekommen, als sie in XXXX Parteizeitungen verteilt hätten und es sei zu einer Rauferei gekommen. Der Beschwerdeführer habe sich mit jenem Mann geschlagen. Einige Tage danach habe sein Wohnungsnachbar ihm gesagt, dass jemand in Uniform nach dem Beschwerdeführer gefragt habe. Dann sei nichts mehr geschehen. Am XXXX abends sei der Beschwerdeführer entführt und mit zwei Autos in einen Wald außerhalb der Stadt gebracht worden, wo er bedroht und geschlagen worden sei. Man habe ihn mit dem Umbringen bedroht und gesagt, dass man ihn nun erhängen würde. Das habe ungefähr eine Stunde gedauert. Der Beschwerdeführer habe sehen können, wie jemand im anderen Auto ständig telefoniert habe. Dann sei ein drittes Auto gekommen und XXXX ausgestiegen, der ebenso der C14 angehöre. Er habe etwas gerufen und dann sei der Beschwerdeführer freigelassen worden. Einer der Männer habe ihm gesagt, dass er für heute Glück gehabt habe. Am nächsten Tag habe der Beschwerdeführer einen Anruf von einer verdeckten Nummer erhalten. Eine Frau habe ihm gesagt, dass sie beim nationalen Korpus sei und der Beschwerdeführer das Land verlassen solle, da sie gehört habe, dass XXXX den Beschwerdeführer liquidieren wolle. Daraufhin sei der Beschwerdeführer ausgereist.

Zu seinen Lebensumständen im Bundesgebiet führte der Beschwerdeführer aus, dass er hier keine Verwandten habe, keine familiären oder privaten Bindungen eingegangen sei und keiner Arbeit nachgehe.

Am Ende der Einvernahme wurden dem Beschwerdeführer die Länderfeststellungen der Staatendokumentation zur Ukraine erläutert und ihm Gelegenheit gegeben, binnen zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben, wovon der Beschwerdeführer nicht Gebrauch machte.

Der Beschwerdeführer legte im Zuge der Einvernahme einen Einstellungsbeschluss der ukrainischen Nationalpolizei vom XXXX , einen ukrainischen Binnenflüchtlingsausweis vom XXXX , eine Mitgliedskarte der „Partei Sharij“ sowie ein Konvolut medizinischer Unterlagen vor.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt V.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht gewährt (Spruchpunkt VI.), einer Beschwerde gegen die abweisende Entscheidung gem. § 18 Abs. 1 Z 1 und 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.) und schließlich gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG gegen den Beschwerdeführer ein zweijähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen kein Glauben geschenkt werde. Auch eine refoulementschutzrechtlich relevante Gefährdung im Falle einer Rückkehr in die Ukraine sei – auch unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie – nicht gegeben. Bei der Ukraine handle es sich um einen sicheren Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von relevanten familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. In Anbetracht der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des Beschwerdeführers in die Ukraine. Eine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe aufgrund der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde – der Beschwerdeführer stamme aus einem sicheren Herkunftsstaat und sein Vorbringen über eine Bedrohungssituation entspreche offensichtlich nicht den Tatsachen – nicht. Die Erlassung eines Einreiseverbotes gegen den Beschwerdeführer sei notwendig, da er das Asylrecht missbrauche und keine Mittel für seinen Unterhalt nachweisen könne.

6. Mit Schriftsatz vom XXXX erhob der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde gegen diesen Bescheid und brachte nach Wiederholung des Sachverhaltes im Wesentlichen vor, dass die belangte Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe, indem sie sich veralteter Länderberichte bedient habe und eine mangelhafte Beweiswürdigung durchgeführt habe, da diese sich primär auf Widersprüche zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der Einvernahme durch das BFA gestützt habe und den vorgelegten Beschluss der ukrainischen Nationalpolizei nicht berücksichtigt habe. Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers ergebe sich, dass er wegen seiner Nationalität und seiner (unterstellten) politischen Gesinnung verfolgt werde, weshalb ihm der Status des Asylberechtigten zu gewähren sei. Weiters sei das Einreiseverbot zu beheben, da der Beschwerdeführer keine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle. Schließlich sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, um in der Folge eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

7. Mit XXXX wurde der gesamte gegenständliche Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

1.1.1. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer ist ein ukrainischer Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Russen zugehörig und Atheist. Er ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Er spricht Russisch und Ukrainisch. Der Beschwerdeführer ist in XXXX , Lugansk Oblast, geboren und hat zuletzt als Binnenflüchtling in XXXX , Kiew Oblast, in der Wohnung seiner Tochter gelebt. Er hat die Grundschule besucht und einen mittleren technischen Schulabschluss gemacht. Er hatte früher Wohnungen, eine Sauna und eine Wechselstube in XXXX und hat zuletzt von seinen Ersparnissen gelebt.

Der Beschwerdeführer ist geschieden. Der Vater des Beschwerdeführers ist verstorben. Seine Mutter und seine Tochter leben in der Ukraine. Seine Tochter arbeitet als Abteilungsleiterin eines Geschäfts. Der Beschwerdeführer hat eine Freundin sowie Freunde und Bekannte in der Ukraine. Er hat Kontakt zu seiner Tochter, seiner Freundin und seinen Freunden und Bekannten.

Der Beschwerdeführer wurde XXXX an der Schilddrüse operiert und nimmt Medikamente für Schilddrüsenhormone.

Er ist strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX in Schweden einen Asylantrag, welcher mit XXXX rechtskräftig abgewiesen wurde. Der Beschwerdeführer stellte am XXXX in Island einen Asylantrag, welcher am XXXX zurückgewiesen wurde. Nachdem der Beschwerdeführer am XXXX von Island nach Schweden überstellt wurde, wurde er am XXXX in die Ukraine abgeschoben. Gegen den Beschwerdeführer wurde von Schweden ein Einreiseverbot im Schengener Gebiet, gültig bis XXXX , erlassen.

1.1.2. Der Beschwerdeführer wurde in der Ukraine nicht aufgrund einer ehrenamtlichen Tätigkeit für die Partei „Sharij“ von Nationalisten geschlagen, entführt und mit dem Umbringen bedroht. Es droht ihm in der Ukraine, einem sicheren Herkunftsstaat, keine Gefahr aus Konventionsgründen. Der ukrainische Staat ist schutzfähig und schutzwillig.

1.1.3. Dem Beschwerdeführer ist die Rückkehr in die Ukraine, etwa nach XXXX , zumutbar.

Im Falle einer Rückkehr würde er in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden. Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat ist der Beschwerdeführer nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.

1.1.4. Der Beschwerdeführer befindet sich seit XXXX in Österreich. Er lebt von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und geht keinem Erwerb nach. Er hat keine sozialen Bindungen zu Österreich.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine

1. Politische Lage

Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj (AA 6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus sind rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).

Die nach der „Revolution der Würde“auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020).

Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).

Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (6.3.2020): Ukraine: Steckbrief

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (22.7.2019): Briefing Notes, per E-Mail

?        Brookings Institution (20.5.2020): Zelenskiy’s first year: New beginning or false dawn?

?        DS – Der Standard (22.7.2019): Diener des Volkes werden Kiew regieren

?        DW – Deutsche Welle (3.3.2020): Ukraine Prime Minister Oleksiy Honcharuk resigns for second time

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine

?        FH - Freedom House (6.5.2020): Nations in Transit 2020 - Ukraine

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat

?        Jamestown Foundation (24.2.2020): Looming Confrontation in President Zelenskyy’s Entourage Could Lead to Reset of Ukrainian Government

?         KP – Kyiv Post (29.8.2019): Ukraine’s new parliament sworn in, Dmytro Razumkov becomes speaker

?        RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (30.8.2019): Ukraine’s Zelenskiy Inducts Politically Untested Government

?        RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (25.4.2020): Zelenskiy's First Year: He Promised Sweeping Changes. How's He Doing?

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine

2. Sicherheitslage

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).

Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).

Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine

?        KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1

?        SO – Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation

3. Rechtsschutz / Justizwesen

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).

2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine

?        ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukrain

4. Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).

Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).

Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).

In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        AC – Atlantic Council (30.6.2020):Ukraine’s powerful Interior Minister Avakov under fire over police reform failures

?        AI – Amnesty International (16.4.2020): Human Rights in Eastern Europe and Central Asia - Review of 2019 - Ukraine [EUR 01/1355/2020]

?        BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): Ukraine, Country Report 2020

?        ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine

5. Allgemeine Menschenrechtslage

Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet (AA 29.2.2020; vgl. GIZ 3.2020a). Jedoch bestehen in der Ukraine gegenwärtig noch Unzulänglichkeiten in der Umsetzung und Gewährung der Menschenrechte, was insbesondere die Bereiche Folter, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Behandlung von Geflüchteten und sozialen (LGBTQ) bzw. ethnischen Minderheiten (Roma) betrifft. 2019 stufte Freedom House die Ukraine auf „partly free“ ab (GIZ 3.2020a). Zu den Menschenrechtsproblemen gehören darüber hinaus u.a. rechtswidrige oder willkürliche Tötungen; Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen durch Vollzugspersonal; schlechte Bedingungen in Gefängnissen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Einschränkungen der Internetfreiheit und Korruption. Die Regierung hat es im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Fehlverhalten von Beamten strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest (USDOS 11.3.2020).

Die Möglichkeit von NGOs, sich im Bereich Menschenrechte zu betätigen, unterliegt keinen staatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Verfassung sieht eine vom Parlament bestellte Ombudsperson vor, den parlamentarischen Menschenrechtsbeauftragten. Das Amt wird derzeit von Lyudmila Denisova bekleidet. Ihr Büro arbeitet bei verschiedenen Projekten zur Überwachung von Menschenrechtspraktiken in Gefängnissen und anderen staatlichen Institutionen häufig mit NGOs zusammen. Die Ombudsperson bemühte sich in der Vergangenheit speziell um Krimtataren, IDPs, Roma, Menschen mit Behinderungen, und von Russland inhaftierte politische Gefangene. Sie ist auch bei Problemen mit der Justiz jederzeit ansprechbar (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung schreibt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausdrücklich vor. Auch im Übrigen gibt es keine rechtlichen Benachteiligungen. Nach ukrainischem Arbeitsrecht genießen Frauen die gleichen Rechte wie Männer. Tatsächlich werden sie jedoch häufig schlechter bezahlt und sind in Spitzenpositionen unterrepräsentiert. Nach 2018 kam es auch am 8. März 2019 bei Veranstaltungen und Paraden zum Frauentag in mehreren Städten zu Zwischenfällen mit rechten Gruppierungen (AA 29.2.2020). Durch den bewaffneten Konflikt kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt und Gender Based Violence (GBV), von der vor allem Frauen betroffen sind. Ein neues Gesetz, das häusliche Gewalt als Straftatbestand deklariert, wurde im Dezember 2017 angenommen. Es gibt jedoch kaum ausreichend psychosoziale und medizinische (Notfall-) Einrichtungen mit geschultem Personal (ÖB 2.2019). Frauen und Mitglieder von Minderheitengruppen können am politischen Leben in der Ukraine teilnehmen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Diese Rechte werden jedoch durch Faktoren wie Diskriminierung, den Konflikt im Osten, Analphabetismus und das Fehlen von Ausweisdokumenten (häufig bei Roma) geschmälert. Das Gesetz über Kommunalwahlen schreibt eine 30%-Quote für Frauen auf Parteilisten vor, die jedoch nicht wirksam durchgesetzt wird (FH 4.3.2020). Nach den Parlamentswahlen vom Juli 2019 stieg der Anteil der Frauen im Parlament von 12 auf 20% (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die gesellschaftliche Diskriminierung von sexuellen Minderheiten beeinträchtigt ihre Fähigkeit, sich an politischen Prozessen und Wahlprozessen zu beteiligen (FH 4.3.2020).

Die Aktivitäten von Oppositionsparteien und -gruppen sowie die Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit unterliegen keinen rechtsstaatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Medienlandschaft zeichnet sich durch einen beträchtlichen Pluralismus sowie offene Kritik an der Regierung aus (FH 4.3.2020). Meinungs- und Pressefreiheit leiden jedoch weiter hinunter der wirtschaftlichen Schwäche des unabhängigen Mediensektors und dem Übergewicht von Medien, die Oligarchen gehören oder von ihnen finanziert werden. Repressionen und Angriffe gegenüber Journalisten sind insgesamt rückläufig; besorgniserregend bleiben aber die oftmals fehlenden Ermittlungserfolge und die daraus resultierende Straflosigkeit – selbst in schwerwiegenden Fällen. Diverse russische soziale Medien und populäre Onlinedienste bleiben seit einem Dekret von Mai 2017 weiter verboten. Aus diesen Gründen verbleibt die Ukraine trotz großer Fortschritte gegenüber den Jahren vor dem Euromaidan im „Reporter ohne Grenzen“-Index auf Platz 102 von 180 Staaten (AA 29.2.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Jahr 2018 erneuerten die Behörden bestehende Maßnahmen gegen eine Reihe russischer Nachrichtenagenturen und ihre Journalisten. Verschiedene Sprachgesetze schreiben Nachrichtenagenturen vor, dass bestimmte Inhalte in ukrainischer Sprache verfasst sein müssen. Im Jahr 2019 bestätigte der Oberste Gerichtshof der Ukraine regionale Verbote für russischsprachige "Kulturprodukte", darunter Bücher und Filme (FH 4.3.2020). Die Regierung setzte die Praxis fort, bestimmte Werke russischer Schauspieler, Filmregisseure und Sänger zu verbieten und Sanktionen gegen pro-russische Journalisten zu verhängen (USDOS 11.3.2020).

Von einigen Ausnahmen abgesehen, können Einzelpersonen im Allgemeinen öffentlich und privat Kritik an der Regierung üben und Angelegenheiten von öffentlichem Interesse diskutieren, ohne offizielle Repressalien befürchten zu müssen. Das Gesetz verbietet jedoch Aussagen, die die territoriale Integrität bzw. nationale Sicherheit des Landes bedrohen, den Krieg fördern, einen Rassen- oder Religionskonflikt befeuern oder die russische Aggression gegen das Land unterstützen, und die Regierung verfolgt Personen nach diesen Gesetzen (USDOS 11.3.2020). Gewalt und Drohungen gegen Journalisten bleiben weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Das unabhängige Institut für Masseninformation registrierte von Januar bis Anfang Dezember 2019 226 Verstöße gegen die Medienfreiheit, darunter die Ermordung eines Journalisten. Weitere Verstöße waren 20 Fälle von Schlägen, 16 Cyberangriffe, 93 Fälle von Einmischung, 34 Fälle von Bedrohung und 21 Fälle von Einschränkung des Zugangs zu öffentlichen Informationen (FH 4.3.2020). Die Qualität des ukrainischen Journalismus leidet nicht nur unter russischer Propaganda, Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik sowie der wirtschaftlichen Krise, sondern auch unter einer nicht zufriedenstellenden Ausbildung und Einhalten von journalistischen Standards (GIZ 3.2020a). Die Strafverfolgungsbehörden überwachen das Internet, zeitweise ohne entsprechende rechtliche Befugnisse, und unternahmen 2019 schwerwiegende Schritte, um den Zugang zu Websites aufgrund von "nationalen Sicherheitsbedenken" zu blockieren. Gerichte sollen auch begonnen haben, den Zugang zu Websites aus anderen Gründen als der nationalen Sicherheit zu blockieren. Es gab Berichte darüber, dass die Regierung Einzelpersonen wegen ihrer Beiträge in sozialen Medien strafrechtlich verfolgte (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung sieht die Versammlungsfreiheit vor und die Regierung respektiert dieses Recht im Allgemeinen. Gelegentlich wird berichtet, dass die Polizei übermäßige Gewalt anwendet, um Proteste aufzulösen. In Kiew, Odessa und Charkiw fanden groß angelegte LGBT-Veranstaltungen weitgehend friedlich und unter dem Schutz tausender Polizeibeamter statt. Bisweilen schützte die Polizei die Teilnehmer vor oder nach diesen Veranstaltungen nicht ausreichend vor Angriffen, und auch kleinere Demonstrationen, insbesondere von Minderheiten oder oppositionellen politischen Bewegungen, wurden nicht ausreichend geschützt. Veranstaltungen von Frauenrechtsaktivisten oder der LGBT-Gemeinschaft wurden regelmäßig von Mitgliedern gewalttätiger radikaler Gruppen gestört (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Zu den Pflichten des Veranstalters von friedlichen Versammlungen zählt unter anderem die Anmeldung der Veranstaltung im Vorfeld bei den örtlich zuständigen Behörden. Die Fristen, die in diesem Zusammenhang anzuwenden sind, sind jedoch nicht klar geregelt und variieren je nach vertretener Auffassung zwischen drei und zehn Tagen. Diese Unklarheit lässt den öffentlichen Behörden einen relativ großen Freiraum, Versammlungen zu untersagen (ÖB 2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Tatsächlich wird die Abhaltung von friedlichen Versammlungen von den Behörden regelmäßig abgelehnt. Als gängige Begründungen dienen die zu späte Ankündigung der Demonstration, der Mangel an verfügbaren Polizisten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der gleichzeitige Besuch einer offiziellen ausländischen Delegation oder das gleichzeitige Stattfinden einer anderen Veranstaltung am gleichen Ort. Auch die Definition der „Friedlichkeit“ einer Versammlung ist nicht immer unstrittig (ÖB 2.2019).

Die Verfassung und das Gesetz sehen die Vereinigungsfreiheit vor und die Regierung respektiert dieses Recht im Allgemeinen. Menschenrechtsorganisationen berichten für 2019 über einen Rückgang der Angriffe auf Aktivisten, nachdem die Zahl der Angriffe 2018 sprunghaft angestiegen war (37 Angriffe 2019, gegenüber 66 im Jahr 2018). Einige zivilgesellschaftliche Organisationen geben jedoch an, dass dies aufgrund von mangelnder Berichterstattung sei, und dass sich Aktivisten gegen eine Beschwerde entscheiden würden, da sie Verfolgung fürchten. Menschenrechts-NGOs sind nach wie vor besorgt über die mangelnde Rechenschaftspflicht bei Angriffen auf Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen (USDOS 11.3.2020). Angriffe auf Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft und Angehörige von Minderheitengruppen sind häufig, und die Reaktion der Polizei ist oft unzureichend (FH 4.3.2020). Sowohl natürliche als auch juristische Personen können einen Verein gründen. Die Vereinsgründung kann nur aus im Gesetz eng definierten Gründen untersagt werden (ÖB 2.2019). Mit Ausnahme eines Verbots der Kommunistischen Partei gibt es keine formellen Hindernisse für die Gründung und den Betrieb politischer Parteien. In den letzten Jahren entstanden mehrere politische Parteien. Ein Gesetz aus dem Jahr 2016 regelt die staatliche Finanzierung im Parlament vertretener Parteien; die Regelung begünstigt etablierte Parteien gegenüber neu entstandenen. Oppositionsgruppen sind im Parla-ment vertreten und ihre politischen Aktivitäten werden im Allgemeinen nicht durch administrative Beschränkungen behindert. Neue Kleinparteien haben Schwierigkeiten mit etablierten Parteien zu konkurrieren, welche die Unterstützung politisch vernetzter Oligarchen genießen (FH 4.3.2020).

Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und der ungestörten Religionsausübung wird von der Verfassung garantiert und von der Regierung in ihrer Politik gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften respektiert (AA 29.2.2020). Laut Befragungen sind 67,3% der Ukrainer christlich-orthodox. Davon gehören 28,7% zur ukrainisch-orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats (UOC-KP), 12,8% zur ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOC-MP), 0,3% zur ukrainisch-autokephalen Kirche (UAOC) und 23,4% bezeichnen sich als „schlicht orthodox“. 9,4% der Ukrainer sind griechisch-katholisch, 0,4% jüdisch, 0,8% römisch-katholisch, 2,2% protestantisch und 0,2% muslimisch. Weitere 7,7% identifizieren sich als „Christen“ und 11% geben an, dass sie keiner religiösen Gruppe angehören (USDOS 21.6.2019). Kleinere religiöse Gruppen berichten jedoch weiterhin von einer gewissen Diskriminierung. So werfen Gläubige der russisch-orthodoxen Kirche dem ukrainischen Staat vereinzelt Verletzungen der Religionsfreiheit vor. Im Oktober 2018 erhielten ukrainisch-orthodoxe Kleriker die Erlaubnis der religiösen Behörden in Istanbul, dem historischen Sitz der östlichen orthodoxen Kirche, zur Errichtung einer eigenen autokephalen Kirche außerhalb der kanonischen Gerichtsbarkeit der russisch-orthodoxen Kirche. Im Dezember 2018 wurde diese neue orthodoxe Kirche der Ukraine gegründet, um die bestehenden Denominationen zu vereinigen. Der Kreml und die Kirchenführer in Moskau lehnen diesen Schritt entschieden ab (FH 4.3.2020). Die Gründung der orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) hat zwar zu heftigen kircheninternen Auseinandersetzungen geführt, verlief insgesamt aber weitestgehend friedlich. Die OKU wurde inzwischen durch die Patriarchen von Konstantinopel und Alexandrien sowie durch die orthodoxe Kirche Griechenlands formal anerkannt (AA 29.2.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat

?        ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine

?        USDOS – US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: Ukraine

6. Russen/Russischsprachige

Die heutige Ukraine ist ein mehrsprachiges Land mit einer dominierenden ukrainisch-russischen Zweisprachigkeit und gemischten Sprachvarietäten (AAU 28.11.2019). Offizielle Staatssprache der Ukraine ist zwar Ukrainisch, Russisch ist als Verkehrssprache weit verbreitet bzw. wird im Süden und Osten überwiegend gesprochen (WKO 2020; vgl. AA 19.12.2019). Eine Quelle gibt an, dass Ukrainisch die Muttersprache von etwa 67% der Bevölkerung ist, Russisch die Muttersprache von fast 30% (RFE/RL 7.12.2019). Russisch ist in der Ukraine keineswegs die Sprache einer kleinen Minderheit und wird nicht bloß regional begrenzt gesprochen. Zwar haben sich bei der Volkszählung 2001 nur 17% der Bevölkerung zu ethnischen Russen erklärt, aber es sprechen bedeutend größere Gruppen der Bevölkerung in ihren Familien und im Alltag Russisch. In derselben Volksbefragung gaben 34% der Befragten an, in ihrer Alltagskommunikation Russisch zu verwenden, 64% hingegen Ukrainisch. In genaueren Untersuchungen wurde 1994 festgestellt, dass 37% nur Russisch, 33% nur Ukrainisch und 29% beide Sprachen gleichermaßen nutzen. Bis 2008 hatte sich das Verhältnis etwas zugunsten der Staatssprache geändert, aber nicht grundlegend gewandelt. Nun waren die entsprechenden Zahlen: 31, 45 und 25%. Russisch wird also im Durchschnitt des Landes von ca. der Hälfte der Bevölkerung aktiv verwendet und damit nur etwas weniger häufig als Ukrainisch (DS 19.10.2017).

Aus einer Analyse von Meinungsumfragen aus den Jahren 2012, 2014 und 2017 geht hervor, dass russischsprachige Staatsbürger der Ukraine keine homogene Gemeinschaft bilden, die sich durch ihre bevorzugte Sprache vom Rest der Bevölkerung abhebt, sondern dass sie seit Ende der Sowjetunion eine allmähliche Verwandlung von Sowjetbürgern zu Ukrainern vollzogen haben, ohne ihren Sprachgebrauch groß zu verändern. Die meisten von ihnen sprechen weiterhin vorwiegend Russisch, ohne dass es jedoch entscheidend für ihre Selbstidentifikation wäre. Vor dem Hintergrund der Aggression Russlands gegen die Ukraine seit dem Jahr 2014 haben sich die meisten Russischsprachigen in der Ukraine, selbst in den vermeintlich prorussischen Regionen im Osten und Süden, eher mit ihren Mitbürgern als mit ihren sprachlichen „Brüdern“ auf der anderen Seite der Grenze verbündet. Trotzdem brachte das einen großen Teil der Bevölkerung der Ukraine nicht dazu, den Sprachgebrauch radikal zu verändern. Obwohl viele Menschen, die zuvor fast ausschließlich Russisch gesprochen haben, nun stärker bereit zu sein scheinen, in bestimmten Bereichen etwas Ukrainisch zu verwenden, handelt es sich dabei keineswegs um einen umfassenden Wechsel von einer Sprache zur anderen. Die meisten Menschen in der heutigen Ukraine nutzen sowohl Ukrainisch als auch Russisch in ihrem Alltag, wenn auch zu einem sehr unterschiedlichen Anteil. 21% (2017) kombinieren die beiden Sprachen in mehr oder weniger gleich großen Teilen. Die Förderung des Ukrainischen führte nicht zu einer systematischen Diskriminierung der Russischsprachigen (UA 22.2.2018).

Es gibt in der Ukraine generell keine Diskriminierung der russischen Sprache. Seit Beginn des Konflikts in der Ostukraine im Jahr 2014, fördert die ukrainische Politik jedoch in bestimmten Bereichen aktiv die ukrainische Sprache, was von der Mehrheit der Menschen unterstützt wird. Manche russische soziale Netzwerke wurden in der Ukraine abgeschaltet, weil sie von russischen Sicherheitsdiensten genutzt wurden, auch um kriegsrelevante Daten abzuschöpfen. Ebenso wurden manche russischsprachige Bücher sowie Radio- und Fernsehsendungen wegen anti-ukrainischer Propaganda verboten (UA 29.11.2017). Im Jahr 2019 bestätigte der Oberste Gerichtshof der Ukraine regionale Verbote für russischsprachige Kulturprodukte, darunter Bücher und Filme (FH 4.3.2020). Der Import russischer Bücher ist seit 2017 generell erschwert. Schließlich verabschiedete das Parlament 2017 ein Gesetz, das die elektronischen Massenmedien, die landesweit senden, verpflichtet, 75% der Zeit in ukrainischer Sprache auszustrahlen. Für die regionalen Radio- und Fernsehstationen gilt eine Quote von 50%. Ein wichtiges Medium der Ukrainisierung ist seit vielen Jahren das Schul- und Vorschulwesen. Heute besuchen fast 90% der Schüler Schulen mit ukrainischer Unterrichtssprache. Dieser Anteil ist höher als der Anteil der ukrainischen Muttersprachler an der Bevölkerung, entspricht aber in etwa dem Anteil der Bürger, die sich als Ukrainer identifizieren. 9% der Schüler lernen an Schulen mit russischer Unterrichtssprache, 25% der Schüler haben Russisch als obligatorisches Unterrichtsfach. Gegen dieses Gesetz hat insbesondere die ungarische Regierung lautstarken Protest auf internationaler Bühne bis in die Nato hinein erhoben. In der Praxis funktioniert die allgegenwärtige ukrainisch-russische Zweisprachigkeit im Alltag in aller Regel erstaunlich reibungslos (UA 29.11.2017). Fälle von Einschüchterung oder Angriffen gegen ethnische Russen oder Vertreter der russischsprachigen Gemeinschaft in der Ukraine sind sporadische Einzelfälle (Cedoca 10.1.2018).

Ende April 2019 hat das ukrainische Parlament ein Gesetz zur Stärkung der ukrainischen Sprache verabschiedet (DS 25.4.2019). Es ist am 16. Juli 2019 in Kraft getreten (WKO 2020). Es stärkt die Verwendung des Ukrainischen in nahezu allen öffentlichen Bereichen. (AA 29.2.2020). Das Gesetz verpflichtet vor allem Beamte auf allen Ebenen, wie Lehrer, Ärzte, Soldaten usw. in Zukunft Ukrainisch zu sprechen, da andernfalls Geldstrafen drohen. Zudem wird die Quote für ukrainischsprachige Fernseh- und Radioprogramme weiter erhöht. Während Russland die neue Regelung verurteilte, kündigte der frisch gewählte designierte Präsident Selenskyj an, das Gesetz nach seinem Amtsantritt im Juni zu überprüfen. Das Gesetz wird in drei Jahren voll wirksam. Bis dahin sollen Zentren zum Erlernen der ukrainischen Sprache im Land eröffnet werden (DS 25.4.2019, Reuters 25.4.2019). Eine im Dezember 2019 veröffentlichte Stellungnahme der Venedig-Kommission empfiehlt eine stärkere Berücksichtigung der Sprachen von Minderheiten (AA 29.2.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.12.2019): Ukraine: Politisches Portrait

?        AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020)

?        AAU – Alpen-Adria Universität Klagenfurt (28.11.2019): Was machen soziale und politische Geschichte mit Sprache? Ukrainisch-russische und russisch-ukrainische Sprachvarietäten

?        Cedoca - Documentation and Research Department of the CGRS (Commissariaat-generaal voor de Vluchtelingen en de Staatlozen) (10.1.2018): OEKRAÏNE. Actuele situatie voor etnische Russen en/of Russischsprekenden op het gebied van taal en veiligheid, per E-Mail

?        DS – Der Standard (19.10.2017): Russisch als Minderheitensprache in der Ukraine?

?        DS – Der Standard (25.4.2019): Ukrainisches Parlament beschließt Gesetz gegen russische Sprache

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine

?        Reuters (25.4.2019): Ukraine passes language law, irritating president-elect and Russia

?        RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (7.12.2019): Council Of Europe's Experts Criticize Ukrainian Language Laws

?        UA – Ukraine Analysen (22.2.2018): Die Identität der russischsprachigen Staatsbürger der Ukraine

?        UA – Ukraine Analysen (29.11.2017): Sprachenpolitik in der Ukraine

?         WKO – Wirtschaftskammer Österreich (2020): Ukraine: Neues Sprachengesetz tritt in Kraft

7. Bewegungsfreiheit

In Gebieten unter Regierungskontrolle ist die Bewegungsfreiheit im Allgemeinen nicht eingeschränkt. Das komplizierte ukrainische System, das von Einzelpersonen verlangt, dass si

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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