TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/12 W196 2194054-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.05.2021
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Entscheidungsdatum

12.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55 Abs2
IntG §11 Abs2
IntG §11 Abs3
IntG §9 Abs4
NAG §81 Abs36
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W196 2194046-1/14E

W196 2194062-1/14E

W196 2194049-1/10E

W196 2194054-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. XXXX 2) XXXX , geb. XXXX 3) XXXX , geb. XXXX 4) XXXX , geb. XXXX , alle Staatsangehörigkeit Ukraine, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.03.2018, Zahlen 1) 1086357706-151297608, 2) 1069605605-150519645, 3) 1086357902-151297713, 4) 1071889902-150608265, zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. bis III. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen die Spruchpunkte IV. der angefochtenen Bescheide werden stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine die Beschwerdeführer betreffende Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

2) XXXX und 3) XXXX , wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 jeweils der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

1) XXXX und 4.) XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt

III. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkte V. und VI. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Ehegatten, die Dritt- bis Viertbeschwerdeführer sind deren gemeinsamen minderjährigen Kinder. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Ukraine.

Die Zweitbeschwerdeführerin reiste im Mai 2015 ein und stellte am 19.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Zuge der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Tag der Antragstellung gab die Zweitbeschwerdeführerin an, ihr Herkunftsland wegen der Kriegssituation verlassen zu haben. Ihr Leben sei in der Ukraine in Gefahr und die Krankenhäuser seien zerstört. Sie sei im neunten Monat schwanger und hätte in Donezk keine Möglichkeit, ihr Kind zu entbinden. Aus diesem Grund habe sie ihre Heimat verlassen und suche um internationalen Schutz an.

Während der Führung des Konsultationsverfahrens wurde die Viertbeschwerdeführerin im österreichischen Bundesgebiet geboren und stellte ihre gesetzliche Vertreterin, die Zweitbeschwerdeführerin, am 03.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Rahmen des Familienverfahrens. Für die Viertbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Flucht- und auch keine eigenen subsidiären Schutz Gründe vorgerbacht.

Der Zweit- und der Viertbeschwerdeführer reisten im September 2015 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten allesamt am 09.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Zuge der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Tag der Antragstellung gab der Erstbeschwerdeführer zum Grund für das Verlassen seines Herkunftslandes an, dass es in seinem Wohngebiet in Donezk ständig zu Bombardierungen gekommen sei. Die gesamte Infrastruktur sei zerstört worden. Ein normales tägliches Leben sei unmöglich. Es gebe keinerlei Versorgung hinsichtlich Energie und auch Lebensmittel sowie auch Trinkwasser. Er habe auf seinem Mobiltelefon Beweisaufnahmen. Die Menschen würden teilweise in Kellern leben, da die Häuser zerstört seien. Es gebe keinen Schulunterricht und keine Möglichkeit, dass sein Sohn den Kindergarten besuche. Sie hätten ständig in Angst bei Angriffen verletzt oder getötet zu werden, gelebt. Aus Angst um sein Leben und das Leben seines Sohnes seien sie aus deren Heimat geflohen. Er wolle in Österreich für sich und seinen mitgereisten Sohn um internationalen Schutz ansuchen. Er habe ständig Angst um das Leben seiner Familie und um sein eigenes Leben.

Am 23.11.2017 fanden die niederschriftlichen Befragungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, wieder in Anwesenheit eines Dolmetschers, statt.

Als Fluchtgrund gab der Erstbeschwerdeführer diesmal an, dass sie wegen der politischen Aktivität seiner Frau, der Zweitbeschwerdeführerin, Probleme bekommen hätten. Zudem brachte er vor, dass ein Parteikollege seiner Frau festgenommen und vermutlich an den Folgen der Folter verstorben sei. Dies wisse er von einem befreundeten Richter. Ferner brachte er vor, dass seine Frau, die Zweitbeschwerdeführerin, vergewaltigt worden sei. Im Mai 2015, kurz vor ihrer Ausreise, habe sie ihren Vergewaltiger vom russischen Militär, getroffen. Er habe sie mitnehmen wollen. Der Sohn hätte beim Erstbeschwerdeführer bleiben sollen. Es habe einen Streit gegeben und seien sie bedroht worden, und im Mai 2015 unmittelbar nach Österreich geflohen. Eine Woche später sei seine Tochter in Österreich zur Welt gekommen. Da seine Schwester in Österreich gewesen sei, hätten sie gemeinsam nach Österreich kommen wollen, aber die Situation habe es ihnen nicht erlaubt. Er sei hin- und hergerissen, habe nichts getan, wäre aber trotzdem auf der schwarzen Liste wegen der Partei. Er könnte auch von dem Mann, der seine Frau vergewaltigt habe, umgebracht werden. Er habe nicht gewusst, wohin er gehen sollte, deswegen ging er zu seiner Familie nach Österreich.

Die Zweitbeschwerdeführer brachte im Zuge ihrer Einvernahme zusammengefasst vor, dass sie seit Jänner 2014 an vielen legitimen Demonstrationen für die ukrainische Konstitution teilgenommen habe. Ihre Partei heiße DR (Donezkaya Republika). Es sei eine friedliche Versammlung für die ukrainischen Konstitutionen, die sich für die Rechte der Ukrainer einsetze. Der Vorgesetzte heiße Purgin André. Einer ihrer Kollegen heiße Maxim. Alle Mitglieder dieser Organisation, als auch die Zweitbeschwerdeführerin, seien von der SBU, in deren schwarze Liste aufgenommen worden. Diese Organisation sei in der Ukraine verboten und alle Mitglieder, die auf dieser Liste seien, würden als Verräter und als Agenten der Separatisten angesehen. Sie habe Angst, dass ihr dasselbe passiere, was mit Maxim passiert sei; er sei nach Kiew gezogen und sei nach ein paar Tagen festgenommen und während der Folter verstorben. Dies habe sie von einem befreundeten Richter erfahren. Zudem seien zwei weitere Kollegen verhaftet und ihnen fälschlicherweise vorgeworfen worden, einen Offizier getötet zu haben. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie, festgenommen und ermordet zu werden, da sie seit über zwei Jahren nicht mehr in ihrem Heimatland sei. Seit 2014 habe sie an legitimen Demonstrationen teilgenommen und wäre politisch tätig bei der DR Partei. Sie habe Demonstrationen am 23.02.2014, 09.03.2014, 22.03.2014 und 28.04.2014 in Donezk organisiert. Sie habe viele Menschen eingeladen, zu demonstrieren. Ferner gab sie an, dass sie im Juni 2014 einen russischen Offizier kennengelernt habe. Als sie erfahren habe, dass sie schwanger sei, habe sie ihm das per SMS mitgeteilt. Sie habe Hilfe gebraucht und gehofft, dass er jemand finden würde, der ihr das Kind abtreiben könne. Er habe nicht reagiert. Der letzte Kontakt wäre im März 2015. Sie hätten einander zufälligerweise draußen getroffen und er habe gesagt, dass er sich auf das Kind freuen würde und sie und das Kind, zu sich nach Russland holen würde, wobei ihr Sohn bei ihrem Mann hätte bleiben sollen. Sie habe gesagt, dass sie mit ihm nirgends mitgehen, sondern dass sie bei ihrem Mann und den Kindern bleiben werde. Das habe ihm nicht gefallen und er habe ihr eine Pistole an den Kopf gehalten und sie mit dem Tod bedroht. Zwei Monate später sei sie ausgereist. Über Nachfrage, gab sie an, dass ihr Mann, der Erstbeschwerdeführer, bereits erzählt habe, dass sie vergewaltigt worden sei.

Im Zuge der Einvernahmen wurden Unterlagen, darunter Reisepässe, Geburtsurkunden, die Heiratsurkunde, Bestätigungen über die gemeinnützige Arbeit des Erstbeschwerdeführers, diverse Fotos, Kindergarten- und Schulbesuchsbestätigung des Drittbeschwerdeführers und der Viertbeschwerdeführerin, diverse Empfehlungsschreiben und Integrationsbestätigungen, in Vorlage gebracht.

Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.03.2018 wurden die Anträge auf internationalen Schutz der Beschwerdeführer jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Ukraine (Spruchpunkte II.) abgewiesen, gemäß § 57 AsylG Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkte III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkte V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkte VI.).

In seiner Begründung stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen fest, dass die Frage zu klären sei, ob die Beschwerdeführer, unabhängig ihres Fluchtvorbringens, von potenzieller „vulnerability“ betroffen wären. Diese wäre in Zusammenschau mit den von den Beschwerdeführern über ausdrückliches Nachfragen zustande gekommenen Aussagen in Verbindung mit deren Familienanamnese zu verneinen. Die von den Beschwerdeführern zu Protokoll gegebenen personsbezogenen Daten sowie Lebensgeschichte würden keine Hinweise auf das Vorliegen einer individuell besonders herausragenden Stellung ihrer Person innerhalb der ukrainischen Gesellschaft, etwa durch Geburt, sozialer Stellung, religiösen Fachwissens, etc bieten. Dies bedeute, in Verbindung mit deren unbedenklichen Gesundheitszustand und Kenntnis der Amts-/Landessprache auf Muttersprachenniveau im Grundsätzlichen, dass eine neuerliche gesellschaftliche Sozialisation ihrer Person in der Ukraine greifen könne. Zur politischen Tätigkeit der Zweitbeschwerdeführerin führte das Bundesamt aus, dass sie lediglich über einen sehr kurzen Zeitraum, nämlich fünf Monate eine Partei in der Ukraine, die sich für die Rechte der Ukrainer einsetze, unterstützt habe. Dabei habe sie nicht vorgebracht, dass sie eine derartige Stellung innerhalb dieser Partei innehätte, die sie in den Vordergrund stelle. Sie habe via Facebook zur Teilnahme an Demonstrationen aufgerufen und Parteiprogramme verteilt. Darin könne nicht erkannt werden, dass sie mit dieser Unterstützung ein derartiges „high profile“ erreicht hätte, dass sie tatsächlich in den Fokus des ukrainischen Geheimdienstes gelangte. Sie wäre nicht einmal im Besitz einer Parteimitgliedskarte. Dass sie sich angeblich auf einer „schwarzen Liste“ des Geheimdienstes befinde, habe sie von einem Freund, der als Richter arbeite, erfahren. Weder der Erstbeschwerdeführer noch die Zweitbeschwerdeführerin hätten vorgebracht, dass Beamte des Geheimdienstes oder sonstigen Sicherheitsinstitutionen an sie herangetreten wären. Zudem habe die Zeitbeschwerdeführerin hinsichtlich ihrer Bedrohung im Herkunftsstaat wegen ihrer politischen Aktivität sehr oberflächliche Angaben gemacht. Sie habe nicht vorgebracht, dass sie jemals mit staatlichen Sicherheitsinstitutionen Kontakt hatte oder befragt worden sei. Auch der Erstbeschwerdeführer habe auf Nachfrage negiert, jemals von Seiten des ukrainischen Staates bedroht oder befragte worden zu sein. Dass sie angeblich auf einer Liste des SBU wären, wüssten die Beschwerdeführer lediglich vom Hören-Sagen von einem befreundeten Richter. Zusammengefasst sei aus dem von den Beschwerdeführern geschilderten Szenario hinsichtlich deren politische Aktivität keine Bedrohung erkennbar. Sie lebten bis zur Ausreise in Donezk. Sie hätten nicht vorgebracht, dass sie sich gezwungen sahen, deren Heimatstadt Donezk zu verlassen und sich in einem anderen Teil der Ukraine aufzuhalten. Die Familienangehörigen würden bis dato in Donezk leben. Dass die Angehörigen seit der Ausreise vom Geheimdienst SBU aufgesucht worden wären, um sich nach dem Verbleib der Beschwerdeführer zu erkundigen, sei ebenfalls nicht vorgebracht worden. Zu der behaupteten Vergewaltigung wurde moniert, dass die Angaben der Zweitbeschwerdeführerin erkennen ließen, dass sie mit dem Offizier offenbar ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt habe, zumal sie sich kurzfristig vom Erstbeschwerdeführer getrennt hatte. Denn anderenfalls wäre es nicht denkbar, dass deren Freund Ergeni binnen Minuten an ihre Seite eilte und die Angelegenheit mit dem Militärposten für sie regelte und sie nach Hause bringe. Inwiefern es in dieser Beziehung bzw. Verhältnis in weiterer Folge zu einer Vergewaltigung oder Bedrohung mit dem Tod kommen sollte, sei nicht erkennbar, zumal sie angab dass Ergeni sie und das ungeborene Kind nach Russland holen wollte, sich der Offizier also bereits wieder in Russland aufhielt. Die Zweitbeschwerdeführerin schilderte auch nicht, dass sie von Ergeni, nachdem sie diesen per SMS über die Schwangerschaft in Kenntnis setzte, belästigt worden sei, zumal sich dieser nach der SMS und der Übermittlung der Botschaft über die Schwangerschaft bei der Zweitbeschwerdeführerin nicht meldete, sondern die Zweitbeschwerdeführerin im März 2015 per Zufall auf der Straße begegnete. Warum dieser Offizier sie nach dem zufälligen Zusammentreffen auf der Straße nun nach Russland habe holen wollen oder gar mit dem Tod bedrohen sollte, da die Zweitbeschwerdeführerin nicht nach Russland gehen wollte, sei nicht plausibel, zumal dieser an der Zweitbeschwerdeführerin zumindest nach der Mitteilung über eine Vaterschaft per SMS kein Interesse gezeigt und sich nicht bei ihr gemeldet habe. Zusammengefasst gehe die erkennende Behörde davon aus, dass das von den Beschwerdeführern geschilderte Fluchtszenario ein Konstrukt sei, welches in der von ihnen geschilderten Weise in seiner Gesamtheit so nie stattgefunden habe und auch nicht fluchtauslösend gewesen sei. Obendrein sei es sehr vage und oberflächlich geschildert worden. Es sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer die Ukraine aufgrund der allgemeinen Lage verlassen hätten. Sie wären in der Lage gewesen, sich lediglich dreieinhalb Monate vor deren Ausreise einen Reisepass in der Ukraine ausstellen zu lassen und mit diesem legal vom Flughafen Kiew auszureisen. Es sei davon auszugehen, sofern es sich in ihrem Fall tatsächlich um eine Person handle, die wie von ihnen behaupteten in den Fokus des ukrainischen Geheimdienstes SBU gerückt wäre oder sich auf einer „Schwarzen Liste“ befinden, auf keinen Fall möglich wäre, sich einerseits einen Reisepass ausstellen zu lassen oder legal über den internationalen Flughafen auszureisen. Zudem hätten die Beschwerdeführer im Rahmen der Einvernahme einen völlig anderen Fluchtgrund vorgebracht. Da es keinerlei Bedrohung gegen ihre Person aus einem der fünf abschließend in der GFK angeführten Gründen gegeben sei, könne geschlussfolgert werden, dass keine Verfolgung ihrer Person stattgefunden habe. Aus ihrem Vorbringen und in Ermangelung einer Deckung mit der GFK bzw. dem AsylG wären deren Anträge auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen. Im Falle einer Rückkehr folgerte die Behörde, dass selbst, wenn sich die Beschwerdeführer nicht mehr in ihrer Heimatstadt ansiedeln könnten, ihnen die Möglichkeit offen stünde, sich in einem anderen Teil der Ukraine niederzulassen. Es wären im Verfahren keine konkreten Umstände hervorgekommen, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nicht wieder am Erwerbsleben teilnehmen könnten, sie würden die Landes- bzw. Amtssprache auf Muttersprachenniveau sprechen und verfügten somit über entsprechende Artikulationsmöglichkeiten, die für die Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses erleichternd seien. Die Beschwerdeführer wären gesund und könnten einer Beschäftigung, wie sie dies vor ihrer Ausreise aus der Ukraine gemacht hätten, nachgehen. Im Rahmen der Bescheide der Dritt- bis Viertbeschwerdeführer wurde auf das Vorbringen der Erst-bis Zweitbeschwerdeführer verwiesen und gefolgert, dass aus den allgemein bekannten Tatsachen zur Lage in der Ukraine keine Anhaltspunkte ersichtlich seien, aus denen eine allgemeine Gefährdung von Kindern - hier im Besonderen Kindern, die im Ausland geboren wurden - ersichtlich wären.

Gegen diese Bescheide erhoben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin für sich und die minderjährigen Dritt- bis Viertbeschwerdeführer am 20.04.2018 fristgerecht Beschwerden. Dabei wurde vorgebracht, dass die Behörde ihre Ermittlungspflicht unterlassen habe und in antizipierender Beweiswürdigung kein ordentliches Ermittlungsverfahren durchgeführt habe. Ferner wurde erneut auf die politische Aktivität der Zweitbeschwerdeführerin hingewiesen. Die Behörde habe trotz Kenntnis des Sachverhaltes die asylrechtliche Prüfung unterlassen, da sie das Vorbringen der Beschwerdeführer als unglaubwürdig erachtet habe, indem sie der Zweitbeschwerdeführerin aktenwidrige Aussagen unterstellt hätten. Zudem wurde auf das Länderinformationsblatt hingewiesen und gefolgert, dass ihnen, insbesondere aufgrund der Tätigkeit der Zweitbeschwerdeführerin, eine feindliche, politische Gesinnung unterstellt und im Falle einer Rückkehr Gefahr drohen würde. Ferner würden in der Ukraine Wehrdienstverweigerer und politische Gegner verfolgt. Zudem könnte den Beschwerdeführern nicht zugemutet werden, um Schutz bei den Separatisten vor den regulären Sicherheitskräften anzusuchen. Die Beschwerdeführer würden sohin über keine innerstaatliche Fluchtalternative verfügen.

Mit Eingaben vom 02.10.2020 und 09.10.2020 legten die Beschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor und eine Mitteilung, dass die Zweitbeschwerdeführerin die Scheidung mit dem Erstbeschwerdeführer anstrebt, die Ehepartner sich allerdings so gut verständen, dass eine gemeinsame Verhandlung möglich sei.

Zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes fand am 17.11.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt. Es erschienen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin, zugleich auch als gesetzliche Vertreter der minderjährigen Kinder, der Dritt- bis Viertbeschwerdeführer, in Begleitung ihrer zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaterin. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte sich für die Verhandlung entschuldigt. In der Verhandlung wurden die Beschwerdeführer zu ihren Fluchtgrünen und ihren persönlichen Verhältnissen sowie ihrer Integration befragt. Im Folgenden wurde ein Konvolut an Unterlagen in Vorlage gebracht.

Am 15.01.2021 langte ein Bericht des Bundesamtes über die Verhängung eines Betretung- und Annäherungsverbot des Erstbeschwerdeführer ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.Feststellungen:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Ukraine und somit Drittstaatsangehörige im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 10 FPG. Sie führen die im Spruch genannten Namen. Sie gehören der Volkgruppe der Russen an und bekennen sich zum russisch-orthodoxen Glauben. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Viertbeschwerdeführer. Die Identität aller Beschwerdeführer konnte zweifelsfrei festgestellt werden. Vor ihrer Ausreise und Einreise nach Österreich lebten die Erst- bis Drittbeschwerdeführer Beschwerdeführer in der Ukraine. Die Viertbeschwerdeführerin wurde in Österreich geboren.

Die Zweitbeschwerdeführerin reiste im Mai 2015 ein. Die Viertbeschwerdeführerin wurde im Juni 2015 in Österreich geboren. Der Erst- sowie der Drittbeschwerdeführer gelangten im September 2015 in das österreichische Bundesgebiet.

Am 18.05.2015 stellte die Zweitbeschwerdeführerin, am 03.06.2015 die Viertbeschwerdeführerin und am 09.09.2015 stellten der Erst- und der Drittbeschwerdeführer Anträge auf internationalen Schutz. Für alle vier Beschwerdeführer liegt ein Familienverfahren gem. § 34 AsylG vor.

Ihre Identität steht infolge der vorgelegten Dokumente fest. Das Vorbringen der Beschwerdeführer ist untrennbar miteinander verknüpft bzw. beziehen sich die Beschwerdeführer auf dieselben Verfolgungsgründe, weshalb die Entscheidung unter Berücksichtigung des Vorbringens aller Beschwerdeführer abzuhandeln war.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sprechen Russisch (=Muttersprache), Ukrainisch. Der Erstbeschwerdeführer spricht ein bisschen Englisch. Er hat 11 Jahre die Grundschule und fünf Jahre die Universität besucht. In seinem Herkunftsland arbeitete er als Manager, von 2006 bis 2015 arbeitete er bei zwei Lieferfirmen, die mit Diamanten handelten. Die finanzielle Situation im Herkunftsland der Beschwerdeführer war gut. Die Zweitbeschwerdeführerin hat zehn Jahre die Grundschule und fünf Jahre die Universität besucht. Sie war Bankangestellte. Die Erst- bis Drittbeschwerdeführer lebten bis vor ihrer Ausreise in einer Eigentumswohnung in Donezk.

Im Herkunftsland leben die Eltern der Erst- bis Zweitbeschwerdeführer sowie die Großmutter des Erstbeschwerdeführers und der Bruder der Zweitbeschwerdeführerin. Es besteht Kontakt.

Die Beschwerdeführer halten sich seit ihrer legalen Einreise nach Österreich durchgehend im österreichischen Bundesgebiet auf.

Der minderjährige Drittbeschwerdeführer hat verbale Kommunikationsprobleme, er geht zum Logopäden. Nicht festgestellt werden kann, dass die Beschwerdeführer an dermaßen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leiden, welche eine Rückkehr in Ukraine iSd. Art. 3 EMRK unzulässig machen würden.

Der Erstbeschwerdeführer bezog sich im Wesentlichen auf die Fluchtgründe der Zweibeschwerdeführerin und wurden für die minderjährigen Dritt- bis Viertbeschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

Nicht als Sachverhalt zugrunde gelegt werden sämtliche Angaben der Beschwerdeführer zur behaupteten Bedrohungssituation in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine. Insbesondere wird nicht festgestellt, dass den Beschwerdeführern eine asylrelevante Gefährdung, wegen der politischen Gesinnung und Aktivitäten der Zweitbeschwerdeführerin, ausgesetzt sind. Die Beschwerdeführer haben mit ihrem Vorbringen keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht.

Nicht festgestellt werden kann, dass die Beschwerdeführer im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Ukraine in ihrem Recht auf Leben gefährdet wären, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würden oder von der Todesstrafe bedroht wären.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Fall ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat in eine existenzgefährdende Notlage geraten würden und ihnen die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Die Beschwerdeführer waren in der Ukraine in der Lage sich ihren Lebensunterhalt – zuletzt durch die berufliche Tätigkeit des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin – zu sichern. Ihre finanzielle Situation war gesichert.

Die unbescholtenen Beschwerdeführer halten sich seit ihrer Antragstellung durchgehend in Österreich auf. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet, leben jedoch nicht im gemeinsamen Haushalt; sie leben seit über zwei Jahren getrennt. Die Zweitbeschwerdeführerin möchte die Scheidung. Die Zweit- bis Viertbeschwerdeführer leben im gemeinsamen Haushalt. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben Deutschkurse besucht. Der Erstbeschwerdeführer verfügt über geringe Deutschkenntnisse. Die Zweitbeschwerdeführerin spricht Deutsch und hat ein Zeugnis zur Integrationsprüfung, Sprachkompetenz, Werte- und Orientierungswissen B1 positiv abgelegt. Die Zweitbeschwerdeführerin ist herausragend sozial und karitativ tätig, absolvierte diverse Sprachkurse und ist bemüht, sich zu integrieren, wie durch eine Anzahl von Empfehlungsschreiben bewiesen wird. Die Zweitbeschwerdeführerin hat ihr eigenes Gewerbe angemeldet und erwirtschaftet ihr eigenes Einkommen. Die Zweitbeschwerdeführerin ist erwerbstätig, der Erstbeschwerdeführer kümmert sich um die Kinderbetreuung. Die Zweitbeschwerdeführerin bezieht keine Leistungen im Rahmen der Grundversorgung. Der Erstbeschwerdeführer bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Der Erstbeschwerdeführer verfügt über eine bedingte Einstellungszusage als Dachdecker. Er leistete gemeinnützige Tätigkeiten. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind ehrenamtlich aktiv. Zwischen dem Erstbeschwerdeführer und den minderjährigen Dritt- bis Viertbeschwerdeführer besteht ein Familienleben. Der Drittbeschwerdeführer besucht die Schule, hat die zweite Schulstufe als außerordentlicher Schüler positiv abgeschlossen, und ist in einem Fußballverein und macht Judo. Der Drittbeschwerdeführer erhält Fördertherapie. Die Viertbeschwerdeführerin besucht den Kindergarten und die Ballettschule. In Österreich lebt die Schwester, der Schwager sowie die drei Neffen/Nichten der Zweitbeschwerdeführerin, sie haben allesamt einen Aufenthaltstitel.

Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor. Es konnten keine Umstände festgestellt werden, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in die Ukraine gemäß § 46 FPG unzulässig wäre.

Die Beschwerdeführer wären im Fall der Rückkehr in die Ukraine nicht gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden oder von der Todesstrafe bedroht. Sie würden auch nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten und wäre ihnen nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, zuletzt aktualisiert am 06.07.2020:

Politische Lage

Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj (AA 6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). 2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus sind rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).

Die nach der „Revolution der Würde“auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020). Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).

Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).

Sicherheitslage

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).

Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).

Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergebensich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020). Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).

Ostukraine

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. IDPs sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer geflohen (AA 29.2.2020). An der Dynamik des Konfliktes hat sich wenig verändert, obwohl 2019 einige Durchbrüche gelangen, wie der mehrmalige Austausch von Gefangenen, die Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, und eine relativ erfolgreiche Waffenruhe im August 2019 (KAS 4.2020). Auch im April 2020 kam es wieder zu einem Gefangenenaustausch (RFE/RL 16.4.2020).

In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es besonders 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 29.2.2020).

In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. 2018 wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen, wenn eine Person an Verbrechen gegen die Sicherheit von DPR oder LPR beteiligt gewesen sein soll. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter und wird als hart und teils lebensbedrohlich bezeichnet. Berichtenzufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie körperliche Misshandlung, Folter, Hunger, sexuelle Gewalt, öffentliche Demütigung, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020).

Im Donbas unterdrücken die Separatisten die Rede- und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh- und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. In der LPR sollen die Websites von mehr als 50 ukrainischen Nachrichtenagenturen blockiert worden sein. Journalisten werden in der DNR genau überwacht, müssen die „Behörden“ der Separatisten z.B. über ihre Aktivitäten informieren oder werden von Mitgliedern bewaffneter Gruppen begleitet, wenn sie sich in der Nähe der Kontaktlinie bewegen.

Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen „Behörden“ unterstützt oder organisiert werden; oft mit erzwungener Teilnahme. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 11.3.2020). Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB 2.2019). Die meisten LGBTI-Personen sind aus den separatistischen Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk geflohen oder verstecken ihre sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität (USDOS 13.3.2019). 2019 soll sich laut Berichten das soziale Stigma und die Intoleranz aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verschärft haben; v.a. aufgrund der Anwendung von Gesetzen, welche die "Propaganda gleichgeschlechtlicher Beziehungen" kriminalisieren (USDOS 11.3.2020). Obwohl DNR und LNR in ihren Verfassungen Religionsfreiheit garantieren, sind Anhänger von Glaubensrichtungen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehören, Verfolgung ausgesetzt. Am schlimmsten betroffen sind die Zeugen Jehovas, die 2018 als extremistische Organisation vollständig verboten wurden und deren Eigentum beschlagnahmt wurde (FH 2020).

Die separatistischen Kräfte im Gebiet Donezk verboten die humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung und schränken die Hilfe internationaler humanitärer Organisationen ein. Infolgedessen sind Berichten zufolge die Preise für Grundnahrungsmittel für viele Personen, die auf dem von Russland kontrollierten Gebiet verblieben, zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen „humanitären Hilfe“ an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 11.3.2020). Die laufende Handelsblockade zwischen den besetzten Gebieten in der Ostukraine und dem Rest der Ukraine dämpfte, kombiniert mit Korruption und anhaltenden Kampfhandlungen, die Bemühungen zur Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft. Viele Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (FH 2020).

Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie. Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU 3.2019). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW 17.1.2019). Die Bewegungsfreiheit nach Russland ist weniger eingeschränkt (FH 2020).

Im Zuge der Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten kam es 2014 in jenen Gebieten, in denen nicht die ukrainischen Streitkräfte selbst, sondern Freiwilligenbataillone eingesetzt waren, mitunter zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Bataillone wurden in der Folgezeit sukzessive der Nationalgarde (Innenministerium) unterstellt, nur das Bataillon „Ajdar“ wurde in die Armee eingegliedert. Offiziell wurden Freiwilligenbataillone danach nicht mehr an der Kontaktlinie, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete eingesetzt. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen kam, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, evtl. auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Infolge des Übergangs von der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine, geführt vom SBU, Anm.) zu der nunmehr von der Armee koordinierten OVK (Operation der Vereinigten Kräfte) mit April 2018, wurden verbliebene Freiwilligenverbände endgültig in die regulären Streitkräfte eingegliedert oder haben die OVK-Zone verlassen (AA 29.2.2020).

Es gibt Berichte über Entführungen auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Am häufigsten wurden Zivilisten von den von Russland geführten Streitkräften an Ein-/Ausreisekontrollpunkten entlang der Kontaktlinie festgenommen. Beide Konfliktparteien setzen Landminen ohne Umzäunung, Beschilderung oder andere Maßnahmen ein, wodurch Opfer unter der Zivilbevölkerung verhindert werden könnten. Besonders akut sind die Risiken für Personen, die in Städten und Siedlungen in der Nähe der Kontaktlinie leben, sowie für Personen, welche die Kontaktlinie täglich überqueren müssen (USDOS 11.3.2020). Von Jänner bis November 2019 dokumentierte die UNHochkommissarin für Menschenrechte 162 konfliktbezogene zivile Unfallopfer; davon kamen 26 zu Tode, 136 wurden verletzt. Dabei wurden 101 der Unfälle durch Handfeuerwaffen und 58 durch Minen und Sprengstoffe verursacht. Insgesamt war im Jahr 2019 gegenüber 2018 ein Rückgang konfliktbedingter Unfälle um fast 40% zu verzeichnen (AA 29.2.2020). Zu den fünf Gruppen, die am stärksten vom Konflikt betroffen sind, gehören ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, IDPs, Kinder und Familien von Alleinerzieherinnen (UN 1.2020).

Im Juni 2019 begann die Russische Föderation damit, in einem erleichterten Verfahren russische Pässe für ukrainische Staatsbürger, die in den besetzten Gebieten leben, auszustellen (FH 2020). Acht Monate nach der Vereinfachung des Verfahrens zum Erwerb eines russischen Passes für die Donbas-Bewohner gab Russland bekannt, dass es bereits über 196.000 Ukrainern die Staatsbürgerschaft verliehen hatte (TMT 3.1.2020).

Rechtsschutz / Justizwesen

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweisezu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019). 2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe AntiKorruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nichtmilitärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem Inund Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).

Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).

Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurdengetötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).

In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „ReAttestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffungeines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).

Folter und unmenschliche Behandlung

Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Bestrafungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen, sind gemäß Artikel 28 der ukrainischen Verfassung verboten. Die Ukraine ist seit 1987 Mitglied der UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) und seit 1997 Teilnehmerstaat der Anti-Folter-Konvention des Europarats (AA 29.2.2020).

Trotzdem gibt es Berichte, dass Strafverfolgungsbehörden an solchen Misshandlungen beteiligt waren. Obwohl Gerichte keine unter Zwang zustande gekommene Geständnisse mehr als Beweismittel verwenden, gibt es Berichte über von Exekutivbeamten durch Folter erzwungene Geständnisse. Die Misshandlung von Gefangenen durch die Polizei blieb ein weit verbreitetes Problem. In einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame,unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von Jänner 2019 heißt es, dass der Sonderberichterstatter zahlreiche Vorwürfe von Folter und Misshandlung durch die Polizei erhalten habe, darunter auch gegen Jugendliche, fast immer während der Festnahme und des Verhörs. Die meisten Insassen berichteten, dass die Untersuchungsbeamten eine solche Behandlung einsetzten, um sie einzuschüchtern oder sie zu zwingen, ein angebliches Verbrechen zu gestehen. Der Sonderberichterstatter stellte ferner fest, dass es Rechtsanwälten, Polizeibeamten, Staatsanwälten und Richtern an grundlegenden Kenntnissen mangelte, um Anschuldigungen von Folter und Misshandlung angemessen zu untersuchen und zu dokumentieren. Folglich erhielten Opfer von Folter oder anderen Misshandlungen im Allgemeinen keine Hilfe von staatlichen Behörden. Nach Angaben der Charkiwer Menschenrechtsgruppe berichteten diejenigen, die bei der Generalstaatsanwaltschaft Folterbeschwerden eingereicht hatten, dass Strafverfolgungsbeamte sie oder ihre Angehörigen eingeschüchtert und gezwungen hätten, ihre Beschwerden zurückzuziehen. Menschenrechtsorganisationen und Medien berichteten über Todesfälle aufgrund von Folter oder Vernachlässigung durch Polizei oder Gefängnispersonal (USDOS 11.3.2020).

m von der Regierung kontrollierten Gebiet erhielt das Office of the UN High Commissioner for Human Rights Monitoring Mission in Ukraine (HRMMU) weiterhin Vorwürfe, dass der SBU Personen sowohl in offiziellen als auch in inoffiziellen Haftanstalten festhielt und missbrauchte, um Informationen zu erhalten und Verdächtige unter Druck zu setzen, damit sie gestehen oder kooperieren. Die Zahl der gemeldeten Fälle war erheblich geringer als in den vergangenen Jahren. HRMMU vermutete, dass solche Fälle zu wenig gemeldet wurden, weil die Opfer oft in Haft blieben oder aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen oder aus mangelndem Vertrauen in das Justizsystem Angst hatten, Missbrauch anzuzeigen. Dem HRMMU zufolge gibt der Mangel an wirksamen Ermittlungen in zuvor dokumentierten Fällen von Folter und körperlicher Misshandlung nach wie vor Anlass zur Sorge (USDOS 11.3.2020). Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse des HRMMU, einige wenige Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlungen wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen. HRMMU, das sonst in regierungskontrollierten Gebieten problemlos Zugang zu Inhaftierten erhält, beklagte in der Vergangenheit gelegentlich erhebliche Verzögerungen beim Erhalt von Besuchsgenehmigungen für Personen, gegen die der SBU ermittelt. Ein im Mai 2017 bekannt gewordener Gesetzentwurf räumt die Existenz illegaler SBU-Gefängnisse ein und zielt darauf ab, diese auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen (AA 29.2.2020).

Aus den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine (Donbas) gibt es Berichte über gewaltsame Unterdrückung aller Formen von Dissidenten, allgegenwärtige Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen (AI 16.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Nach Angaben internationaler Organisationen und NGOs gehören zu den Missbräuchen Schläge, Zwangsarbeit, psychische und physische Folter, öffentliche Erniedrigung und sexuelle Gewalt (USDOS 11.3.2020).

Korruption

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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