TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/21 W171 2196138-2

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Veröffentlicht am 21.05.2021
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Entscheidungsdatum

21.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §28 Abs3

Spruch


W171 2196138-2/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gregor MORAWETZ, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Julia Ecker, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom 08.03.2021, Zahl XXXX , beschlossen:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) stellte am 19.12.2015 nach unrechtmäßiger Einreise beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Bei seiner Erstbefragung am 19.12.2015 gab der BF an, aus der Provinz Ghazni zu stammen. Er sei Hazara und Schiit, seine Frau, seine beiden Töchter sowie seine Mutter und drei Schwestern würden noch im Heimatland leben. Eine Schwester sei in Österreich aufhältig, ein Bruder in Russland. Er habe 12 Jahre lang die Schule besucht und nach sechsmonatiger Ausbildung als Polizist gearbeitet. Als Fluchtgründe führte er an, dass er in Afghanistan als Hazara nicht leben könne. Weiters habe er Probleme mit den Taliban und den Daesh. So habe ihn eine der beiden Gruppierungen nicht mit seiner herzkranken Tochter nach Kabul reisen lassen. Seine finanzielle Lage sei gut gewesen. Er habe jedoch Angst, dass ihn die Taliban aufgrund seiner Tätigkeit als Polizist töten würden.

3. Am 18.04.2018 wurde der BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Befragt nach seinem Fluchtgrund führte er aus, weder aufgrund seiner Religion noch aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit persönlich verfolgt worden zu sein. Er sei jedoch zwei bis drei Monate vor seiner Ausreise mit seiner Tochter nach Kabul gefahren, wobei er zwischendurch das Fahrzeug gewechselt habe. Die Taliban hätten das ursprüngliche Fahrzeug angehalten und ihn gesucht. Weiters habe ihn ein festgenommener Dieb etwa ein Jahr vor der Ausreise mit dem Tod bedroht. Er legte Unterlagen zum Beweis seiner beruflichen Tätigkeit vor.

4. Mit Bescheid vom 27.04.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz zur Gänze ab. Es wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt.

5. Die Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.05.2020 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet abgewiesen.

Das Gericht stellte fest, dass weder der BF noch seine Familie in Afghanistan konkret von den Taliban oder von anderen Personen verfolgt oder von diesen bedroht wurden. Der BF oder dessen Familie wurden nicht von den Taliban infolge des von ihm angegebenen Berufes als Polizist bedroht. Er hatte keinen Kontakt zu den Taliban und wird von diesen auch nicht gesucht. Dem BF wird nicht seitens der Taliban aufgrund seines angegebenen Berufes oder aus sonstigen Gründen eine den Ansichten der Taliban gegenläufige politische oder religiöse Einstellung unterstellt. Der BF wird nicht von Personen verfolgt oder bedroht, die er im Rahmen der von ihm angeführten Tätigkeit als Polizist verhaftet oder verfolgt hat. Der BF hat keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet werden würde. Ihm droht in Afghanistan aufgrund eines auch nur unterstellten Abfalles vom islamischen Glauben keine Gefahr der physischen oder psychischen Gewalt. Auch wenn er derzeit wenig religiös interessiert ist, entstammt er keiner strenggläubigen Familie. Es gab für ihn aus diesem Grund bisher keine Probleme in Afghanistan und standen solche auch nicht unmittelbar bevor. Er ist nicht vom Islam abgefallen und er ist immer noch schiitischer Moslem. Er tritt auch nicht spezifisch gegen den Islam oder gar religionsfeindlich auf. Der BF war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

6. Eine außerordentliche Revision gegen diese Entscheidung wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 05.08.2020 zurückgewiesen.

7. Der BF stellte am 01.09.2020 in der Schweiz einen weiteren Asylantrag.

8. Nach seiner Rücküberstellung wurde der BF am 27.11.2020 erstbefragt. Dabei gab er an, dass seine Fluchtgründe aus dem ersten Verfahren aufrecht seien. Ergänzend sei seine Familie vor eineinhalb Jahren von einem Unbekannten bedroht worden. Dabei sei das Haus zerstört und viele Dinge gestohlen worden. Bei einer Rückkehr würde er von der Mafia und den Taliban getötet werden.

9. In einer Einvernahme durch das BFA am 12.01.2020 gab der BF an, dass er an Depressionen leide, derzeit aber keine Medikamente einnehme. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass in Afghanistan bekannt geworden sei, dass er einen negativen Bescheid erhalten habe. Danach sei seine Familie bedroht worden. Seine Frau sei daher mit den Töchtern zu seiner Mutter nach Kabul geflohen. Er habe zu seinem Fluchtvorbringen nunmehr neue Beweismittel.

Der BF legte folgende Beweismittel vor:

- Kopie eines Polizeiausweises

- Kopie einer Bankomatkarte für ein staatliches Gehaltskonto

- E-Mail-Korrespondenz in französischer Sprache zwischen einer Schweizer Rechtsberatung und dem französischen Innenministerium, in der bestätigt wird, dass das vom BF vorgelegte Zertifikat einer Ausbildung für afghanische Polizisten echt sei

10. Aus einer gutachterlichen Stellungnahme vom 27.02.2021 einer Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutin geht hervor, dass der BF an einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion leide. Eine medikamentöse Behandlung könne hilfreich sein, sei jedoch nicht zwingend erforderlich.

11. Mit Bescheid des BFA vom 08.03.2021 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I. und II.). Eine Aufenthaltsberechtigung gem. § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gem. § 52 Abs. 9 festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gem. § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gem. § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

Der gegenständliche Bescheid wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sich der BF nach wie vor auf Rückkehrhindernisse berufe, welche bereits im Kern in seinem Vorverfahren zur Sprache gebracht worden seien.

12. Gegen den oben genannten Bescheid richtet sich die im Wege seiner Rechtsvertretung am 22.03.2021 erhobene Beschwerde in vollem Umfang.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Rechtliche Beurteilung:

Zu A):

1.1. Anzuwendendes Recht:

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 in der geltenden Fassung geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes – AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

§ 28 VwGVG lautet:

(1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die B-hörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

§ 1 BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 in der geltenden Fassung bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem BFA, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem BVwG gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG 2005 und Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG bleiben unberührt.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 in der geltenden Fassung, entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA das BVwG. § 16 Abs. 6 und § 18 Abs. 7 BFA-VG bestimmen für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, dass §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden sind.

1.2. Rechtlich folgt daraus:

Gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht (VwG) den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, sofern die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat.

Zur Anwendung der Vorgängerbestimmung des § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat – an dessen Stelle als Rechtsmittelinstanz in Asylsachen mit 01.07.2008 der Asylgerichtshof und mit 01.01.2014 das BVwG getreten ist – hat der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) mit Erkenntnis vom 21.11.2002, 2002/20/0315, ausgeführt:

„Im Berufungsverfahren vor der belangten Behörde ist gemäß § 23 AsylG und Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG (unter anderem) § 66 AVG anzuwenden. Nach § 66 Abs. 1 AVG in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998 hat die Berufungsbehörde notwendige Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durch eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde durchführen zu lassen oder selbst vorzunehmen. Außer dem in § 66 Abs. 2 AVG erwähnten Fall hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, gemäß § 66 Abs. 4 AVG immer in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. dazu unter dem besonderen Gesichtspunkt der Auslegung der Entscheidungsbefugnis der belangten Behörde im abgekürzten Berufungsverfahren nach § 32 AsylG die Ausführungen im Erkenntnis vom 23.07.1998, 98/20/0175, Slg. Nr. 14.945/A, die mehrfach vergleichend auf § 66 Abs. 2 AVG Bezug nehmen; zu diesem Erkenntnis siehe auch Wiederin, ZUV 2000/1, 20 f.)“

Mit Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, hat der VwGH einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluss eines VwG aufgehoben, weil das VwG in der Sache selbst hätte entscheiden müssen. In der Begründung dieser Entscheidung führte der VwGH unter anderem aus, dass die Aufhebung eines Bescheides durch ein VwG nicht in Betracht kommt, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies werde jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen werde insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gelte, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen ließen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hätte, damit diese dann durch das VwG vorgenommen werden.

Der VwGH hat zuletzt weitere Entscheidungen getroffen, in denen er diese Grundsätze weiter ausgebildet hat. So hat er im Erkenntnis vom 19.04.2016, Ra 2015/01/0010, ausgesprochen, dass auch wenn das Verwaltungsgericht die beweiswürdigenden Erwägungen einer Verwaltungsbehörde nicht teilt, dies allein noch nicht dazu führt, dass von einem Unterlassen gebotener Ermittlungsschritte im Sinne des § 28 Abs. 3 VwGVG gesprochen werden könnte (vgl. etwa auch das Erkenntnis vom 20.05.2015, Ra 2014/20/0146).

Im angefochtenen Bescheid wurde beweiswürdigend zu den Gründen des BF für seinen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz Folgendes ausgeführt: „Bei Ihrem nunmehrigen Antrag auf internationalen Schutz am 11.02.2020 gaben Sie an, Ihr Fluchtgrund bzw. die Gründe welche Sie dazu bewogen haben Ihr Heimatland zu verlassen, besteht bzw. bestehen nach wie vor. Zusätzlich führten Sie an nun standesamtlich verheiratet zu sein mit einer in Österreich asylberechtigten Person. Außerdem führten Sie an, seit 10.02.2020 aus dem Islam ausgetreten zu sein. Sie haben in Afghanistan keine Angehörigen und möchten nun in Österreich bleiben. Diese Änderungen wären Ihnen seit Jänner bzw. Februar 2020 bekannt. In der Einvernahme zur Wahrung des Parteiengehörs steigerten Sie Ihr Fluchtvorbringen, indem Sie angegeben haben Gebete bei religiösen Veranstaltungen vorgelesen zu haben. Eines Tages wurden Sie von Taliban angehalten und daraufhin verbreiteten Sie das Gerücht, dass Polizei und Militär mit den Taliban zusammenarbeiten würden. Deshalb wurden Sie von der Polizei und dem Militär in Afghanistan verfolgt. Sie verneinten die Frage dies bereits vor der Behörde geschildert zu haben, da Sie angeblich nicht detailliert danach gefragt wurden. Zu Ihren Fluchtgründen befragt gaben Sie zu Protokoll bis dato die Wahrheit gesagt zu haben und nichts dahingehend berichtigen wollen. Eine wesentliche Änderung seit Rechtskraft wäre der Austritt aus dem Islam und die standesamtliche Ehe. Ihre Frau ist zurzeit auch schwanger und Sie möchten in Österreich bleiben. Unter diesen Umständen geht die Behörde davon aus, dass Ihre selben Gründe, welche Ihre Rückkehr nach Afghanistan laut ihren Angaben nicht möglich machen würde, ebenso wenig der Wahrheit entsprechen. In nunmehrigen Asylverfahren brachten Sie ebenso keine Gründe vor, warum Sie nicht nach Afghanistan zurückkönnten. Bereits in Ihrem Vorverfahren wurde Ihr Vorbringen einer hinreichenden Prüfung unterzogen und als nicht glaubhaft erachtet. Über Ihr Vorbringen wurde bereits rechtskräftig abgeschlossen. Es liegt weiterhin „Entschiedene Sache“ vor.“

In dieser Beweiswürdigung der belangten Behörde finden sich mehrere aktenwidrige Feststellungen. So stellte der BF den gegenständlichen, zweiten Asylantrag nicht am 11.02.2020, sondern am 03.09.2020 in der Schweiz und wurde er am 27.11.2020 in Österreich erstbefragt. Weiters ist der BF nicht mit einer in Österreich asylberechtigten Person standesamtlich verheiratet. Er hat auch nie behauptet, formal aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten zu sein. Schließlich stimmt das angeführte Fluchtvorbringen nicht mit dem des BF überein. Es liegt daher auf der Hand, dass die Beweiswürdigung eines anderen, nicht den BF betreffenden Bescheides irrtümlich in den gegenständlichen Bescheid eingefügt wurde.

Somit fehlt jedoch jede konkrete Auseinandersetzung mit den Gründen des BF für seinen neuerlichen Asylantrag. In der rechtlichen Beurteilung des Bescheids wird nur auf die Beweiswürdigung verwiesen („Zum gegenständlichen Verfahren ist anzumerken, dass Ihr Vorbringen keinen glaubhaften Kern aufweist, wie bereits in der Beweiswürdigung ausgeführt wurde.“), die jedoch, wie ausgeführt, nicht das Vorbringen des BF betrifft.

Dem angefochtenen Bescheid lässt sich daher nicht entnehmen, aus welchen konkreten Gründen das BFA davon ausgeht, dass sich das Fluchtvorbringen des BF mit dem im ersten Verfahren erörterten Vorbringen deckt und daher entscheidende Sache vorliegt.

In Ansehung dieser gravierenden Mangelhaftigkeit des angefochtenen Bescheids ist das Bundesverwaltungsgericht der Ansicht, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die notwendige Ermittlung des Sachverhalts unterlassen hat. Da beweiswürdigende Ermittlungen zum Vorbringen des BF fehlen, müssten diese (erstmals) vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommen werden. Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhalts ist jedoch nicht Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichts.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wird daher im fortgesetzten Verfahren die bislang unterlassene Beweiswürdigung vorzunehmen haben. Die daraus resultierenden Ergebnisse werden einer neuerlichen rechtlichen Auseinandersetzung seitens der belangten Behörde zugrunde zu legen sein.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.

Da der maßgebliche Sachverhalt aufgrund der Unterlassung notwendiger Ermittlungen seitens der belangten Behörde im gegenständlichen Fall noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen im vorliegenden Fall das dem Bundesverwaltungsgericht im Sinne des § 28 VwGVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung zu üben, der angefochtene Bescheid des BFA gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen.

Der Vollständigkeit halber ist zum Vorbringen des BF Folgendes auszuführen:

"Entschiedene Sache" iSd § 68 Abs. 1 AVG liegt vor, wenn sich gegenüber dem Vorbescheid weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (VwGH 09.09.1999, 97/21/0913; 27.09.2000, 98/12/0057; 25.04.2002, 2000/07/0235). Einem zweiten Asylantrag, der sich auf einen vor Beendigung des Verfahrens über den ersten Asylantrag verwirklichten Sachverhalt stützt, steht die Rechtskraft des Vorbescheides entgegen (VwGH 10.06.1998, 96/20/0266). Es kann aber nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung - nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen - berechtigen und verpflichten, der für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen rechtlich Asylrelevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein (vgl. etwa VwGH 04.11.2004, 2002/20/0391, mwN).

Eine neue Sachentscheidung ist, wie sich aus § 69 Abs. 1 Z 2 AVG ergibt, auch im Fall des-selben Begehrens aufgrund von Tatsachen und Beweismitteln, die schon vor Abschluss des vorangegangenen Verfahrens bestanden haben, ausgeschlossen, sodass einem Asylfolgeantrag, der sich auf einen vor Beendigung des Verfahrens über den ersten Asylantrag verwirklichten Sachverhalt stützt, die Rechtskraft des über den Erstantrag absprechenden Bescheides entgegensteht (vgl. VwGH 25. 4. 2007, 2004/20/0100, mwN).

Der BF stützte sich im gegenständlichen Verfahren (auch) auf sein früheres Vorbringen, legte jedoch neue Beweismittel vor, von denen eines (die Bestätigung des französischen Innenministeriums über die Echtheit einer vom BF vorgelegten Urkunde) erst nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Verfahrens entstanden ist.

Der BF stützt sich daher auf neu hervorgekommene Beweismittel, die den Sachverhalt des ersten Verfahrens betreffen und die behauptetermaßen, wenn sie schon im ersten Verfahren berücksichtigt worden wären, zu einer anderen Feststellung des Sachverhaltes und voraussichtlich zu einem im Hauptinhalt des Spruchs anderslautenden Bescheid geführt hätten (VwGH 30.06.1998, 98/05/0033; 20.12.2005, 2005/12/0124; Mannlicher/Quell AVG § 69 Anm 6). Neu hervorgekommene Beweismittel sind jedoch nicht in einem neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz, sondern in einem Antrag auf Wiederaufnahme des bereits abgeschlossenen Verfahrens nach § 32 Abs. 1 VwGVG geltend zu machen. Das BFA wird daher im fortgesetzten Verfahren seiner Manuduktionspflicht nachzukommen und den BF entsprechend anzuleiten haben.

Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen, zumal aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere, weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stützen, die bei den jeweiligen Erwägungen wiedergegeben wurde. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht Fluchtgründe individuelle Verhältnisse Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W171.2196138.2.01

Im RIS seit

01.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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