TE Bvwg Beschluss 2021/5/25 G313 2236822-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.05.2021
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Entscheidungsdatum

25.05.2021

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
FPG §70 Abs3
VwGVG §28 Abs3

Spruch


G313 2236822-1/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Birgit WALDNER-BEDITS als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Polen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2020, Zl. XXXX , beschlossen:

A)             In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)             Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA oder belangte Behörde) wurde gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG gegen den Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ein für die Dauer von 5 Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.), und gemäß § 70 Abs. 3 FPG dem BF ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit dieser Entscheidung erteilt (Spruchpunkt II.).

2. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

3. Am 12.11.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) mit Beschwerdevorlage-Schreiben vom 10.11.2020 die gegenständliche Beschwerde samt dazugehörigem Verwaltungsakt ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF ist polnischer Staatsangehöriger.

1.2. Mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wurde gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG gegen den BF ein für die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Die belangte Behörde ging von einem seit 24.08.2005 und damit von einem seit mehr als zehn Jahren durchgehenden Aufenthalt des BF im österreichischen Bundesgebiet aus, wandte dann bei der Prüfung der Zulässigkeit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes jedoch nicht den einen mindestens zehnjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzenden Gefährdungsmaßstab nach § 67 Abs. 1 S. 5 FPG, sondern den einfachen Gefährdungsmaßstab nach § 67 Abs. 1 S. 2 FPG an.

2. Beweiswürdigung:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang und die unter Punkt II. getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem Akteninhalt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:

Gemäß § 9 Abs. 2 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, und § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA.

Da sich die gegenständliche – zulässige und rechtzeitige – Beschwerde gegen einen Bescheid des BFA richtet, ist das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung zuständig.

Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr 33/2013 idgF, geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß §§ 16 Abs. 6 und 18 Abs. 7 BFA-VG sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art 130 Abs. 1 Z 1 B-VG (Anmerkung: sog. Bescheidbeschwerden) dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Z 1) oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Z 2).

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 leg cit. nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1
B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013) § 28 VwGVG Anm11). Gemäß dieser Bestimmung kann die Berufungsbehörde, sofern der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen. Wie oben ausgeführt, ist aufgrund von § 17 VwGVG die subsidiäre Anwendung von § 66 Abs. 2 AVG durch die Verwaltungsgerichte ausgeschlossen.

Im Gegensatz zu § 66 Abs. 2 AVG setzt § 28 Abs. 3 VwGVG die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung nicht mehr voraus.

Der VwGH hat mit Erkenntnis vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063 (Waffenverbot), in Bezug auf die grundsätzliche Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte nach § 28 VwGVG und die Möglichkeit der Zurückverweisung ausgesprochen, dass angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte darstellt. So kommt eine Aufhebung des Bescheides nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Das Verwaltungsgericht hat nachvollziehbar zu begründen, wenn es eine meritorische Entscheidungszuständigkeit nicht als gegeben annimmt, etwa weil es das Vorliegen der Voraussetzungen der Z 1 und Z 2 des § 28 Abs. 2 VwGVG verneint bzw. wenn es von der Möglichkeit des § 28 Abs. 3 erster Satz VwGVG nicht Gebrauch macht.

3.2. Mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wurde gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG gegen den BF ein für die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Der mit „Aufenthaltsverbot“ betitelte § 67 FPG lautet wie folgt

„§ 67. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

(2) Ein Aufenthaltsverbot kann, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden.

(…)

(4) Bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes ist auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen. Die Frist des Aufenthaltsverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise.“

§ 9 Abs. 1 und Abs. 2 BFA-VG besagt:

„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1.         die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2.         das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3.         die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4.         der Grad der Integration,
5.         die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6.         die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7.         Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8.         die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9.         die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.“

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff in einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Die belangte Behörde stellte Folgendes fest:

„Zu Ihrem Aufenthalt in Österreich:

-        Sie befinden sich laut Aktenlage seit 24.08.2005 mit Hauptwohnsitzmeldung durchgehend im Bundesgebiet. In der Zeit von 22.06.2001 bis 25.03.2004 waren Sie mit Unterbrechungen mit Nebenwohnsitzmeldung im Bundesgebiet aufhältig.

-        Mit 03.05.2016 wurde Ihnen von der Magistratsabteilung 35 eine unbefristete Anmeldebescheinigung mit dem Zweck „Arbeitnehmer“ erteilt.

(…)“ (AS 121)

§ 67 Abs. 1 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 enthält zwei Stufen für die Gefährdungsprognose, nämlich einerseits (nach dem ersten und zweiten Satz) die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, wobei eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr auf Grund eines persönlichen Verhaltens vorliegen muss, und andererseits (nach dem fünften Satz) die nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen mit mindestens zehnjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet.

Die belangte Behörde stellte fest, dass sich der BF laut Aktenlage seit 24.08.2005 mit Hauptwohnsitzmeldung durchgehend im Bundesgebiet aufhält, ging somit von einem seit 24.08.2005 - mehr als zehnjährigen - durchgehenden Aufenthalt des BF im österreichischen Bundesgebiet aus, wandte dann bei der Prüfung der Zulässigkeit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes jedoch nicht den einen mindestens zehnjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzenden Gefährdungsmaßstab nach § 67 Abs. 1 S. 5 FPG, sondern den einfachen Gefährdungsmaßstab nach § 67 Abs. 1 S. 2 FPG an und schloss auf eine vom BF ausgehende gegenwärtige, erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit (AS 126, 130).

Die belangte Behörde führte in der Rechtlichen Beurteilung nach Wiedergabe von § 67 Abs. 1 und Abs. 2 FPG zudem Folgendes aus (im Folgenden statt Name des BF „BF“):

„Diese Voraussetzungen treffen für Sie zu:

Sie wurden laut Strafregister mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen (…) am (…) 03.2020, rechtskräftig mit (…) 03.2020 (…) wegen des Verbrechens nach §§ 37 Abs. 1 lit. a, 38a Abs. 1 lit. a FinStrfG, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt, sowie zu einem anteiligen Wertersatz in der Höhe von € 50.000,- im Uneinbringlichkeitsfall 4 Wochen Ersatzfreiheitsstrafe.

Aus der Urteilsausfertigung geht folgendes hervor:

Der BF und eine weitere der Behörde bekannte Person sind schuldig, sie haben im Bereich des Zollamtes (…) in jeweils zahlreichen Angriffen vorsätzlich Sachen, die zugleich auch Monopolgegenstände sind, nämlich Zigaretten, hinsichtlich nicht mehr auszuforschender Täter die Finanzvergehen des Schmuggels begangen , an sich gebracht und verhandelt, indem sie die Zigaretten vermutlich ukrainischer oder russischer Herkunft aus Polen nach Österreich transportierten und unter falschem Namen per Paket an diverse Empfänger nach Großbritannien schickten, wobei sie die Abgabenhehlerei als Mitglied einer Bande von mindestens drei Personen, die sich zur Tatbegehung verbunden haben unter Mitwirkung (§11 FinStrfG) eines anderen Bandenmitglieds begingen und zwar:

Der BF hat im Zeitraum von 04. September 2016 bis 17. November 2017 zumindest 1.152.000 Stück (5760 Stangen) Zigaretten – strafbestimmender Wertbetrag von € 269.919,79

Der BF hat hierdurch das Verbrechen der Abgabenhehlerei als Mitglied einer Bande das Verbrechen nach §§ 37 Abs. 1 lit. a, 38a Abs. 1 lit. a FinStrG begangen.

Des Weiteren geht aus dem Urteil hervor, dass gemäß § 19 Abs. 1 lit. a FinStrG iVm. §§ 37 Abs. 2, 38 Abs. 2 lit. b, 44 Abs. 3 FinStrG, der BF hinsichtlich jener verhandelter Zigaretten, die nicht sichergestellt werden konnten ein anteiliger Wertersatz in der Höhe von € 50.000, -für den Fall der Uneinbringlichkeit 4 Wochen Ersatzfreiheitsstrafe gerichtlich festgesetzt wurde.

Die haben durch Ihr Verhalten gezeigt, dass Sie kein Interesse daran haben, die Gesetz Österreichs zu respektieren. Ihr bisheriger Aufenthalt in Österreich beeinträchtigte ein Grundinteresse der Gesellschaft, nämlich jenes an Ruhe, an Sicherheit für die Person und ihr Eigentum und an sozialem Frieden. Das von Ihnen gezeigte Verhalten ist erst vor kurze, gesetzt worden und ist aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation mit einer Fortsetzung zu rechnen. Es muss daher von einer aktuellen, gegenwärtigen Gefahr gesprochen werden.

Die beeinträchtigten öffentlichen Interessen sind maßgeblich für das Wohlergehen und –befinden der Bevölkerung und können daher als erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung bezeichnet werden. (…).“ (AS 126)

Im gegenständlichen Fall wurde auf die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung des BF von März 2020 und die aus diesem Urteil hervorgehenden strafbaren Handlungen Bezug genommen und dann separat davon festgehalten, dass der BF durch sein Verhalten gezeigt habe, dass er kein Interesse daran habe, die österreichischen Gesetze zu respektieren, durch seinen bisherigen Aufenthalt in Österreich die öffentlichen Interessen beeinträchtigt seien, und das von ihm gezeigte Verhalten erst vor kurzem gesetzt worden und aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation mit einer Fortsetzung zu rechnen sei, ohne sich zuvor mit der individuellen wirtschaftlichen Situation des BF konkret auseinandergesetzt zu haben.

Hingewiesen wird zunächst darauf, dass bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist, wobei nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen ist (vgl. VwGH 15.3.2018, Ra 2018/21/0007).

Die belangte Behörde traf zur wirtschaftlichen Situation des BF die Feststellungen, dass der BF im Bundesgebiet einer erlaubten Erwerbstätigkeit nachgeht und – laut vorgelegter Einkommensnachweise – bei einer bestimmten näher angeführten Firma beschäftigt ist. (AS 122)

Aufgrund dieser Feststellungen (allein) kann jedoch nicht eine wirtschaftliche Situation angenommen werden, die auf eine Fortsetzung der vom BF begangenen strafbaren Handlungen schließen lässt.

Die belangte Behörde hätte sich zuvor näher mit der individuellen wirtschaftlichen Situation des BF und damit auch mit dem von ihr am Tag der Ausfertigung des angefochtenen Bescheides für den Zehnjahreszeitraum von 12.10.2010 bis 12.10.2020 erstellten AJ-WEB Auskunftsverfahrensauszug auseinanderzusetzen gehabt, um hinreichend begründen zu können, warum von einer wirtschaftlichen Situation des BF ausgegangen wird, welche eine Fortsetzung der von ihm begangenen strafbaren Handlungen annehmen lässt.

Aus dem, dem Verwaltungsakt einliegenden Auszug (AS 113ff) geht jedenfalls hervor, dass der BF seit 18.05.2020 einer laufenden Beschäftigung bei einer bestimmten Firma nachgeht, bei derselben Firma von Anfang Mai bis 17.05.2020 einer geringfügigen und von Anfang Februar 2020 bis 20.03.2020 einer Mehrzeitbeschäftigung, und davor im Gesamtzeitraum von Anfang August 2011 bis Ende Jänner 2020 bei verschiedenen Dienstgebern (geringfügigen) Beschäftigungen nachgegangen ist und im Gesamtzeitraum vom 27.09.2010 bis 17.05.2020 immer wieder Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bezogen, nie jedoch bedarfsorientierte Mindestsicherung in Anspruch genommen hat.

Maßgebliche Ermittlungen und Feststellungen zur individuellen (wirtschaftlichen) Situation des BF fehlen somit.

Hingewiesen wird zudem darauf, dass gemäß § 67 Abs. 4 FPG bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes auf alle für seine Erlassung maßgeblichen Umstände, insbesondere auch auf die privaten und familiären Verhältnisse, Bedacht zu nehmen ist (VwGH 24.05.2016, Ra 2016/21/0075).

Die belangte Behörde hielt im angefochtenen Bescheid fest, dass der BF im österreichischen Bundesgebiet mit seiner Ehegattin und seiner minderjährigen Tochter in gemeinsamem Haushalt zusammenlebt, und noch einen älteren, ebenso minderjährigen Sohn, welcher mit der Ex-Gattin des BF zusammenlebt (AS 127), hat, und ein Familienleben iSv Art. 8 EMRK besteht, ein Verbleib des BF im Bundesgebiet aufgrund seines rechtswidrigen Verhaltens bzw. des von ihm begangenen schweren Finanzstrafvergehens (Verbrechen der Abgabenhehlerei) im Rahmen einer kriminellen Vereinigung jedoch eine massive Störung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellt und daher die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit höher zu bewerten sind als die privaten Interessen des BF an einem weiteren Bleiberecht (AS 130).

Die belangte Behörde wird im Hinblick auf die beiden in Österreich aufhältigen minderjährigen Kinder des BF – die sechs Jahre alte Tochter laut einem polnischen Personalausweis im Verwaltungsakt (AS 79) und den 15 Jahre alten Sohn laut einer dem Verwaltungsakt einliegenden Reisepasskopie (AS 89) – bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes auf die Bindungsintensität der zwischen dem BF und seinen beiden minderjährigen Kindern bestehenden Beziehung bzw. besonders auf das Kindeswohl Bedacht zu nehmen haben.

An dieser Stelle wird auf folgende höchstgerichtliche Judikatur verwiesen:

Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR entsteht ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR, 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl. 10730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.2.1996, Fall Gül, Appl 23.218/94 [Z32]).)

Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR 25.2.1992, Fall Margareta und Roger Andersson, Appl 12963/87 [Z72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR 15.9.2011, Fall Schneider, Appl 17.080/07 [Z81] mwN). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art 8 EMRK führen (vgl VfGH 28.2.2012, B1644/2000 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99 sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für ein Elternteil auf das Wohl eines Kindes zu ermitteln und bei der Interessenabwägung nach Art 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen (vgl VfSlg 19.362/2011; VfGH 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 9.6.2016, E2617/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 14.3.2018, E3964/2017; 11.6.2018, E343/2018, E345/2018; 11.6.2018, E435/2018).

Wo Kinder betroffen sind, muss das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden. Die Behörde müssen die Auswirkungen ihrer Entscheidung auf das Wohl der betroffenen Kinder prüfen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (vgl. VwGH 31.08.2017, Ro 2017/21/0012, Rz 8, mwN)

Im gegenständlichen Fall geht es um die Auswirkungen eines Aufenthaltsverbotes auf das Kindeswohl.

Gerade bei Festsetzung der Gültigkeitsdauer eines Aufenthaltsverbotes ist besonders auf das Kindeswohl Bedacht zu nehmen, wird das Kind doch durch ein ausgesprochenes längerfristiges Aufenthaltsverbot längerfristig von dem von der aufenthaltsbeendenden Maßnahme betroffenen Elternteil, dessen Anwesenheit es gerade in jungen Jahren bzw. in für das Kind wichtigen Entwicklungszeiten braucht, getrennt.

Im gegenständlichen Fall fehlt somit die Vornahme einer hinreichend begründeten Beurteilung einer Gefährdungsprognose unter Heranziehung des aufenthaltsdauerentsprechenden Gefährdungsmaßstabes und eine angemessene Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes unter Bedachtnahme auf das besonders berücksichtigungswürdige Kindeswohl.

3.3. Im gegenständlichen Fall hat sich nicht ergeben, dass die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das BVwG selbst im Interesse der Raschheit gelegen wäre, zumal nichts darauf hindeutet, dass die erforderliche Feststellung durch das BVwG selbst, verglichen mit der Feststellung durch die belangte Behörde nach Zurückverweisung der Angelegenheit, mit einer wesentlichen Zeitersparnis und Verkürzung der Verfahrensdauer verbunden wäre.

Schließlich liegt auch kein Anhaltspunkt dahingehend vor, dass die Feststellung durch das BVwG selbst im Vergleich zur Feststellung durch die Verwaltungsbehörde mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre.

3.4. Aus den dargelegten Gründen war der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

4. Entfall einer mündlichen Verhandlung

Da im gegenständlichen bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entfallen.

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht Gefährdungsprognose Kassation Kindeswohl mangelnde Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:G313.2236822.1.00

Im RIS seit

01.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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