TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/28 G302 2230057-9

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Veröffentlicht am 28.05.2021
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Entscheidungsdatum

28.05.2021

Norm

BFA-VG §22a Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §76

Spruch


G302 2230057-9/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Manfred ENZI über die Beschwerde des XXXX , geb. am XXXX , StA: China, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH in 1170 Wien gegen den Schubhaftbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , vom XXXX , Zl. XXXX , und gegen die Anhaltung in Schubhaft, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.11.2020, zu Recht erkannt:

A)

I.       Der Beschwerde wird stattgegeben und die Anhaltung ab dem 21.10.2020 für rechtswidrig erklärt.

II.      Der Bund (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in Höhe von 1.659,60 Euro binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

III.    Der Antrag des Bundes (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) auf Ersatz der Aufwendungen wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) vom XXXX , Zl. XXXX , wurde über XXXX , geb. am XXXX , StA: China (im Folgenden: BF) gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zwecke der Abschiebung angeordnet.

Der BF erhob durch seine rechtliche Vertretung fristgerecht Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid.

Am 03.11.2020 wurde beim Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seines Rechtsvertreters sowie eines Vertreters der belangten Behörde durchgeführt. Die Rechtsvertretung beantragte die schriftliche Ausfertigung des am 03.11.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses.

Mit Beschluss des VwGH vom 07.01.2021, Ra 2021/21/005-7, wurde der beim VwGH eingebrachten Revision die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Mit Erkenntnis des VwGH vom 08.04.2021, Ra 2021/21/0005-10, wurde das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF, ein chinesischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise am 12.09.2005 einen Asylantrag. Die belangte Behörde (vormals Bundesasylamt) wies diesen Antrag mit Bescheid vom XXXX ab, erklärte (insbesondere) die Abschiebung des BF in die Volksrepublik China für zulässig und verfügte seine Ausweisung. Die dagegen erhobene Berufung, die dann als Beschwerde zu behandeln war, wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 09.11.2010 abgewiesen.

Der BF verblieb in Österreich und wurde am 19.12.2019 bei der Ausübung einer unerlaubten Beschäftigung in einem Restaurant betreten, wobei er den für eine andere Person ausgestellten Aufenthaltstitel vorwies. Er wurde festgenommen und es wurde über ihn mit Mandatsbescheid der belangten Behörde vom XXXX gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet.

Im Zuge des danach eingeleiteten Verfahrens zur Erlangung eines Ersatzreisedokumentes („Heimreisezertifikat“) wurde der BF am 14.01.2020 der chinesischen Botschaft in Wien vorgeführt, von deren Seite Mitte September 2020 erklärt wurde, dass der BF nicht habe identifiziert werden können. Hierauf wurde der BF am 28.09.2020 neuerlich zu seinen Personaldaten befragt und er füllte ein entsprechendes Formular zur Erlangung eines Heimreisezertifikates („Fragebogen zur Identifizierung der Bürgerschaft der Volksrepublik China“) aus. Hierauf leitete die belangte Behörde neuerlich ein Verfahren zur Erlangung eines solchen Dokumentes ein.

Mit dem in der mündlichen Verhandlung am 30.09.2020 verkündeten und sodann mit 16.10.2020 gekürzt ausgefertigten Erkenntnis G314 2230057-8 (im Folgenden auch nur: „Vorerkenntnis“) stellte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Rahmen der nach § 22a Abs. 4 BFA-VG vorzunehmenden periodischen Schubhaftprüfung betreffend den weiterhin angehaltenen BF fest, dass zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen und dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft nicht verhältnismäßig sei. Diese Einschätzung begründete das BVwG wie folgt:

„Der BF ist seit XXXX in Schubhaft. Mit der zeitnahen Ausstellung eines Heimreisedokuments ist nicht zu rechnen, weil die chinesischen Behörden am 23.09.2020 erklärten, dass der BF nicht als chinesischer Staatsangehöriger identifiziert werden konnte. Entscheidungswesentliche Änderungen seither sind nicht eingetreten, zumal der BF im Wesentlichen konsistente Angaben zu seiner Identität gemacht hat.

Die Schubhaft kann ihren Zweck nur dann erfüllen, wenn das zu sichernde Verfahren in eine Abschiebung münden kann (VwGH 27.04.2020, Ra 2020/21/0116). Dafür ist es nicht erforderlich, dass die Effektuierung der Abschiebung als gewiss feststeht, sie muss sich aber nach Lage des Falles mit ausreichender Wahrscheinlichkeit als möglich darstellen (VwGH 11.05.2017, Ra 2016/21/0369). Da derzeit keine Flüge nach China stattfinden und nicht absehbar ist, wann der Flugverkehr wieder aufgenommen wird, ist die Fortsetzung der Schubhaft vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung in Zusammenschau mit der Ablehnung der Ausstellung eines HRZ nicht mehr verhältnismäßig.

Außerdem verliert eine Ausweisung (nunmehr Rückkehrentscheidung) ihre Wirksamkeit, wenn sich die Beurteilungsgrundlage im Hinblick auf die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK (nunmehr iVm § 9 Abs. 2 BFA-VG) maßgeblich zu Gunsten des Fremden geändert haben. Dies ist hier aufgrund des weit über zehnjährigen Aufenthalts des BF und der dadurch gelockerten Bindungen zu seinem Herkunftsstaat, seiner strafgerichtlichen Unbescholtenheit und der langjährigen Beziehung zu einer in Österreich lebenden und hier erwerbstätigen Frau trotz der Verstöße des BF gegen die öffentliche Ordnung (Beschäftigung ohne Aufenthaltstitel und arbeitsmarktrechtliche Bewilligung, Verstöße gegen das MeldeG) anzunehmen, zumal die Ausweisung im November 2010 erlassen wurde, sodass die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung auch wegen des Fehlens eines durchsetzbaren Titels für die Außerlandesbringung nicht weiter fortgesetzt werden kann (vgl. VwGH 29.06.2017, Ro 2016/21/0007).“

Der hierauf am XXXX enthaftete BF wurde am 21.10.2020 bei der Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittels ohne gültigen Fahrausweis betreten, anschließend festgenommen und es wurde über ihn noch am selben Tag nach seiner Vernehmung mit Mandatsbescheid der belangten Behörde neuerlich gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung verhängt. Die belangte Behörde erwähnte in diesem Bescheid zwar im Rahmen der Sachverhaltsdarstellung das zitierte Vorerkenntnis des BVwG, ging darauf jedoch in der weiteren Begründung nicht mehr ein. Es stellte in diesem Zusammenhang lediglich fest, Anfang Oktober 2020 habe bei den „chinesischen Behörden in Wien ein Wechsel“ stattgefunden und laut Mitteilung einer bestimmten Abteilung des BFA bestünden nun „neue (technische) Möglichkeiten“, um Ersatzreisedokumente erlangen zu können. Darauf kam die belangte Behörde, die sich auch mit der Frage von möglichen Flugverbindungen nach China nicht befasste, im Rahmen der rechtlichen Beurteilung nicht mehr zurück. Dort wurde auch ohne Weiteres davon ausgegangen, dass gegen den BF seit November 2010 eine rechtskräftige Ausweisung bestehe, der er „bis dato“ beharrlich nicht entsprochen habe.

Die gegen diesen Bescheid und gegen die darauf gegründete Anhaltung des BF in Schubhaft erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem in der mündlichen Verhandlung am 03.11.2020 verkündeten und über fristgerechten Antrag mit 16.11.2020 schriftlich ausgefertigten, vorliegend angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Unter einem stellte das BVwG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen (Spruchpunkt A.II.). Des Weiteren verpflichtete es den BF unter Abweisung seines Aufwandersatzantrags zum Kostenersatz an den Bund (Spruchpunkte A.III. und A.IV.). Schließlich sprach das BVwG noch aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).

In der rechtlichen Beurteilung vertrat das BVwG den Standpunkt, die belangte Behörde sei zutreffend davon ausgegangen, dass mit der Ausweisung des BF nach China ein durchsetzbarer Titel für die Außerlandesbringung bestehe. Die mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom „07.01.2013“ ausgesprochene Ausweisung sei formell noch aufrecht und habe auch ihre Wirksamkeit nicht verloren. Sie gelte gemäß § 75 Abs. 23 AsylG 2005 als Rückkehrentscheidung, die gemäß § 12a Abs. 6 AsylG 2005 achtzehn Monate ab der Ausreise des Fremden - der BF habe das Bundesgebiet zwischenzeitlich nicht verlassen - aufrecht bleibe. „Aus den Feststellungen“ folge ferner, dass die nach Art. 8 EMRK (nunmehr iVm § 9 Abs. 2 BFA-VG) wesentlichen Beurteilungsgrundlagen keine maßgebliche Veränderung erfahren hätten, sodass auch die Wirksamkeit der als Rückkehrentscheidung geltenden Ausweisung weiterhin bestehe.

Im vorliegenden Fall habe sich auch nicht ergeben, dass - zumindest in diesem Stadium - einerseits eine Identifizierung des BF und die Ausstellung eines Heimreisezertifikates völlig unwahrscheinlich und andererseits die Durchführung einer Abschiebung in den Herkunftsstaat tatsächlich unmöglich wären. Dabei bezog sich das BVwG auf die den Ausführungen des Vertreters der belangten Behörde in der mündlichen Verhandlung folgenden Feststellungen, wonach das im Oktober 2020 wiederum eingeleitete Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikats von Seiten der belangten Behörde „intensiv betrieben“ werde; zuletzt sei am 03.11.2020 urgiert worden. Im Oktober 2020 habe ein Wechsel des Personals in der chinesischen Vertretungsbehörde stattgefunden und die neue Konsulin zeige sich sehr kooperationsbereit. Nunmehr bestehe über „Skype Business“ mit einer direkten Leitung XXXX - Peking die Möglichkeit, Einvernahmen und Überprüfungen in Echtzeit durchzuführen. Die belangte Behörde rechne aufgrund der nunmehr guten Zusammenarbeit mit der chinesischen Vertretungsbehörde mit der baldigen Ausstellung eines Heimreisezertifikates. Eine begleitete Abschiebung des BF in sein Herkunftsland könne somit „in etwa im Februar 2021“ stattfinden, zumal „aufgrund der Ankündigung der Regierung“, die durch Covid-19 bedingten Beschränkungen neuerlich zu lockern, eine baldige Wiederaufnahme der Flüge nach China abzusehen sei. Sobald die „Situation mit Covid-19 zu Ende“ sei, könne der BF nach Erhalt eines Heimreisezertifikates im Wege eines Charterfluges in seinen Heimatstaat abgeschoben werden. Einer Abschiebung innerhalb der höchstzulässigen Schubhaftdauer stehe somit aus aktueller Sicht kein Hindernis entgegen. Schließlich erachtete das BVwG, das aufgrund des bisherigen Verhaltens des BF vom Vorliegen von „massiver Fluchtgefahr“ ausging, „die Anordnung der seit XXXX andauernden Schubhaft“ auch als verhältnismäßig. Zur Begründung des nach § 22a Abs. 3 BFA-VG getroffenen Fortsetzungsausspruches verwies das BVwG im Wesentlichen auf diese Erwägungen.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zum Verfahrensgang des gegenständlichen Schubhaftverfahrens ergeben sich aus dem unbedenklichen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten der belangten Behörde, dem vorliegenden Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichts sowie der mündlichen Verhandlung am 03.11.2020.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Stattgebung der Beschwerde betreffend Schubhaftbescheid und Anhaltung in Schubhaft (Spruchpunkt A. I.):

Die maßgeblichen Bestimmungen des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, lauten:

„§ 76 (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.

(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn

1. dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,

2. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder

3. die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.

Bedarf es der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme deshalb nicht, weil bereits eine aufrechte rechtskräftige Rückkehrentscheidung vorliegt (§ 59 Abs. 5), so steht dies der Anwendung der Z 1 nicht entgegen. In den Fällen des § 40 Abs. 5 BFA-VG gilt Z 1 mit der Maßgabe, dass die Anordnung der Schubhaft eine vom Aufenthalt des Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht voraussetzt.

(2a) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) ist auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder 2 oder im Sinne des Art. 2 lit n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,

1. ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;

1a. ob der Fremde eine Verpflichtung gemäß § 46 Abs. 2 oder 2a verletzt hat, insbesondere, wenn ihm diese Verpflichtung mit Bescheid gemäß § 46 Abs. 2b auferlegt worden ist, er diesem Bescheid nicht Folge geleistet hat und deshalb gegen ihn Zwangsstrafen (§ 3 Abs. 3 BFA-VG) angeordnet worden sind;

2. ob der Fremde entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist;

3. ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat;

4. ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt;

5. ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs. 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde;

6. ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern

a. der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hat oder der Fremde falsche Angaben hierüber gemacht hat,

b. der Fremde versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen, oder

c. es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass der Fremde die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt;

7. ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt;

8. ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebietsbeschränkungen, Meldeverpflichtungen oder Anordnungen der Unterkunftnahme gemäß §§ 52a, 56, 57 oder 71 FPG, § 38b SPG, § 13 Abs. 2 BFA-VG oder §§ 15a oder 15b AsylG 2005 verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;

9. der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes.

(…)

(5) Wird eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (Z 1 oder 2) durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 BFA-VG gelten sinngemäß.

§ 77 (1) Das Bundesamt hat bei Vorliegen der in § 76 genannten Gründe gelindere Mittel anzuordnen, wenn es Grund zur Annahme hat, dass der Zweck der Schubhaft durch Anwendung des gelinderen Mittels erreicht werden kann. Gegen mündige Minderjährige hat das Bundesamt gelindere Mittel anzuwenden, es sei denn bestimmte Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann; diesfalls gilt § 80 Abs. 2 Z 1.

(…)

§ 80 (1) Das Bundesamt ist verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert. Die Schubhaft darf so lange aufrechterhalten werden, bis der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist oder ihr Ziel nicht mehr erreicht werden kann.

(2) Die Schubhaftdauer darf, vorbehaltlich des Abs. 5 und der Dublin-Verordnung, grundsätzlich

1. drei Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen mündigen Minderjährigen angeordnet wird;

2. sechs Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen Fremden, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, angeordnet wird und kein Fall der Abs. 3 und 4 vorliegt.

(3) Darf ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil über einen Antrag gemäß § 51 noch nicht rechtskräftig entschieden ist, kann die Schubhaft bis zum Ablauf der vierten Woche nach rechtskräftiger Entscheidung, insgesamt jedoch nicht länger als sechs Monate aufrecht erhalten werden.

(4) Kann ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil

1. die Feststellung seiner Identität und der Staatsangehörigkeit, insbesondere zum Zweck der Erlangung eines Ersatzreisedokumentes, nicht möglich ist,

2. eine für die Ein- oder Durchreise erforderliche Bewilligung eines anderen Staates nicht vorliegt,

3. der Fremde die Abschiebung dadurch vereitelt, dass er sich der Zwangsgewalt (§ 13) widersetzt, oder

4. die Abschiebung dadurch, dass der Fremde sich bereits einmal dem Verfahren entzogen oder ein Abschiebungshindernis auf sonstige Weise zu vertreten hat, gefährdet erscheint,

kann die Schubhaft wegen desselben Sachverhalts abweichend von Abs. 2 Z 2 und Abs. 3 höchstens 18 Monate aufrechterhalten werden.

(…)“

Der mit "Rechtsschutz bei Festnahme, Anhaltung und Schubhaft" betitelte § 22a des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG) lautet:

„(1) Der Fremde hat das Recht, das Bundesverwaltungsgericht mit der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, der Festnahme oder der Anhaltung anzurufen, wenn

1. er nach diesem Bundesgesetz festgenommen worden ist,

2. er unter Berufung auf dieses Bundesgesetz angehalten wird oder wurde, oder

3. gegen ihn Schubhaft gemäß dem 8. Hauptstück des FPG angeordnet wurde.

(1a) Für Beschwerden gemäß Abs. 1 gelten die für Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG anwendbaren Bestimmungen des VwGVG mit der Maßgabe, dass belangte Behörde jene Behörde ist, die den angefochtenen Schubhaftbescheid erlassen hat oder der die Festnahme oder die Anhaltung zuzurechnen ist.

(2) Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes über die Fortsetzung der Schubhaft hat binnen einer Woche zu ergehen, es sei denn, die Anhaltung des Fremden hätte vorher geendet. Hat das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 3 AVG aufgetragen, innerhalb bestimmter Frist einen Mangel der Beschwerde zu beheben, wird der Lauf der Entscheidungsfrist bis zur Behebung des Mangels oder bis zum fruchtlosen Ablauf der Frist gehemmt.

(3) Sofern die Anhaltung noch andauert, hat das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen.

(…)“

Die Anwendung dieser Rechtslage auf den hier maßgeblichen Sachverhalt ergibt Folgendes:

Das Erkenntnis des BVwG vom 30.09.2020 enthielt den Ausspruch, dass die Voraussetzungen für die weitere Anhaltung des BF in Schubhaft nicht vorlägen. Da die Voraussetzungen für die weitere Anhaltung in Schubhaft sich von jenen für die Verhängung der Schubhaft grundsätzlich nicht unterscheiden, ist die Schubhaftbehörde an einen solchen Ausspruch insoweit gebunden, als sie ohne maßgebliche Änderung der Sach- oder Rechtslage keinen neuen Schubhaftbescheid erlassen darf (vgl. in diesem Sinn schon VwGH 19.03.2013, 2011/21/0246, Punkt 3. der Entscheidungsgründe, u.a. mit dem Hinweis auf VwGH 15.12.2011, 2010/21/0292, Punkt 2. der Entscheidungsgründe). Eine solche Bindung besteht - wie sich ebenfalls aus den zitierten Entscheidungen ergibt - auch für das BVwG im Rahmen eines Verfahrens über eine gegen den neuen Schubhaftbescheid erhobene Beschwerde in Bezug auf den von ihm nach § 22a Abs. 3 BFA-VG zu treffenden Fortsetzungsausspruch.

Die dargestellte Bindungswirkung verkannte die belangte Behörde offenbar, weil es sich im Schubhaftbescheid vom XXXX überhaupt nicht mit der Frage auseinandersetzte, ob seit der Verkündung des erwähnten Vorerkenntnisses eine maßgebliche Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten ist. Die bloße allgemeine Bezugnahme auf einen (personellen) Wechsel bei der chinesischen Vertretungsbehörde in Wien und auf nicht näher beschriebene neue (technische) Möglichkeiten, ohne hieraus nachvollziehbar fallbezogene Konsequenzen zu ziehen, reichte dafür jedenfalls nicht. Schon deshalb war der Beschwerde gegen den Schubhaftbescheid stattzugeben (vgl. VwGH 08.04.2020, Ra 2021/21/005).

War der Schubhaftbescheid rechtswidrig, so muss das auch für die gesamte Zeit der auf ihn gestützten Anhaltung gelten.

Da sich der BF nicht mehr im Stande der Schubhaft befindet, ist auch der vom Verwaltungsgerichtshof behobene Fortsetzungsausspruch nach § 22a Abs. 3 BFA-VG nicht zu wiederholen.

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

3.2. Kostenersatz (Spruchpunkt A II. und III.)

Gemäß § 22a Abs. 1a BFA-VG gelten für Beschwerden gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG die für Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG anwendbaren Bestimmungen des VwGVG mit der Maßgabe sinngemäß, dass belangte Behörde jene Behörde ist, die den angefochtenen Schubhaftbescheid erlassen hat oder der die Festnahme oder die Anhaltung zuzurechnen ist.

Der mit "Kosten" betitelte § 35 VwGVG lautet:

(1) Die im Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG) obsiegende Partei hat Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen durch die unterlegene Partei.

(2) Wenn die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig erklärt wird, dann ist der Beschwerdeführer die obsiegende und die Behörde die unterlegene Partei.

(3) Wenn die Beschwerde zurückgewiesen oder abgewiesen wird oder vom Beschwerdeführer vor der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht zurückgezogen wird, dann ist die Behörde die obsiegende und der Beschwerdeführer die unterlegene Partei.

(4) Als Aufwendungen gemäß Abs. 1 gelten:

1. die Kommissionsgebühren sowie die Barauslagen, für die der Beschwerdeführer aufzukommen hat

2. die Fahrtkosten, die mit der Wahrnehmung seiner Parteirechte in Verhandlungen vor dem Verwaltungsgericht verbunden waren, sowie

3. die durch Verordnung des Bundeskanzlers festzusetzenden Pauschalbeträge für den Schriftsatz-, den Verhandlungs- und den Vorlageaufwand.

(5) Die Höhe des Schriftsatz- und des Verhandlungsaufwands hat den durchschnittlichen Kosten der Vertretung bzw. der Einbringung des Schriftsatzes durch einen Rechtsanwalt zu entsprechen. Für den Ersatz der den Behörden erwachsenden Kosten ist ein Pauschalbetrag festzusetzen, der dem durchschnittlichen Vorlage-, Schriftsatz- und Verhandlungsaufwand der Behörden entspricht.

(6) Die §§ 52 bis 54 VwGG sind auf den Anspruch auf Aufwandersatz gemäß Abs. 1 sinngemäß anzuwenden.

(7) Aufwandersatz ist auf Antrag der Partei zu leisten. Der Antrag kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt werden.

Die Höhe der im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG und Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG als Aufwandersatz zu leistenden Pauschalbeträge wird in § 1 der VwG-Aufwandersatzverordnung (VwG-AufwErsV), BGBl. II Nr. 517/2013, wie folgt festgesetzt:

1. Ersatz des Schriftsatzaufwands des Beschwerdeführers als obsiegende Partei 737,60 Euro

2. Ersatz des Verhandlungsaufwands des Beschwerdeführers als obsiegende Partei 922,00 Euro

3. Ersatz des Vorlageaufwands der belangten Behörde als obsiegende Partei 57,40 Euro

4. Ersatz des Schriftsatzaufwands der belangten Behörde als obsiegende Partei 368,80 Euro

5. Ersatz des Verhandlungsaufwands der belangten Behörde als obsiegende Partei 461,00 Euro

6. Ersatz des Aufwands, der für den Beschwerdeführer mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens verbunden war (Schriftsatzaufwand) 553,20 Euro

7. Ersatz des Aufwands, der für die belangte Behörde mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens verbunden war (Schriftsatzaufwand) 276,60 Euro.

§ 35 VwGVG 2014, der in seinem Abs. 1 einen Aufwandersatzanspruch für die obsiegende Partei vorsieht, gilt im Wege des § 22a Abs. 1a BFA-VG 2014 auch in der Konstellation einer Beschwerde gegen einen die Schubhaft anordnenden Bescheid, der im Entscheidungszeitpunkt noch nicht in Vollzug gesetzt wurde (VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0086).

Da der Beschwerde gegen den Schubhaftbescheid und die Anhaltung stattgegeben wurde, ist der BF gemäß § 35 Abs. 3 VwGVG obsiegende und die belangte Behörde die unterlegene Partei.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

Schlagworte

Anhaltung Aufwandersatz Interessenabwägung Pandemie Rechtswidrigkeit Schubhaft Schubhaftbeschwerde Sicherungsbedarf Voraussetzungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:G302.2230057.9.00

Im RIS seit

30.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

30.08.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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