Entscheidungsdatum
09.06.2021Norm
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1Spruch
W260 2119274-2/23E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Markus BELFIN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.08.2019, Zl. 1032354607 - 190609864, nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 18.11.2019 und 17.05.2021 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis IV. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Dem Beschwerdeführer wird gemäß §§ 55 iVm 58 Abs. 2 AsylG 2005 eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
III. Die Spruchpunkt VI. und VII. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX (in der Folge „Beschwerdeführer“) stellte am 03.10.2014 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.
2. Bei der am 03.10.2014 durchgeführten Erstbefragung gab er an, in Kabul in Afghanistan geboren zu sein. Er würde der Volksgruppe der Tadschiken angehören und wäre Moslem. Er hätte acht Jahre die Grundschule in Kabul besucht. Er wäre im Kreise seiner Familie (drei Brüder und zwei Schwestern) aufgewachsen. Er hätte aufgrund seiner Krankheit – Knochenprobleme - seine Heimat verlassen.
3. Im Rahmen der Befragung am 13.10.2014 gab der Beschwerdeführer unter anderem an, seit drei Jahren an Rheuma zu leiden.
4. Im Rahmen der Einvernahme am durch die belangte Behörde am 02.12.2015 gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt unter anderem an, dass sein Heimatgebiet von den Taliban dominiert worden wäre und die Familie deshalb Angst um ihr Leben gehabt hätte. Zudem würde er an Rheumatismus leiden. Er wäre seit vier Jahren von einer Rheumaerkrankung betroffen und hätte kein einfaches Leben mit Angst vor den Taliban geführt. Er wäre auch in Afghanistan wegen seiner Erkrankung von einem Arzt mit Medikamenten behandelt worden. In Österreich wäre er bereits medizinisch behandelt worden. Dazu legte er medizinische Befunde vor.
5. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.12.2015, Zl. 1032354607-140034024, wies die belangte Behörde unter Spruchpunkt I. den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG, BGBl I Nr. 100/2005 idgF ab. Unter Spruchpunkt II. wurde ebenso der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es erging darüber hinaus die Feststellung zur Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan. Unter Spruchpunkt IV. wurde auf die 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung verwiesen.
Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, es wäre nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan von den Taliban bedroht worden wäre. Er hätte vielmehr seine Heimat aufgrund seiner Krankheit verlassen. Seine Rheumaerkrankung wäre aber in Afghanistan behandelbar und würde keinen Fluchtgrund darstellen. Sein HWS-Syndrom würde ebenfalls kein Rückkehrhindernis darstellen. Ein Krankenhaus in Kabul wäre sogar auf Rheumaerkrankungen spezialisiert.
6. Gegen den Bescheid vom 14.12.2015 erhob der Beschwerdeführer am 23.12.2015 Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und wesentlicher Verfahrensfehler und bekämpfte sämtliche Spruchpunkte.
7. Im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 10.05.2016 legte er ein Konvolut an Integrationsunterlagen und medizinischen Befunden vor. Er gab ergänzend an, unter Schlafstörungen zu leiden. Seine Rheumaerkrankung wäre in Afghanistan zwar ärztlich behandelt worden, die Medikamente wären jedoch nicht hochwertig gewesen und hätten nicht geholfen.
Der Beschwerdeführer zog seine Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides zurück und hielt seine Beschwerde gegen die übrigen Spruchpunkte aufrecht.
8. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.05.2016, GZ. W173 2119274-1/6E, wurde der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II., III und IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 19.05.2017 erteilt.
In der gegenständlichen Fallkonstellation könne unter Berücksichtigung der den Beschwerdeführer betreffenden individuellen Umstände – insbesondere auf Grund der Erkrankung des Beschwerdeführers - nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er im Fall der Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, welche unter Berücksichtigung seiner oben dargelegten persönlichen Verhältnisse und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Versorgungsbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr ausgesetzt sein, in Rechten nach Art 3 EMRK verletzt zu werden und stünde eine Rückführung sohin im Widerspruch zu Art. 3 EMRK. Die Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan erscheine daher derzeit unter den dargelegten Umständen als unzumutbar.
9. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.05.2016, GZ. W173 2119274-1/7Z, wurde das Verfahren wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß § 13 Abs. 7 AVG idgF iVm §§ 28 Abs. 1 und 31 Abs. 1 VwGVG idgF hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom 14.12.2015 eingestellt.
10. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde in weiterer Folge von der belangten Behörde verlängert.
11. Der Beschwerdeführer stellte am 17.04.2019 einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung.
12. Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.06.2019 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, den ihm zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 abs. 1 Z AsylG abzuerkennen, da die Gründe zur Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen würden. Dem Beschwerdeführer wurde die Möglichkeit gegeben, innerhalb einer Frist von zwei Wochen dazu Stellung zu beziehen und etwaige Unterlagen zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich sowie medizinische Befunde vorzulegen. Dem Beschwerdeführer wurde anbei das aktuelle Länderinformationsblatt zu Afghanistan übermittelt.
13. Am 04.07.2019 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Er legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen und medizinische Befunde vor. Der Beschwerdeführer gab im Wesentlichen an, gesund zu sein. Er wäre in Österreich wegen Rheumatismus und Rückenproblemen behandelt worden. Er würde nur bei Bedarf Medikamente einnehmen. Auch psychisch würde es ihm gut gehen. In Afghanistan würde eine Schwester leben. Zu dieser hätte er keinen Kontakt. In Österreich würde der Beschwerdeführer arbeiten. Er hätte die Deutschprüfung Niveau A2 bestanden.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde er sich vor der angespannten Sicherheitslage und den Feinden seines Vaters fürchten.
14. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 06.08.2019 wurde dem Beschwerdeführer der mit Erkenntnis vom 19.05.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die mit Erkenntnis vom 19.05.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Der Antrag des Beschwerdeführers vom 17.04.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wird gemäß § 8 Abs. 2 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt III.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt IV.), es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt V.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt VI.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VII.).
Begründend wurde zur Aberkennung des Schutzstatus im Wesentlichen ausgeführt, dass die Gründe für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht mehr vorliegen würden. Die subjektive Lage des Beschwerdeführers habe sich im Vergleich zum Zuerkennungszeitpunkt geändert. Der Beschwerdeführer würde lediglich unter einer „depressiven Verstimmung“ leiden und keine Medikamente mehr benötigen. Somit wäre die am 10.05.2016 vom Bundesverwaltungsgericht erkannte mittelschwere Depression sowie posttraumatische Belastungsstörung mit medikamentöser Behandlung nicht mehr existent. Dadurch würde der Grund seiner subsidiären Schutzberechtigung ex lege wieder wegfallen. Eine Rückkehr in die Heimatprovinz wäre nicht zumutbar. Dem Beschwerdeführer würde jedoch die innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat offenstehen. Der Beschwerdeführer sei volljährig, männlich und würde daher keinerlei geschlechtsspezifische Nachteile in Afghanistan erwarten. Er sei Tadschike und Sunnite und hätte diesbezüglich keine Diskriminierung vorgebracht. Eine Schwester würde in der Herkunftsprovinz leben und wäre nicht ausgeschlossen, dass er doch Kontakt zu seiner Schwester habe. Zudem würde die Familie dort noch Besitztümer haben. Der Beschwerdeführer wäre in Österreich voll erwerbstätig und könne aus diesem Grund seine grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden.
15. Mit Eingabe vom 03.09.2019 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Er brachte darin im Wesentlichen vor, die belangte Behörde hätte zu Unrecht eine Änderung seiner persönlichen Umstände angenommen. Sie stütze sich auf einen Befund einer Allgemeinmedizinerin vom 01.07.2019, wonach der Beschwerdeführer „lediglich“ unter einer „depressiven Verstimmung“ leide. Die Allgemeinmedizinerin wäre aber nicht kompetent und hätte ihn auch an einen Neurologen überwiesen. Der Beschwerdeführer würde sehr wohl unter psychischen Problemen in einem Ausmaß leiden, welche wie im Erkenntnis vom 19.05.2016 festgestellt, einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen würden. Der Beschwerdeführer legte einen Befund einer Sozialpsychiatrischen Ambulanz vom 22.08.2019 vor, wonach er an einer depressiven Stimmung und eines posttraumatisch depressiven Symptoms leide und dringend medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung bedürfe. Eine geeignete Behandlung wäre in Afghanistan nicht möglich. Weiters würde der Beschwerdeführer, wie in der Einvernahme am 04.07.2019 dargelegt, an Rheumatismus und Rückenproblemen leiden und hätte deshalb permanent Schmerzen. Er müsse starke Schmerzmittel und spezielle Salben verwenden und hätte schmerzbedingt Schlafprobleme. Auch eine Heilgymnastik wäre ihm verordnet worden. Zu diesen Therapiemöglichkeiten hätte er in Afghanistan keinen Zugang. Der Beschwerdeführer wäre daher kein gesunder Mann. Zudem hätte sich die Sicherheitslage in den Städten Herat und Mazar-e Sharif im Vergleich zu den, dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes aus dem Jahr 2016 zugrundeliegenden Länderberichten nicht dauerhaft und nachhaltig verbessert.
Der Beschwerdeführer verwies auf seine gute Integration in Österreich, insbesondere seine berufliche Integration.
16. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 09.09.2019 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, dieses am 12.09.2019 in der Gerichtsabteilung W260 einlangte.
17. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.11.2019 in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters und eines Vertreters der belangten Behörde eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen und zur Situation im Falle einer Rückkehr befragt wurde. Der Beschwerdeführer legte medizinische Unterlagen und Integrationsunterlagen vor. Weiters legte er einen Beschluss des Bezirksgerichtes St. Pölten vom 21.10.2019, 9 U 202/19a-10 vor, wonach die Strafsache gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB durch Diversion erledigt wurde. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.
Der bevollmächtigte Vertreter des Beschwerdeführers stellte den Antrag auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zur Feststellung des psychischen Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers. Zur Relevanz wird ausgeführt, dass im Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten des Beschwerdeführers, dies als Begründung für die Gewährung für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gilt.
18. Mit E-Mail vom 02.12.2019 bat der Rechtsvertreter um Erstreckung der Frist zur Stellungnahme.
19. Mit Verfahrensanordnung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 03.12.2019 wurde die Frist zur Stellungnahme bis 23.12.2019 erstreckt.
20. Mit Eingabe vom 23.12.2019 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen ausführte, dass sich an seiner psychischen Erkrankung im Vergleich zum Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.05.2016 nichts verbessert hätte. Der von einer psychiatrischen Fachärztin erstellen aktuellen Diagnose (posttraumatisch- depressives Syndrom) wäre im bisherigen Verfahren nicht auf gleicher fachlicher Stufe entgegengetreten worden. Der Beschwerdeführer würde sich intensiv um psychotherapeutische Behandlung bemühen und würde auf der Warteliste für einen Therapieplatz stehen, wie der beiliegenden Bestätigung zu entnehmen wäre. Der Beschwerdeführer verwies auch auf seine gelungene Integration in Österreich.
21. Mit Schreiben vom 11.12.2020 gab die bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers die Zurücklegung der Vollmacht bekannt.
22. Mit Eingabe vom 02.02.2021 gab der Beschwerdeführer bekannt, dass er die BBU GmbH mit seiner Vertretung beauftragt habe.
23. Am 17.05.2021 übermittelte der Beschwerdeführer diverse Unterlagen (Integrationsunterlagen, medizinische Befunde).
24. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.05.2021 in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seiner Rechtsvertreterin und eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine mündliche Verhandlung durch. Ein Vertreter der belangten Behörde ist entschuldigt nicht erschienen.
Den Antrag auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zum psychischen Zustand des Beschwerdeführers halte er aufrecht.
25. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte der belangten Behörde mit Schreiben vom 19.05.2021 die Verhandlungsschrift vom 17.05.2021 sowie die am 17.05.2021 nachgereichten Unterlagen zur Kenntnisnahme und stellte der belangten Behörde frei, binnen einer Woche ab Zustellung dieses Schreibens eine abschließende Stellungnahme einzubringen.
Die belangte Behörde gab innerhalb der Frist keine Stellungnahme ab.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er spricht Dari als Muttersprache.
Der Beschwerdeführer ist in Kabul geboren und im Kreise seiner Familie (Vater, Mutter, drei Brüder und zwei Schwestern) aufgewachsen und hat in Afghanistan acht Jahre die Schule besucht. Seine Familie verfügt über Besitztümer im Heimatdorf in der Provinz Maidan Wardak in Form von Obstgärten und eines Hauses. Die Familie hat von der Apfelernte gelebt. Der Beschwerdeführer hat abwechselnd in Kabul und im Haus der Familie im Heimatdorf gelebt. Die verheiratete Schwester des Beschwerdeführers lebt nach wie vor mit ihrer Familie in diesem Haus. Zu dieser Schwester hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt. Auch zu seinen übrigen Familienmitgliedern (Eltern, drei Brüder und eine Schwester) hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt mehr.
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Er hat keine Sorgepflichten.
Der Beschwerdeführer wurde nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Der Beschwerdeführer leidet an einem posttraumatischen depressiven Syndrom, einer geringen Skoliose der Lendenwirbelsäule und Schmerzen im Hodenbereich. Er leidet aber an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Er nimmt – abgesehen von gelegentlich Schmerzmittel bei Kopfschmerzen – weder Medikamente noch benötigt er eine Therapie.
1.2. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:
Der Beschwerdeführer ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und hält sich seit zumindest 03.10.2014 durchgehend in Österreich auf. Er ist in Österreich aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der Beschwerdeführer hat mehrere Deutschkurse besucht und die ÖSD Deutschprüfung auf dem Niveau A2 am 26.04.2017 bestanden. Er hat die ÖSD Deutschprüfung auf dem Niveau B1 am 29.10.2020 und am 23.03.2021 nicht bestanden. Er verfügt über geringe Deutschkenntnisse.
Der Beschwerdeführer hat im Jahr 2017 an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen.
Er hat die Führerscheinprüfung in Österreich bestanden.
Der Beschwerdeführer ist seit ungefähr Mitte 2018 bei der Firma XXXX in Wien angestellt und liefert Lebensmittel und Getränke an Kunden. Er hat im April 2021 einen Nettoverdienst in Höhe von € 1.541, 27 erzielt. Davor war er in einem Restaurant in Salzburg beschäftigt.
Der Beschwerdeführer hat Bekanntschaften zu österreichischen Staatsbürgern geknüpft. Derzeit bewohnt er ein Zimmer in der Wohnung seiner österreichischen Arbeitskollegin und ihrer Tochter. Er beteiligt sich an den Mietkosten.
Der Beschwerdeführer hat Ersparnisse in Höhe von € 20.000,--.
Es besteht weder keine enge soziale Beziehung zu seinen freundschaftlichen Kontakten noch ist er von diesen (finanziell) abhängig.
Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war zu keiner Zeit geduldet. Er war weder Zeuge noch Opfer von Gewalt oder anderen strafbaren Handlungen in Österreich, seine Anwesenheit ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen erforderlich. Es wurde nie eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen; es lag nie ein Sachverhalt vor, auf Grund dessen eine einstweilige Verfügung hätte erlassen werden können.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Eine Strafsache gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes St. Pölten vom 21.10.2019, 9 U 202/19a-10, durch Diversion beendet.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
1.3.1. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr in die Provinz Maidan Wardak aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.
1.3.2. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedlung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif droht dem Beschwerdeführer, individuell und konkret, weder psychische noch physische Gewalt.
Weder der Beschwerdeführer noch seine Familienangehörigen sind in Afghanistan einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt. Der Beschwerdeführer und seine Familie wurden von den Taliban auch nicht bedroht.
Dem Beschwerdeführer und seiner Familie droht in Afghanistan auch keine Verfolgung durch staatliche Organe.
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban, durch staatliche Organe oder durch andere Personen.
Zum Vorbringen des Beschwerdeführers er sei vom Islam abgefallen wird aus beweiswürdigender Sicht der guten Ordnung halber ausgeführt, dass dieses (neue) Fluchtvorbringen/Nachfluchtgrund nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist.
1.3.3. Die Familie des Beschwerdeführers verfügt in Afghanistan nach wie vor über ein Eigentumshaus und Grundstücke. Die verheiratete Schwester des Beschwerdeführers lebt mit ihrer Familie in diesem Haus im Heimatdorf des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt zu seiner Schwester.
Der Beschwerdeführer hat auch keinen Kontakt zu seinen Eltern und seinen weiteren Geschwistern, deren Aufenthaltsort unbekannt ist.
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über Ersparnisse in Höhe von ca. EUR 20.000,00. Der Beschwerdeführer kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und konnte sich sowohl in Afghanistan, als auch in Österreich zurechtfinden. Er kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.
1.3.4. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.
Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
1.4. Zum bisherigen Verfahrensablauf:
Der Beschwerdeführer stellte am 03.10.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.12.2015 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es erging darüber hinaus die Feststellung zur Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Der dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.05.2016 hinsichtlich Spruchpunkt II., III und IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben, dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 19.05.2017 erteilt.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides hat der Beschwerdeführer zurückgezogen.
Im Erkenntnis wurden unter anderem folgende Feststellungen getroffen:
„(…) Der BF trägt den Namen XXXX . Er ist afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zum muslimischen Glauben mit sunnitischem Bekenntnis. Der BF ist am XXXX in Kabul geboren. Der BF ist im Kreise seiner Familie (Vater, Mutter, drei Brüder und zwei Schwestern) aufgewachsen und hat in Kabul acht Jahre die Schule besucht. Der BF hat nach der Schule in Kabul als Lehrling cirka ein Jahr in Geschäften für Reparaturen von Hardware für Computer und Handy gearbeitet. Seine Familie verfügt über Besitztümer im Dorf Dingak im Distrikt Jalrez in der Provinz Maydan Wardak in Form von Obstgärten und eines Hauses, das von der Familie aufgesucht wurde. In diesem Haus lebt die verheiratete Schwester des BF mit ihrer Familie. Zu dieser Schwester hat der BF Kontakt. Zu seinen übrigen Familienmitgliedern (Eltern, drei Brüder und eine Schwester) hat der BF keinen Kontakt mehr.
(…)
Der BF leidet an einer mittelschweren Depression und an einer posttraumatischen Belastungsstörung, welche medikamentös behandelt werden.
(…)
Der BF würde im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan in eine aussichtslose und existenzbedrohende Lage geraten.“
Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde wie folgt begründet:
„Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz ergibt sich aus dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des beigezogenen länderkundigen Sachverständigen, Dr. Sarajuddin Rasuly, in der mündlichen Verhandlung am 10.5.2016 zur aktuellen Situation von psychisch Kranken in Verbindung mit der derzeitigen Lage in Kabul und Maydan Wardak und darüber hinaus gehend aus den Länderfeststellungen. Die Länderfeststellungen beruhen auf den angeführten Quellen, die auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom BF nicht in Abrede gestellt wurden. Bei den Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener, anerkannter und teilweise vor Ort agierenden Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an deren Richtigkeit zu zweifeln.“
(…)
„Die allgemeine Sicherheitslage ist - wenn auch nicht im gesamten Staatsgebiet im gleichen Ausmaß - auf Grund der instabilen politischen Situation und der weitgehenden Schutzunfähigkeit staatlicher Institutionen nach wie vor prekär und sehr fragil. Auch die allgemeinen Lebensbedingungen und die Versorgungslage (Nahrung, Wohnraum und medizinische Versorgung) gestalten sich sehr schwierig.
Beim BF handelt es sich um einen jungen Mann, der an einer mittelschweren Depression und an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, die einer ärztlicher und einer medikamentösen Behandlung bedürfen. Wie auch aus dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten von Dr. Sarajuddin Rasuly in der mündlichen Verhandlung am 10.5.2016 zur aktuellen Situation und Behandlung von Personen, die an einer psychischen Erkrankung – wie der BF – leiden, hervorgeht, reicht die medizinische Versorgung auch in Kabul nicht aus. Die psychische Erkrankung des BF würde im Fall der Rückkehr zudem weiteren Belastungen auf Grund der dortigen Verhältnisse ausgesetzt sein und sich bei der Integration in Kabul negativ auswirken. Angesichts der sehr hohen Arbeitslosigkeit in Kabul und des fehlenden Familienrückhaltes wäre der ohnedies kranke BF, der auch über keine geeignete Fachausbildung verfügt, mit enormen Versorgungsschwierigkeiten konfrontiert. Selbst bei einer Rückkehr zu seiner sich in Jalrez niedergelassenen, verheirateten Schwester wäre bei der psychischen Erkrankung des BF auf Grund der dortigen Dominanz der Taliban und Sicherheitslage und der fehlenden, geeigneten medizinischen Behandlung mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen.
Des Weiteren war auch der maßgebliche Umstand zu berücksichtigen, dass der BF seit Beginn seines Aufenthaltes in Österreich von sich aus Anstrengungen zur sprachlichen und schulischen Integration unternommen hat. Der BF ist auch um Integration in die Gesellschaft bemüht. Diese Umstände der nach außen hin erkennbaren Integration des BF in Österreich wurden vom BF auch durch Nachweise und durch sein glaubwürdiges Vorbringen in der mündlichen Verhandlung am 10.5.2016 untermauert.
In der gegenständlichen Fallkonstellation kann unter Berücksichtigung der den BF betreffenden individuellen Umstände – insbesondere auf Grund der Erkrankung des BF - nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er im Fall der Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, welche unter Berücksichtigung seiner oben dargelegten persönlichen Verhältnisse und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Versorgungsbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der BF somit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr ausgesetzt sein, in Rechten nach Art 3 EMRK verletzt zu werden und stünde eine Rückführung sohin im Widerspruch zu Art. 3 EMRK. Die Rückkehr des BF nach Afghanistan erscheint daher derzeit unter den dargelegten Umständen als unzumutbar.
Eine Rückverbringung des BF nach Afghanistan steht nach dem Gesagten im Widerspruch zu § 8 Abs. 1 AsylG. Dem BF war daher nach der genannten Bestimmung der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuzuerkennen.“
Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde in weiterer Folge von der belangten Behörde verlängert.
Der Beschwerdeführer stellte am 17.04.2019 einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung.
Mit Bescheid vom 06.08.2019 wurde dem Beschwerdeführer der mit Erkenntnis vom 19.05.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die mit Erkenntnis vom 19.05.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen (Spruchpunkt II.). Der Antrag des Beschwerdeführers vom 17.04.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde abgewiesen (Spruchpunkt III.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt IV.), es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt V.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt VI.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VII.).
Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid fristgerecht die gegenständliche Beschwerde.
1.5. Zur aktuellen Situation in Afghanistan:
Den Feststellungen zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat wurden folgende Länderinformationen zu Grunde gelegt:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 02.04.2021 samt Kurzinformation vom 21.07.2020 (LIB)
- EASO Country Guidance zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
1.5.1. Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Mio. bis 39 Mio. Menschen.
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben.
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt. Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu, und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt.
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert.
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern.
1.5.2. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht.
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte.
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt.
Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43% aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu.
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten.
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand.
1.5.3. Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Kapitel 5).
Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (LIB, Kapitel 4). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (LIB, Kapitel 5).
Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (LIB, Kapitel 4).
1.5.4. COVID-19:
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf., einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (WHO).
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).
1.5.5. Grundversorgung und Wirtschaft
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.08.2019; vgl. WB 7.2019).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 07.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (AA 16.07.2020; vgl. WB 4.2020). Eine Reihe von US-Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020 aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht (SIGAR 30.01.2021).
Dürre und Überschwemmungen
Während der Wintersaat von Dezember 2017 bis Februar 2018 gab es in Afghanistan eine ausgedehnte Zeit der Trockenheit. Diese hatte primär Auswirkungen auf den Agrarsektor mit Verlusten bei Viehbeständen (STDOK 10.2020; vgl. STDOK 21.07.2020, STDOK 13.06.2019, ACCORD 26.05.2020) und verschlechterte die Situation für die von Lebensmittelunsicherheit geprägte Bevölkerung weiter. Auch folgten schwerwiegende Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, was wiederum zu Binnenflucht führte und es den Binnenvertriebenen mittelfristig erschwert, sich wirtschaftlich zu erholen sowie die Grundbedürfnisse selbständig zu decken (FAO 23.11.2018; vgl. AJ 12.08.2018).
Im März 2019 fanden in Afghanistan Überschwemmungen statt, welche Schätzungen zufolge Auswirkungen auf mehr als 120.000 Personen in 14 Provinzen hatten. Sturzfluten Ende März 2019 hatten insbesondere für die Bevölkerung in den Provinzen Balkh und Herat schlimme Auswirkungen (WHO 3.2019; vgl. STDOK 21.07.2020). Unter anderem waren von den Überschwemmungen auch Menschen betroffen, die zuvor von der Dürre vertrieben worden waren (GN 06.03.2019).
Günstige Wetterbedingungen während der Aussaat 2020 lassen eine weitere Erholung der Weizenproduktion von der Dürre 2018 erwarten. COVID-19-bedingte Sperrmaßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, da sie in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt werden konnten (IOM 23.09.2020).
[…]
Armut und Lebensmittelunsicherheit
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.07.2020; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Mio. Menschen (2020: 14 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (UNGASC 09.12.2020). Laut einer IPC-Analyse [Anm.: Integrated Food Security Phase Classification] vom April wurde geschätzt, dass die Zahl der Menschen, die in Afghanistan unter akuter Ernährungsunsicherheit der Stufe 4 des [Anm.: fünfteiligen] Emergency-IPC-Index leiden, im Zeitraum August 2020 - März 2021 3,6 Mio. betragen würde (IPC 10.2020).
In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% in Afghanistan ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (AA 16.07.2020). Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018), sind es in urbanen Gebieten rund 41,6% (NSIA 2019).
Lebensmittelunsicherheit
Die akute Ernährungsunsicherheit in ganz Afghanistan verschlechtert sich weiter und wird voraussichtlich einen ähnlichen Schweregrad erreichen, wie er während der Dürre 2018/2019 beobachtet wurde, wobei der Hauptgrund für die Verschlechterung der Ernährungssicherheit die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind (USAID 12.01.2021).
Nach Angaben der Vereinten Nationen lag die Zahl der Menschen, die von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind, im Zeitraum von August bis Oktober 2020 bei etwa 36% der untersuchten Bevölkerung, und für den Zeitraum von November 2020 bis März 2021 wurde ein Anstieg auf 42% - zwischen 11,15 (ICP) und 13,9 (USAID) Mio. Menschen - prognostiziert (USAID 12.01.2021; vgl. ICP 10.2020).
Die COVID-19-Krise führte zu einem deutlichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit (USAID 12.01.2021; vgl. ICP 10.2020) und einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise (ICP 10.2020; vgl. IOM 18.03.2021). Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, wieder gesunken zu sein (IOM 18.03.2021). Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht lagen die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 weiterhin über dem Durchschnitt, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel auf den Quellmärkten zurückzuführen ist, insbesondere für Weizen in Kasachstan. Auf nationaler Ebene waren die Preise für Weizenmehl in Afghanistan von November bis Dezember 2020 stabil, allerdings auf einem Niveau, das 11% über dem des letzten Jahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag (FEWS NET 1.2021; vgl. IOM 18.03.2021).
Die afghanischen Grenzen sind alle offen, was den normalen Handel mit Lebensmitteln erleichtert. Insgesamt werden in den kommenden Monaten zwar keine signifikanten zusätzlichen negativen Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit erwartet, aber die anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind in Afghanistan immer noch sichtbar. Insbesondere wird erwartet, dass die unterdurchschnittliche Anzahl von Wanderarbeitern im Iran zu unterdurchschnittlichen Überweisungen für ländliche und städtische Haushalte beitragen wird (FEWS NET 1.2021; vgl. IOM 18.03.2021).
Auf der folgenden Karte findet sich die Prognose für die Lebensmittelsicherheit Afghanistans für den Zeitraum Februar bis Mai 2021. Dieser Karte zufolge befindet sich die Stadt Herat auf Stufe 3 („Crisis“) des von FEWS NET verwendeten fünfstufigen Klassifizierungssystems. Mazar-e Sharif befindet sich laut derselben Prognose im selben Zeitraum auf Stufe 2 („Stressed“) (ACCORD 27.01.2021; vgl. FEWS NET 1.2021). [...]
In städtischen Gebieten werden die geringere Verfügbarkeit von Einkommensmöglichkeiten während des Winters, unterdurchschnittliche Rücküberweisungen und überdurchschnittliche Nahrungsmittelpreise wahrscheinlich den Zugang zu Nahrung und Einkommen für viele arme Haushalte einschränken, wobei während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 ohne Hilfe eine Bewertung mit IPC Stufe 3 („Crisis“) erwartet wird. Wenn die Umsetzung des COVID-19-Hilfsprogramms voranschreitet, werden sich die Haushalte, welche humanitäre Hilfe erhalten, wahrscheinlich auf IPC Stufe 2 („Stressed“) verbessern, bis sie die Hilfe ausschöpfen. Nach den vorliegenden Informationen (Stand 29.01.2021) haben insgesamt 3.020 städtische Haushalte (ca. 21.000 Personen, was weniger als 1% der Bevölkerung entspricht) in 13 Provinzhauptstädten diese Unterstützung erhalten (FEWS NET 1.2021).
Die meisten ländlichen Gebiete haben IPC Stufe 2 („Stressed“), und es wurde erwartet, dass dies während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 bestehen bleibt. In Gebieten, in denen die Ernte geringer ausgefallen ist, und in Gebieten, die am stärksten von Konflikten betroffen sind, ist jedoch für den Rest der ertragsarmen Saison ein Abrutschen auf IPC Stufe 3 („Crisis“) wahrscheinlich. Im ganzen Land wird erwartet, dass eine zunehmende Anzahl von armen Haushalten - insbesondere solche mit unterdurchschnittlichen Vorräten oder solche, die nur geringe Geldsendungen erhalten - mit IPC Stufe 3 („Crisis“) zu bewerten wären, wenn die Vorräte aufgebraucht sind (FEWS NET 1.2021).
1.5.6. Wirtschaft- und Versorgungslage in den Städten Herat und Mazar-e Sharif:
Herat:
Der Einschätzung einer in Afghanistan tätigen internationalen NGO zufolge gehört Herat zu den „bessergestellten“ und „sichereren Provinzen“ Afghanistans und weist historisch im Vergleich mit anderen Teilen des Landes wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf (STDOK 13.06.2019). Aufgrund der sehr jungen Bevölkerung ist der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter in Herat - wie auch in anderen afghanischen Städten - vergleichsweise klein. Erwerbstätige müssen also eine große Anzahl an von ihnen abhängigen Personen versorgen. Hinzu kommt, dass Herat als Hotspot für Tagelöhner gilt (AAN 03.12.2020) - die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung in Herat sind Tagelöhner, welche Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt in besonderem Ausmaß ausgesetzt sind (USIP 02.04.2015). Die Verbreitung von Tagelohnarbeit ist zum Teil eine Folge der massiven Bevölkerungsbewegungen - insbesondere des Zustroms von Zehntausenden von Menschen, die vor allem durch den Konflikt zwischen 2012 und 2019 vertrieben wurden. Diese Bevölkerungsbewegungen, insbesondere von Binnenflüchtlingen, haben die Provinz Herat, vor allem ihre Hauptstadt Herat-Stadt, zu einem zunehmend schwierigen Lebens- und Arbeitsraum gemacht (AAN 03.12.2020)
Die Herater Wirtschaft bietet seit Langem Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran (GoIRA 2015; vgl. EASO 4.2019, WB/NSIA 9.2018), wie auch Bergbau und Produktion (EASO 4.2019). Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt (GoIRA 2015; vgl. EASO 4.2019). Manche alten Handwerksberufe (Teppichknüpfereien, Glasbläsereien, die Herstellung von Stickereien) haben es geschafft zu überleben, während sich auch bestimmte moderne Industrien entwickelt haben (z.B. Lebensmittelverarbeitung und Verpackung). Die Arbeitsplätze sind allerdings von der volatilen Sicherheitslage bedroht (insbesondere Entführungen von Geschäftsleuten oder deren Angehörigen durch kriminelle Netzwerke, im stillen Einverständnis mit der Polizei). Als weitere Probleme werden Stromknappheit bzw. -ausfälle, Schwierigkeiten, mit iranischen oder anderen ausländischen Importen zu konkurrieren, und eine steigende Arbeitslosigkeit genannt (EASO 4.2018).
Mazar-e Sharif:
Mazar-e Sharif und die Provinz Balkh sind historisch betrachtet das wirtschaftliche und politische Zentrum der Nordregion Afghanistans. Mazar-e Sharif profitierte dabei von seiner geografischen Lage, einer vergleichsweise effektiven Verwaltung und einer relativ guten Sicherheitslage (STDOK 21.07.2020; vgl. GoIRA 2015). Mazar-e Sharif gilt als Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten (GoIRA 2015). Balkh ist landwirtschaftlich eine der produktivsten Regionen Afghanistans wobei Landwirtschaft und Viehzucht die Distrikte der Provinz dominieren (STDOK 21.07.2020; vgl. MIC 2018). Die Arbeitsmarktsituation ist auch in Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber, und ohne Kontakte ist es schwer, ei