TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/11 W204 2208982-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.06.2021
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Entscheidungsdatum

11.06.2021

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W204 2208978-1/23E
W204 2208980-1/24E
W204 2208976-1/26E
W204 2208982-1/23E

W204 2208979-1/19E

W204 2219878-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde der M XXXX , geb. am XXXX 1978, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Dr. Benno WAGENEDER, Rechtsanwalt in 4910 Ried im Innkreis, gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2018, Zl. 1122916205 – 160993069, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und M XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird M XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt.

II. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde des A XXXX , geb. am XXXX 1999, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Dr. Benno WAGENEDER, Rechtsanwalt in 4910 Ried im Innkreis, gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2018, Zl. 1122916401 – 160993077, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und A XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird A XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.

II. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

3.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde der H XXXX , geb. am XXXX 2000, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Dr. Benno WAGENEDER, Rechtsanwalt in 4910 Ried im Innkreis, gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2018, Zl. 1122916510 – 160993085, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und H XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird H XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt.

II. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde der N XXXX , geb. am XXXX 2002, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Dr. Benno WAGENEDER, Rechtsanwalt in 4910 Ried im Innkreis, gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2018, Zl. 1122916706 - 160993093, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und N XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird N XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt.

II. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

5.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde des mj. A XXXX , geb. am XXXX 2008, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch M XXXX , geb. am XXXX 1978, diese vertreten durch Dr. Benno WAGENEDER, Rechtsanwalt in 4910 Ried im Innkreis, gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2018, Zl. 1122915905 - 160993107, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und A XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird A XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.

II. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

6.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde der mj. A XXXX , geb. am XXXX 2019, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch H XXXX , geb. am XXXX 2000, diese vertreten durch Dr. Benno WAGENEDER, Rechtsanwalt in 4910 Ried im Innkreis, gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2019, Zl. 1224740805 – 190335900, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und A XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird A XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt.

II. Die Spruchpunkte III. bis VI. werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die im Spruch genannte Beschwerdeführerin zu 1.) (im Folgenden: BF1) reiste mit ihren Kindern, den Beschwerdeführern zu 2.), 3.), 4.) und 5.) (im Folgenden: BF2, BF3, BF4 und BF5), alle Staatsangehörige Afghanistans, illegal in das Bundesgebiet ein, wo diese am 17.07.2016 gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz stellten. Diesen begründeten sie im Wesentlichen mit einer Bedrohung aufgrund der früheren Tätigkeit des Mannes der BF1 und einer Trennung der BF3 von deren Verlobten.

I.2. Diese Anträge wurden nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) mit Bescheiden vom 05.10.2018, den BF am 09.10.2018 zugestellt, bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkte II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den BF nicht erteilt (Spruchpunkte III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkte IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkte V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte VI.).

I.3. Nach Erhebung einer vollinhaltlichen Beschwerde wurde die Beschwerdeführerin zu 6.) (im Folgenden: BF6) als Tochter der BF3 geboren und gegen sie vom BFA eine zu ihren Familienangehörigen gleichlautende Entscheidung getroffen. Auch gegen diesen Bescheid wurde Beschwerde erhoben.

I.4. Die Beschwerden wurden vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnissen vom 07.10.2019 (im Folgenden: Vorerkenntnis) als unbegründet abgewiesen.

I.5. Die dagegen erhobenen Revisionen wurde mit Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 07.01.2021 zu Ra 2019/18/0451-9 und Ra 2019/18/0473 bis 0478-9 in Bezug auf den Status der Asylberechtigten zurückgewiesen. Im Übrigen wurde der Revision stattgegeben und das Vorerkenntnis insoweit aufgehoben.

Begründend verwies der Verwaltungsgerichtshof insbesondere darauf, dass zu den Erkrankungen der BF3 und BF4 nicht ausreichend ermittelt worden sei.

I.6. Das Bundesverwaltungsgericht forderte die BF in weiterer Folge auf, ihren aktuellen Gesundheitszustand bekannt zu geben und diesen durch ärztliche Nachweise zu belegen. Dieser Aufforderung kamen die BF am 04.05.2021 nach.

I.7. Die dabei vorgelegten Befunde wurden dem BFA zur allfälligen Stellungnahme am 12.05.2021 übermittelt. Gleichentags wurden den BF aktuelle Länderberichte zur Stellungnahme übermittelt.

I.8. Am 19.05.2021 nahmen die BF zu den übermittelten Berichten Stellung.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in die die BF betreffenden und dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-        Befragung der BF im Rahmen einer öffentlich mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 18.06.2019 sowie der Zeugeneinvernahme des Mannes der BF3 und des Vaters der BF6;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat und in die von den BF vorgelegten Unterlagen und Stellungnahmen;

-        Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

II. Feststellungen:

II.1. Zu den BF:

Die Identität der BF steht nicht fest, sie führen den im jeweiligen Rubrum angeführten Namen und das jeweilige Geburtsdatum. Die BF sind Staatsangehörige Afghanistans, gehören mit Ausnahme der BF1, die Tadschikin ist, der Volksgruppe der Paschtunen an und sind sunnitischen Bekenntnisses. Die Muttersprache der BF ist Dari. Sie beherrschen alle Paschtu und Farsi.

Die BF1 ist die Mutter der BF2 bis BF5 und die Großmutter der BF6. Die BF3 hat am XXXX 2018 Z XXXX nach islamischem Recht und am XXXX 2019 standesamtlich in Österreich geheiratet. Die BF6 ist die im Bundesgebiet geborene Tochter der BF3 und ihres Mannes. Die gesamte Familie wohnt im Bundesgebiet im gemeinsamen Haushalt.

Der ebenfalls aus Afghanistan stammender Mann der BF3 hatte auch einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der mit Bescheid des BFA vom 05.04.2018 negativ entschieden wurde. Die dagegen erhobene Beschwerde vom 04.05.2018 wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.10.2019 zu W123 2194845-1/12E vollinhaltlich abgewiesen. Die dagegen erhobene Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof am 07.01.2021, Ra 2019/18/0451-9 und Ra 2019/18/0473 bis 0478-9, insoweit zurückgewiesen, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sowie die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG richtete. In Bezug auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung wurde der Revision hingegen stattgegeben und dieses Erkenntnis insoweit aufgehoben.

Die BF1 stammt aus XXXX im Distrikt Behsud in der Provinz Nangarhar, lebte jedoch seit ihrer frühen Kindheit in Kabul. Sie hat keine Schule besucht und keine Berufsausbildung absolviert und war in Afghanistan Hausfrau. Die BF2 bis BF5 wurden in Kabul geboren und sind dort gemeinsam bei ihrer Familie aufgewachsen. Die BF haben bis zur Ausreise nach Europa in Kabul gelebt und sind nicht nach Khost umgezogen. Der BF2 hat die Schule in Kabul neun Jahre besucht. Daneben war er als Schneider tätig. Die BF3 besuchte die Schule in Kabul acht Jahre lang, die BF4 sieben Jahre lang.

Die Familie lebte in Kabul in einem zweistöckigen Eigentumshaus und hatte keine finanziellen Probleme. Alle Kinder der BF1, auch die Mädchen, legten den etwa halbstündigen Fußweg in die Schule in Kabul alleine zu Fuß zurück. Nach der Schule kamen gelegentlich Freundinnen zu den minderjährigen BF und sie erledigten gemeinsam die Hausübungen, gingen spazieren oder Eis essen. Die weiblichen BF trugen in Afghanistan Punjabi und ein langes Oberteil und Hosen. Zumindest die BF3 war geschminkt und trug Nagellack. Wenn sie das Haus verließen, trugen sie ein Kopftuch. Die täglichen Einkäufe erledigte die BF1, teils auch gemeinsam mit ihren Kindern, weil ihr Mann aufgrund seiner Arbeit oftmals nicht zu Hause war. Die BF1 besuchte regelmäßig ihre Nachbarn.

Die Familie der BF empfing in Afghanistan regelmäßig Besuche ihrer erweiterten Familie, etwa des Onkels des Mannes der BF1, und besuchte diese auch selbst.

Die BF1 ist, bis auf Knieschmerzen, an denen sie leidet, gesund.

Der BF2 hat gelegentlich Kopfschmerzen, ist ansonsten aber gesund.

Die BF3 leidet an einem fortgeschrittenen Keratokonus an beiden Augen und wurde deswegen in Österreich am rechten wie auch am linken Auge operiert. Sie benötigt deswegen Spezialkontaktlinsen oder eine Brille. Ohne die Spezialkontaktlinsen verfügt sie über eine Sehleistung von zirka 10% und mit diesen über eine Sehleistung von zirka 80%. Aktuell besteht bei der BF3 eine stabile Hornhautsituation, es ist lediglich eine augenärztliche Kontrolle zwei Mal pro Jahr erforderlich. Sollte sich die Hornhautsituation verschlechtern, könnte es zur Notwendigkeit einer Hornhauttransplantation kommen. Ob und gegebenenfalls wann eine solche Transplantation erforderlich sein wird, ist aus heutiger Sicht nicht vorhersehbar. Die BF3 war deswegen bereits in Afghanistan in Behandlung, wo ihr eine Brille verschrieben wurde.

Die BF4 leidet ebenfalls an einem Keratokonus und trägt deswegen eine Brille. Sie wurde deswegen bereits in Afghanistan behandelt. Nach Erlassung des Vorerkenntnisses verschlechterte sich die psychische Situation der BF4, die damals an einer medikamentös behandelten mittelgradig depressiven Episode litt. Es bestand damals keine akute Suizidalität und sie wurde bis dahin nie stationär deswegen behandelt. Nach Zustellung des Vorerkenntnisses unternahm die BF4 drei Suizidversuche, zuletzt am 15.08.2020. Sie war deswegen auch mehrmals, vom 04.11.2019 bis zum 21.11.2019, vom 21.02.2020 bis zum 24.02.2020 und vom 14.08.2020 bis zum 17.08.2020, in stationärer Behandlung an psychiatrischen Fachabteilungen. Sie leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung und einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Zusätzlich besteht ein Verdacht auf akzentuierte Persönlichkeitszüge. Sie leidet gelegentlich an Lebensüberdrussgedanken, derzeit hat sie keine Selbstmordgedanken. Die psychischen Erkrankungen der BF4 werden medikamentös behandelt. Zusätzlich ist sie bei einer Fachärztin in Behandlung. Überdies litt die BF4 an einer Pyelonephritis rechts und einer Ovarcyste beidseits, weswegen sie vom 29.12.2020 bis zum 08.01.2021 in stationärer Krankenhausbehandlung war. Die BF4 ist aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen nicht voll arbeitsfähig.

Der BF5 und die BF6 sind gesund.

Die BF beziehen Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und sind strafrechtlich unbescholten.

II.2. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:

In Kabul leben drei Schwestern und drei Brüder der BF1. Ihre Brüder besitzen Läden am Bazar und arbeiten dort als Verkäufer. Ihre Schwestern sind verheiratet und Hausfrauen. Die BF1 hat Kontakt zu einer Schwester, die in Kabul in einem Mietshaus wohnt. Ihrer Schwester geht es gut. Die BF könnten über ihre Schwester / Tante Kontakt zu den weiteren in Kabul aufhältigen Familienmitgliedern aufnehmen.

Es kann nicht festgestellt werden, wo sich der Mann der BF1 beziehungsweise Vater der BF2 bis BF5 aufhält.

Einer Rückkehr nach Kabul Stadt, Herat Stadt oder Mazar-e Sharif oder ähnliche, weniger volatile Gebiete Afghanistans steht die Sicherheitslage nicht entgegen. Es ist den BF dort nicht möglich, ihre Erkrankungen adäquat behandeln zu lassen. Sie sind derzeit nicht in der Lage, bei einer Rückkehr grundlegende Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für die Familie, zu befriedigen. Die BF, insbesondere die BF4, würden bei einer Rückkehr in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation geraten. Es ist den BF, insbesondere der BF4, nicht möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

II.3. Zur Situation im Herkunftsland:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 samt Aktualisierungen bis 01.04.2021 (LIB);

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR);

-        UNHCR: Afghanistan, Compilation of Country of Origin Information (COI) Relevant for Assessing the Availability of an Internal Flight, Relocation or Protection Alternative (IFA/IRA/IPA) to Kabul, December 2019;

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019);

-        EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO 2020);

-        EASO Bericht Afghanistan Networks (EASO Netzwerke);

-        EASO: Afghanistan - Key-socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020) (EASO Indikatoren);

-        EASO: Afghanistan - Security Situation (September 2020) (EASO Security);

-        EASO: Afghanistan - State Structure and Security Forces (August 2020) (EASO State);

-        EASO: Afghanistan - Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs) (August 2020) (EASO AGEs);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat);

-        Ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Sharif (ecoi);

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Afghanistan: Augenkrankheiten, Behandlung von Keratoconus und Astigmatismus vom 01.08.2017 (Anfragebeantwortung) und

-        UK Home Office Country Policy and Information Note, Afghanistan: Medical and healthcare provision, Dezember 2020 (UK).

II.3.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktszentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten (LIB, Kapitel 5). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B). Zwischen 01.03.2019 und 30.06.2020 wurden 15.287 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, wovon 573 Vorfälle sich gegen Zivilisten richteten (EASO Security, 1.3.). Während des ersten Viertels 2020 blieb der Konflikt in Afghanistan einer der tödlichsten der Welt für Zivilisten. Zwischen 01.01.2020 und 30.06.2020 dokumentierte UNAMA 3.458 zivile Vorfälle, inkludierend 1.282 Tote und 2.176 Verletzten. Das stellt einen Rückgang von 13% zur Vorjahresperiode dar. Dieser allgemeine Rückgang ist auf einen Rückgang von Luftschlägen und einer Reduzierung der IS Aktivitäten zurückzuführen (EASO Security, 1.4.1.). Zwischen 01.01.2020 und 30.09.2020 wurden von UNAMA 5.939 zivile Opfer gezählt, das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang um 13% und den niedrigsten Wert seit 2012. Im gesamten Jahr 2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus. High-Profile Angriffe (HPAs) ereigneten sich insbesondere in der Hauptstadtregion (LIB, Kapitel 5). Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant (LIB, Kapitel 5).

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 4).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet, wobei die afghanische Regierung daran weder beteiligt war noch von ihr unterzeichnet wurde. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen ist von der Einhaltung der Taliban an ihren Teil der Abmachung abhängig. Die Taliban haben im Abkommen unter anderem zugesichert, terroristischen Gruppierungen keine Zuflucht zu gewähren und innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (LIB, Kapitel 4).

Die Taliban haben jedoch die politische Krise aufgrund der Präsidentschaftswahl als Vorwand genutzt, den Einstieg in die Verhandlungen hinauszuzögern. Außerdem werfen sie der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung nicht einzuhalten und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4). Diese Angriffe der Taliban richten sich gegen die ANDSF und nicht gegen internationale Kräfte (EASO Security, 1.3.). Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat allerdings trotzdem nicht nachgelassen (LIB, Kapitel 4).

II.3.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant (LIB, Kapitel 22).

Einer Prognose der Weltbank vom Juli 2020 zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 als Folge der COVID-19-Maßnahmen zwischen 5,5 und 7,4 % schrumpfen, was die Armut verschlimmern und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen werde. Schon 2019 ist das absolute BIP trotz Bevölkerungswachstums das zweite Jahr in Folge gesunken. Seit 2013 ist auch das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf stark zurückgegangen, von rund 660 auf 540 US-Dollar im Jahr 2019 (EASO Indikatoren, Kapitel 2.1.1.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (LIB, Kapitel 22).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tägliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Lage am afghanischen Arbeitsmarkt, der vom Agrarsektor dominiert wird, bleibt angespannt und die Arbeitslosigkeit hoch. Es treten viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, der nicht in der Lage ist, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, allerdings beratende Unterstützung, die auch Rückkehrende in Anspruch nehmen können (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020 Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5). In den ländlichen Gebieten leben bis zu 60% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze, in den urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel 22).

Afghanistan ist weit von einem Wohlfahrtsstaat entfernt. Afghanen rechnen auch nicht mit staatlicher Unterstützung. Die fehlende staatliche Unterstützung wird von verschiedenen Netzwerken ersetzt und kompensiert (LIB, Kapitel 22).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungssicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. Im ersten Halbjahr 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die COVID-19-Krise führte zu einem deutlichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit und einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise. Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, wieder gesunken zu sein (LIB, Kapitel 3).

Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO Indikatoren, Kapitel 2.4.1.).

Zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts durch COVID-19 gibt es keine offiziellen Regierungsstatistiken, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat. Die afghanische Regierung warnt vor einer Steigerung der Arbeitslosigkeit um 40%. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen habe in einer Befragung bis Juli 2020 84% angegeben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Fall einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten, bei einer vierwöchigen Quarantäne steigt diese Zahl auf 98%. Insgesamt ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen negativ betroffen sind. Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (LIB, Kapitel 3).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. 2019 waren 10,2 Millionen von Lebensmittelunsicherheit betroffen, während 11,3 Millionen humanitäre Hilfe benötigen (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der Finanzsektor in Afghanistan entwickelt sich und es gibt mittlerweile mehrere Banken. Auch ist es relativ einfach, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem kann über das sogenannte Hawala-System Geld einfach und kostengünstig weltweit transferiert werden (LIB, Kapitel 22).

II.3.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.1.; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Staatsbürger zur Verfügung zu stellen. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Voraussetzung dafür ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis oder Tazkira. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist allerdings sichergestellt, weniger dagegen auf der Ebene von Distrikten und Dörfern. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Das ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB, Kapitel 23).

Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos (LIB, Kapitel 23).

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren. Berichten von UN OCHA zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Berichten zufolge können Patienten in manchen öffentlichen Krankenhäusern aufgefordert werden, für Medikamente, ärztliche Leistungen, Laboruntersuchungen und stationäre Behandlungen zu bezahlen. Medikamente sind auf jedem afghanischen Markt erwerbbar, die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren (LIB, Kapitel 23).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf (LIB, Kapitel 23). Die Einwohner Kabuls, auch die Frauen, profitieren von einem einfacheren Zugang zu medizinischen Einrichtungen als in anderen Städten (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.2.).

Frauen sind auch beim Zugang zur Gesundheitsversorgung mit spezifischen Problemen konfrontiert, darunter beispielsweise einem geringen Wissen über Gesundheitsprobleme, einer niedrigen Alphabetisierungsrate, Einschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit und einem beschränkten Zugang zu finanziellen Mitteln. Verbote von medizinischen Untersuchungen von Patientinnen durch männliches medizinisches Personal wirken sich aufgrund des niedrigeren Anteils von Frauen in medizinischen Berufen negativ auf den Zugang von Frauen zu medizinischen Leistungen aus. Gemäß afghanischer Gesellschaftsnormen sollten Frauen von Ärztinnen untersucht werden. Es kommt somit zu Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung von Frauen, wenn keine Ärztinnen verfügbar sind. Manche Frauen konsultieren in den Dörfern oder Distrikten allerdings unter Umständen auch Ärzte. Einschränkungen bei der Bewegungsfreiheit wirken sich auch auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung aus: In Gebieten unter Talibankontrolle ist es für Frauen unter Umständen nicht möglich, zum Arzt zu gelangen. Afghanistan gehört zu den wenigen Ländern, in welchen die Selbstmordrate von Frauen höher ist als die von Männern. Die weite Verbreitung psychischer Erkrankungen unter Frauen wird von Experten mit den rigiden kulturellen Einschränkungen, welchen Frauen unterworfen sind und welche ihr Leben weitgehend auf das eigene Heim beschränken, in Verbindung gebracht (LIB, Kapitel 23).

In einem Fact-Finding-Mission-Report legte FIS dar, dass Gesundheitseinrichtungen häufig Probleme mit der Beschaffung von Medikamenten haben. Ebenso war die Qualität der Medizin ein Thema. Es waren jedoch Medikamente sowohl von guter als auch von schlechter Qualität vorhanden. Die, die es sich leisten können, können Medikamente guter Qualität kaufen, während die die dazu nicht in der Lage sind, auf Medikamente von schlechter Qualität beschränkt sind. Der Zugang zu qualitativ hochwertigen Medikamenten kann nicht immer garantiert werden. Laut einem Fact-Sheet des BAMF, IOM und ZIRF-Counselling aus dem Jahr 2017 ist jede Art von Medikamenten auf dem afghanischen Markt erhältlich. Die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Herstellern. Die Verfügbarkeit von Medikamenten und medizinischen Geräten ist aufgrund von Unsicherheit, Unzulänglichkeit von Straßen und Unterbrechung von Elektrizität oder temperaturabhängigen Lieferketten begrenzt. Oft gibt es keine lebensrettenden Arzneimittel, auch in überweisenden Krankenhäusern. Erforderliche Medikamente werden manchmal nicht rechtzeitig an Krankenhäuser geliefert, was eine vorübergehende Medikamentenknappheit schafft. In solchen Fällen werden Medikamente nur in Notfällen eingesetzt. Die übrigen Patienten müssen sie in privaten Apotheken kaufen (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.2.):

Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert. Der Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung oder psychosozialer Unterstützung bleibt für viele unerreichbar, insbesondere in ländlichen Gebieten. Obwohl psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützungsdienste (Mental Health and Psychosocial Support Services, MHPSS) in das nationale Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Hospital Services (EPHS) integriert wurden, stehen landesweit nur 320 Krankenhausbetten im öffentlichen und privaten Sektor für Menschen mit psychischen Problemen zur Verfügung. Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sowie auch spezialisierte Kliniken sind grundsätzlich verfügbar. Eine Aufnahme ist aber nur in Begleitung eines Verwandten möglich, der sich um den Patienten kümmern und ihn etwa auch mit Medikamenten, Nahrungsmittel, Kleidung und Hygieneartikeln versorgen muss. Dort, wo Dienste verfügbar sind, führen kulturelle Barrieren, Stigmatisierung und die begrenzte Anzahl weiblicher Anbieter psychischer Gesundheit häufig dazu, dass Frauen vom Zugang zu geeigneten Diensten ausgeschlossen sind. Außerdem werden sie als in der afghanischen Gesellschaft als schutzbedürftig betrachtet und werden als Teil der Familie gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen (LIB, Kapitel 23.1).

II.3.3.1. COVID-19

Der erste offizielle Fall in Afghanistan wurde Ende Februar 2020 festgestellt. Nach einer Umfrage des afghanischen Gesundheitsministeriums hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Bevölkerung unabhängig von etwaigen Ausgangsbeschränkungen dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).

Durch die COVID-19-Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. 53% der Bevölkerung haben nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten (LIB, Kapitel 3).

II.3.3.2. Behandlungsmöglichkeiten von Keratokonus

Keratokonus ist in Afghanistan behandelbar. Mittelschwere Augenkrankheiten können in öffentlichen und privaten Krankenhäusern in Kabul behandelt werden. in den anderen Provinzen können aufgrund fehlender Ausstattung und Spezialisten nicht alle Behandlungen durchgeführt werden. Für spezialisierte Behandlungen müssen Patienten zu einem der größeren Regionalkrankenhäuser mit einer augenmedizinischen Abteilung oder in die Hauptstadt. Augenoperationen in Privatkrankenhäuser sind teuer. In staatlichen Krankenhäusern wären die Behandlungen – mit Ausnahme der Medikamente – kostenfrei. Allerdings gibt es lange Wartezeiten für die Zulassung zu Augenoperationen (im Durchschnitt mindestens vier Monate). Für Augenkrankheiten sind in Kabul folgende Behandlungen möglich: regelmäßige Augenuntersuchung wie Sehtests und Funduskopie, ambulante Behandlung für leichte Augenprobleme sowie medizinische und chirurgische Behandlung der Augenkrankheit. Generell sind ärztliche Untersuchungen und Nachuntersuchungen für mittelschwere Augenkrankheiten in Kabul und einigen Regionalkrankenhäusern in den größeren Städten (auch in Herat und Mazar-e Sharif) verfügbar. Wenn die notwendigen Untersuchungen sehr komplex sind, könnten diese aufgrund fehlender Spezialisten und Ausstattung in Afghanistan nicht verfügbar sein. In staatlichen Krankenhäusern wären Operationen gratis, allerdings muss der Patient die Medizin selbst bezahlen. Zusätzlich gibt es Wartelisten für die Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern. In privaten Augenkliniken würde die Behandlung von Keratoconus 30.000 AFA kosten (369,84 EUR). Die Kosten für die Behandlung von Astigmatismus würde 25.000 AFA (308,20 EUR) betragen (Anfragebeantwortung). Auch im August 2020 ist eine Behandlung durch Fachärzte möglich (UK 9.1.2.).

II.3.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 18).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 18.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 18.1.).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlich politischen Einfluss im Land. In Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 18.2.)

II.3.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 17).

II.3.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 12).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

II.3.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 20).

Nach Schließung einiger Grenzübergänge aufgrund der COVID-19 Pandemie sind nunmehr alle Grenzübergänge wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen. Auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Ebenso verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führ zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3).

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. In Kabul ist die Fluktuation aufgrund verschiedener Faktoren größer, was oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht, dass man seine Nachbarn nicht mehr kenne (LIB, Kapitel 20).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 20.1).

II.3.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).

Taliban:

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und –pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt. Sie bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (LIB, Kapitel 5).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 5).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug geschätzt etwa 40.000-85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf 100.000 ansteigt. (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami bekannt ist. Diese Gruppe ist gegen den US-Taliban Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (LIB, Kapitel 5).

Laut dem unabhängigen Afghanistan-Experten Borhan Osman rekrutieren die Taliban in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos, in Madrasas und ethnisch paschtunisch ausgebildet sind. Die Rekrutierung erfolgt normalerweise über die Militärkommission der Gruppe und den Einsatz in Moscheen sowie über persönliche Netzwerke und Familien von Kämpfern, von denen viele motiviert sind, "die westlichen Institutionen und Werte, die die afghanische Regierung ihren Verbündeten abgenommen hat, zutiefst zu verabscheuen". Anstatt Gehälter zu zahlen, übernehmen die Taliban die Kosten (EASO AGEs, 2.4.). Die Taliban Kämpfer werden von einem Bericht in zwei Kategorien eingeteilt. Einerseits professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (LIB, Kapitel 5).

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 5).

Islamischer Staat (IS/Daesh) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Der IS bezeichnet sich in Afghanistan selbst als Khorosan Zweig des IS. Eine Verbindung mit dem IS im Irak und in Syrien ist aber nicht erwiesen Die Stärke des ISKP variiert zwischen 2.500 und 4.000, bzw. 4.500 und 5.000 Kämpfern (LIB, Kapitel 5).

Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. In letzter Zeit geriet der ISKP unter großem Druck und verlor auch seine Hochburg in Ostafghanistan. Er soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKO hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfern reduziert (LIB, Kapitel 5).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Verlust des Territoriums ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 5).

Der ISKP ist mit den Taliban verfeindet und betrachtet diese als Abtrünnige. Während die Taliban ihre Angriffe auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Kapitel 5).

Al-Qaida:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 5).

II.3.9 Provinzen und Städte

II.3.9.1. Herkunftsprovinz Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat geschätzt 4.434.550 Einwohner. Andere Berichte schätzen die Einwohnerzahl zwischen 3.5 und 6.5 Millionen. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 5.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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