TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/17 W178 2169895-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.06.2021
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Entscheidungsdatum

17.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
VwGVG §28

Spruch


W178 2169895-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr.in Maria PARZER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , vertreten durch Mag. Dr. Ralf Heinrich Höfler, gegen den Bescheid des BFA, Regionaldirektion NÖ, Außenstelle Wr. Neustadt (BFA-N-ASt Wr. Neustadt) vom 21.08.2017, Zl. 1118559504-160822876, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

III.    Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt III. 1. Teil des angefochtenen Bescheides gemäß § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

IV.      Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. 2. Teil des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 10 AsylG 2005, § 52 FPG 2005 iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

V.       Gemäß § 54 Abs. 1 Z 2, § 58 Abs. 2 iVm § 55 AsylG 2005 wird Herrn XXXX der befristete Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" in der Dauer von zwölf Monaten ab Rechtskraft dieses Erkenntnisses erteilt.

VI.       Die Spruchpunkte III. 3. Teil und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: Bf) ist nach Umgehung der Grenzkontrollen ins Bundesgebiet eingereist. Er stellte am 12.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 13.06.2016 fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei, aus der Provinz Logar stamme, der Volksgruppe der Paschtunen angehöre, mit sunnitischem Religionsbekenntnis. Er habe das Land aufgrund der drohenden Zwangsrekrutierung durch die Taliban verlassen.

2. Der Bf wurde am 04.08.2017 beim BFA einvernommen und gab dort an, dass er aus der Provinz Logar, Distrikt XXXX , aus dem Ort XXXX und dem Dorf XXXX stamme. Zu den Fluchtgründen gab er an, dass er eine private Feindschaft in Kabul besitze. Weiters, dass ein Halbbruder seines Vaters ein Kommandant der Taliban sei und dieser seine Zwangsrekrutierung und Kampfausbildung in Pakistan geplant habe. Würde er nicht in den Kampf ziehen, hätte dieser Onkel ihn getötet. Um dem zu entgehen, sei er zuerst in die Provinzhauptstadt XXXX geflohen und nachdem sein Onkel das Heimatdorf verlassen habe, sei er wieder in sein Dorf zurückgekehrt. Nachdem man erfahren habe, dass besagter Onkel wieder auf dem Weg in das Dorf sei, sei von seinem Vater und einem anderen Onkel des Bf dessen Flucht über die Türkei organisiert worden.

Es wurde ein psychiatrischer Befundbericht vom 16.05.2017, die Kopie einer Tazkira, mehrere Fotos, die den Bf bei Freizeit- und ehrenamtlichen Aktivitäten in Österreich zeigen, drei österreichische Zeitungsberichte, die unter anderem den Bf zeigen, ein Empfehlungsschreiben samt Nachweis über ehrenamtliche Tätigkeiten, die Teilnahmebestätigung an mehreren Deutschkursen und die erfolgreiche Absolvierung der A1-Prüfung vorgelegt. Die Vernehmung wurde an dem Tag abgebrochen.

3. Am 18.08.2017 wurde die Einvernahme vor dem BFA fortgesetzt. Auf die Frage, welche private Feindschaft er in Kabul besitze, gab der Bf an, dass sein Vater in der Vergangenheit ein Geschäft in der Hauptstadt besessen habe und es zu einem Streit „mit diesen nördlichen Leuten (Panj-Sheri)“ gekommen sei. Der Vater des Bf habe einen dieser Männer, der ihm Geld geschuldet habe, „mit einem Messer am Herzen getroffen“ und sein Geschäft sei in der Folge von dessen Söhnen zerstört worden. Die Familie des Bf habe versucht mittels Jirga zu einer gütlichen Einigung zu kommen, jedoch sei die Familie des Getöteten nicht darauf eingegangen und es sei Blutrache geschworen worden. Der Bf gab an, dass diese Leute mit dem Geheimdienst und der Regierung kooperiert haben sollen und sehr mächtig seien.

Der Bf wiederholte, dass er im Fall seiner Rückkehr Angst habe, von einem Onkel väterlicherseits, der den Taliban angehöre, getötet zu werden. Er legte einen vermeintlichen Drohbrief der Taliban vor. Er ergänzte, dass er insbesondere wegen seiner Flucht nach Europa als Ungläubiger angesehen werden würde.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 21.08.2017 wurde dem Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten keine Folge gegeben (Pkt. I) und der Antrag wurde hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Pkt. II). In Punkt III der Beschwerde wurde ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 Asylgesetz i.V.m. § 9 BFA-VG gegen den Bf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen. Es wurde weiters in Punkt III festgestellt, dass gemäß § 52 Abs. 9 FPG die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Unter Punkt IV wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgesetzt (§ 55 Abs. 1 bis 3 FPG). Das BFA hat im Wesentlichen zur Begründung angeführt, dass der Bf nicht glaubwürdig sei und nicht festgestellt werden könne, dass er einer Gefährdung oder Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt sei. In der unmittelbaren Heimatprovinz des Bf liege zwar eine Gefährdungslage vor, aber eine innerstaatliche Fluchtalternative sei etwa in Kabul gegeben. Er sei arbeitsfähig und es bestünden familiäre oder soziale Kontakte, auf die der Bf im Herkunftsland zurückgreifen könne.

5. Dagegen wurde Beschwerde eingebracht. Zur Begründung wurde angeführt, dass es dem BFA nicht gelungen sei, die Glaubwürdigkeit des Bf und die Asylrelevanz der Fluchtgründe zu widerlegen. Allenfalls wäre dem Bf aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage und der fehlenden Möglichkeit einer Fluchtalternative im Inland und der daraus entstehenden Gefahr einer existenzbedrohenden Lage im Falle der Rückkehr subsidiärer Schutz zu gewähren. Sowohl das Ermittlungsverfahrens als auch die Beweiswürdigung seien mangelhaft geblieben und die belangte Behörde habe sich mit der konkreten Situation des Bf und der Lage im Herkunftsland nicht auseinandergesetzt.

6. Am 28.08.2019 wurden beim BVwG Fotos des in Afghanistan verstorbenen Vaters des Bf und von dessen Tazkira vorgelegt, er sei misshandelt und ermordet worden.

7. Am 17.02.2020 ist eine Einstellungszusage vom Hotel-Restaurant XXXX , datiert mit 07.02.2020, beim BVwG eingelangt.

8. Am 30.09.2020 wurde das ÖIF Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau A2 an das Gericht übermittelt.

9. Am 09.03.2021 fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt. Der Bf sowie eine Zeugin und ein Zeuge wurden einvernommen und es wurden umfangreiche Unterlagen zu Fragen der Integration vorgelegt. Dazu gehörte ein Lehrvertrag und dessen Auflösung, ein E-Mail der Wirtschaftskammer Niederösterreich, zwei Empfehlungsschreiben sowie eine Einstellungszusage.

10. Am 19.05.2021 wurde vom rechtsfreundlichen Vertreter des Bf abermals eine Einstellungszusage des Hotel-Restaurants XXXX , datiert mit 15.05.2021, vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und zu seinen Fluchtgründen

Der Beschwerdeführer XXXX , geboren am XXXX , StA Afghanistan, stellte am 12.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Er gehört der Volksgruppe der Pashtunen an, mit sunnitischem Religionsbekenntnis, seine Muttersprache ist Pashtu. Er stammt aus der Provinz Logar, Distrikt XXXX , Ort XXXX , sein Heimatdorf nennt sich XXXX . Er hat dort bis zu seiner Ausreise gewohnt.

Der Bf hat ursprünglich mit seinen Eltern, seinen damals fünf – mittlerweile sind es sechs –Brüdern und einer Schwester in einem Haus im Heimatdorf in Afghanistan gelebt. Der Vater hat als Geschäftsmann in Kabul und später im Heimatdorf gearbeitet und die Familie ernährt.

Der Bf ist in seiner Muttersprache kein Analphabet, er hat zehn Jahre eine allgemeine Schule besucht.

Der Vater des Bf wurde im August 2019 tot in XXXX , in der Provinz Logar, aufgefunden. Die Mutter und seine Geschwister befinden sich seitdem in XXXX , Pakistan. Der Bf hat noch zwei Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits, eine Tante und einen Onkel väterlicherseits sowie einen Stiefonkel väterlicherseits, die alle in der Heimatprovinz des Bf in Afghanistan leben. Er hat dort auch Cousinen und Cousins. Zu den Verwandten in Afghanistan besteht seit dem Tod des Vaters kein Kontakt mehr.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Bf in Afghanistan jemals von den Taliban verfolgt oder bedroht worden ist, noch, dass eine Gefahr für ihn von einer angeblich verfeindeten Familie ausgeht.

1.2 Zur Situation des Beschwerdeführers in Österreich

Der Bf lebt seit über fünf Jahren in Österreich, er ist gesund und arbeitsfähig. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Er hat in Österreich Berufserfahrung in der Gastronomie gesammelt und von 06.04.2018 bis 27.08.2019 eine Kochlehre beim Hotel-Restaurant XXXX , absolviert. Die Lehre wurde aufgrund der fehlenden Arbeitsbewilligung des Bf frühzeitig aufgelöst. Es liegen zwei Einstellungszusagen des ehemaligen Ausbildungsbetriebes des Bf vor. Eine weitere Einstellungszusage stammt von XXXX , dem Inhaber der XXXX .

Das Hotel-Restaurant XXXX hat mit 19.05.2021 erneut bestätigt, den Bf sofort einstellen zu wollen, wenn die beschäftigungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Dies wird auch durch die Aussage der Zeugin untermauert, die im Betrieb des Hotel-Restaurant für die (damalige) Ausbildung des Bf zuständig war.

Der Bf hat am 16.06.2020 die Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau A2 bestanden. Entsprechend dem Eindruck des Gerichts hat er ein höheres Sprachniveau. Er besuchte mehrere Deutschkurse und nahm auch Privatunterricht bei Herrn XXXX , Gemeindediakon einer evangelischen Pfarrgemeinde und Zeuge in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.

Der Bf hat sich in Österreich einen umfassenden Freundeskreis aufgebaut und verfügt über mehrere Unterstützungsschreiben. Er war mehrfach ehrenamtlich tätig, z.B. in der Gemeinde St. Martin, im Rahmen eines Afrika Festivals 2017 oder auf einem lokalen Weihnachtsmarkt. Er nahm an mehreren Werte- und Orientierungskursen des Österreichischen Integrationsfonds teil.

Der Bf ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.3 Länderfeststellungen

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung, Stand 01.04.2021 (LIB)

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Mazar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

-        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Scharif vom 16.10.2020

1.3.1 Sicherheitslage, Logar – LIB, letzte Änderung 11.03.2021

Die Provinz Logar [auch: Lugar, Lawghar, Lowghar] liegt im Zentrum Afghanistans, etwa 65 Kilometer südlich von Kabul (PAJ Logar o.D.). Sie grenzt an die Provinzen Kabul im Norden, Nangarhar im Nordosten, Paktya im Süden und Ghazni und Wardak im Westen (NPS Logar o.D.). Ob der Distrikt Azra im Osten der Provinz direkt an Pakistan grenzt, ist unklar (AAN 18.7.2020). Unterschiedliche Quellen geben an, der Distrikt Azra habe eine ca. acht Kilometer lange, unbewachte Grenze mit der Provinz Khyber Pakhtunkhwa (EASO 1.2016, UNOCHA Logar 4.2014, TN 30.6.2019), während andere Quellen angeben, dass dies nicht so sei (AAN 18.7.2020, OSM 15.7.2020, GooM o.D.). Die Provinzhauptstadt ist Pul-e-Alam (NPS Logar o.D.; vgl. NSIA 1.6.2020). Die Provinz ist in folgende Distrikte unterteilt: Azra, Baraki Barak, Charkh, Khar War, Khushi, Mohammad Agha und Pul-e-Alam (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Logar 2019, UNOCHA Logar 4.2014, NPS Logar o.D.). Der Distrikt Azra wurde 2005 von Paktia an Logar übergeben (AAN 18.7.2020).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Logar im Zeitraum 2020/21 auf 434.374 Personen (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerungsmehrheit ist paschtunisch, Tadschiken und Hazara leben ebenfalls in der Provinz (AAN 18.7.2020; vgl. NPS Logar o.D., PAJ Logar o.D.). Die Distrikte Kharwar und Azra sind vollständig paschtunisch; Charkh hat eine tadschikische Mehrheit von etwa 75 Prozent. In den übrigen Distrikten sind zwischen 20 (Pul-e Alam) und 40 Prozent (Baraki Barak, hauptsächlich im Distriktzentrum) der Bevölkerung Tadschiken. Einige dieser Tadschiken sind Schiiten. Hazara- und Sayyed-Gemeinschaften, die vollständig schiitisch sind, leben im Distrikt Khoshai (25 Prozent der Bevölkerung) und in kleinen Gruppen in der Provinzhauptstadt und in Baraki Barak (AAN 18.7.2020).

Eine befestigte Straße (USAID 7.5.2019) führt von Kabul nach Logar und weiter nach Paktia (MoPW 16.10.2015; vgl. TN 7.7.2020) und Khost zum Grenzübergang Ghulam Khan an der afghanisch-pakistanischen Grenze (MoPW 16.10.2015; vgl. PAJ 21.8.2019, USAID 7.5.2019). Entlang des Teilstückes in der Provinz Logar, das durch die Distrikte Mohammad Agha und Pul-e-Alam führt (UNOCHA Logar 4.2014), gibt es eine starke Taliban-Präsenz (AAN 18.7.2020; vgl. SATP 16.7.2020).

Die Provinz hat strategische Bedeutung für die Taliban aufgrund der Nähe zu Kabul und wegen der Nachschubrouten in die Nachbarprovinzen, die durch Logar führen (AAN 18.7.2020).

1.3.1.1 Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Die Taliban sind in der Provinz aktiv (t-online 31.7.2020) und üben Kontrolle über Teile der Provinz aus (WZ 27.11.2019; vgl. KP 13.9.2020, LWJ 7.10.2020). Charkh ist einer von drei von den Taliban kontrollierten Distrikten. Drei weitere Distrikte, darunter Baraki Barak, sind umstritten. Nur ein Distrikt, Khoshi, steht unter Regierungskontrolle (LWJ 7.10.2020). Laut Angaben der Bewohner kommt es zunehmend zu missbräuchlichem Verhalten der staatlichen Sicherheitskräfte - einschließlich der Bürgerwehren, was dazu führt, dass die Bevölkerung den Taliban mehr Sympathie entgegenbringen, was wiederum deren Präsenz in Logar weiter verstärkt (AAN 18.7.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich Logar im Verantwortungsbereich des 203. Afghan National Army (ANA) Corps, das der NATO-Mission Task Force Southeast untersteht, welche von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020).

1.3.1.2 Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

[…] Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 171 zivile Opfer (47 Tote und 124 Verletzte) in der Provinz Logar. Dies entspricht einem Rückgang von 22% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren Selbstmordanschläge, gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2021).

Die Kampfhandlungen nahmen in den letzten sechs Jahren zu und erreichten 2019 ihren Höhepunkt, auch 2020 gab es zeitweise heftige Kämpfe. Keine Konfliktpartei konnte dabei die Kontrolle über das Gebiet oder die Bevölkerung wesentlich ausbauen. Logar gilt als „statisch umkämpftes“ Gebiet. Räumungsoperationen der Regierungstruppen zeigen mangelhaften Erfolg. Die Taliban haben in Logar widerstandsfähige Strukturen. Weitere Gründe für die anhaltende Unsicherheit in der gesamten Provinz sind u.A. der Kampf um die Kontrolle des Drogen- und Chromitschmuggels und die Schikanierung der Einheimischen durch die staatlichen Sicherheitskräfte. Selbst ohne klare territoriale Fortschritte scheint sich die Position der Taliban in einer solchen Situation zu verbessern (AAN 18.7.2020).

Die Taliban greifen in Logar regelmäßig Regierungskräfte (AAN 18.7.2020; vgl. MENAFN 29.6.2020, XI 1.5.2020, KP 27.4.2020, Nau 16.4.2020) oder Bürgerwehren an (KP 13.9.2020). Es kommt zu Sicherheitsoperationen (KP 1.11.2020, WION 24.9.2020, GW 1.5.2020, TN 22.4.2020) und Luftangriffen (PAJ 12.8.2020, AT 19.4.2020, SHN 19.12.2019).

1.3.2 Gesundheitssystem und COVID-19 – LIB, letzte Änderung 01.04.2021

Die COVID-19-Pandemie hat sich negativ auf die Bereitstellung und Nutzung grundlegender Gesundheitsdienste in Afghanistan ausgewirkt, und zwar aufgrund von COVID-19-bedingten Bewegungseinschränkungen, des Mangels an medizinischem Material und persönlicher Schutzausrüstung sowie der Abneigung der Gemeinschaft, Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Überweisungen ging von April bis Juni 2020 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019 um fast 25% zurück, während die Zahl der chirurgischen Eingriffe laut WHO um etwa 33% sank. Darüberhinaus ging die Rate der Routineimpfungen für Frauen und Kinder unter zwei Jahren im Laufe des Jahres zurück. Infolgedessen geht die WHO davon aus, dass die Sterblichkeit durch behandelbare und durch Impfung vermeidbare Gesundheitszustände im Jahr 2021 ansteigen könnte (USAID 12.01.2021).

Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten mit Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan seit März 2020 Anzeichen und Symptome von COVID-19 (IOM 23.09.2020). Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021).

Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung (RA KBL 20.10.2020). […]

1.3.2.1 Auswirkungen auf das Gesundheitssystem – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Die Kapazitäten Afghanistans zur Bekämpfung des Coronavirus seien einem Bericht des Central Asia-Caucasus Analyst vom 26. Mai 2020 zufolge eingeschränkt. Die Gesundheitsinfrastruktur sei schon immer fragil und schlecht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung vorbereitet gewesen. Der Mangel an Einrichtungen sei nun umso mehr spürbar. Ein akuter Mangel an Testsets, Medikamenten und persönlicher Schutzausrüstung (personal protection equipment, PPE) lege die afghanischen Kapazitäten zum Kampf gegen Covid-19 lahm. (Central Asia-Caucasus Analyst, 26. Mai 2020)

Die Johanniter International Assistance erwähnt in einem Bericht vom 27. Mai 2020, dass es in Kabul das Central Public Health Lab und Veterinärlabore gebe, die Covid-19-Tests vornehmen würden. Zudem gebe es Labore in Herat, Jalalabad, Kandahar, Masar-e Scharif und Paktya. Ein weiteres veterinärmedizinisches Labor in Herat solle bald seine Arbeit aufnehmen. In Herat gebe es ein neues Covid-19-Krankenhaus mit 100 Betten. In Kabul seien der Darulaman Palace (mit 300 Betten) und die Studentenwohnheime zu Isolationseinrichtungen umfunktioniert worden. (Johanniter International Assistance, 27. Mai 2020, S. 17)

Als Reaktion auf die oben bereits genannten Proteste von ÄrztInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens habe ein Sprecher des afghanischen Gesundheitsministeriums gesagt, dass er den Zorn über nicht ausbezahlte Löhne verstehe, so Reuters im Mai 2020. Der Sprecher habe angegeben, dass die ÄrztInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens dringend benötigt würden. Die Löhne würden in wenigen Tagen ausbezahlt. Die Proteste würden Reuters zufolge zusätzlichen Druck auf die fragile medizinische Infrastruktur Afghanistans ausüben. Wenige Wochen zuvor seien bereits Hunderte ÄrztInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens in Kabul positiv auf das Coronavirus getestet worden. Viele seien zur häuslichen Selbstisolation gezwungen gewesen. (Reuters, 19. Mai 2020)

Auch der andauernde Krieg wirke sich auf die Kapazitäten zur Bekämpfung des Coronvirus aus. Die Reichweite der Regierung für Tests und Behandlung auf von Aufständischen kontrollierte Gebiete sei aufgrund der andauernden Angriffe der Taliban und des Islamischen Staates stark eingeschränkt. Zusätzlich sei die Regierung auf die Unterstützung der Sicherheitskräfte zur Umsetzung der Lockdownmaßnahmen sowie den Transport grundlegender Güter angewiesen. Jedoch könnten diese nicht zur Bekämpfung des Coronavirus eingesetzt werden, solange Angriffe von Aufständischen weiter andauern würden. (Central Asia-Caucasus Analyst, 26. Mai 2020)

Einem Artikel von The New Humanitarian (TNH) vom 3. Juni 2020 zufolge sei das afghanische Gesundheitssystem nach dem jahrzehntelangen Krieg ruiniert („in tatters“) und werde durch internationale Hilfsfonds gestützt. Gesundheitskliniken in umstrittenen Gebieten, die oftmals von örtlichen NGOs im Auftrag der Regierung betrieben würden, seien sogar noch schlechter ausgestattet („even more basic“). Es werde befürchtet, dass insbesondere Frauen keinen Zugang zu Tests und Gesundheitsversorgung haben könnten. Bereits vor der Pandemie seien die afghanischen Gesundheitsdienste nicht angemessen gewesen. Einem Gründer der afghanischen NGO PenPath, Attaullah Wesa, zufolge sei die Lage entsetzlich. Die NGO habe vor Kurzem eine Kampagne zu öffentlicher Gesundheit in ländlichen Gebieten gestartet, darunter auch in von den Taliban kontrollierten Gebieten. Attaullah zufolge würde es den Kliniken oftmals an grundlegender Ausrüstung und angemessen ausgebildeten MitarbeiterInnen mangeln. (TNH, 3. Juni 2020)

Friederike Stahlmann weist in ihrem Vortrag vom Mai 2020 auf eine weitere Belastung des afghanischen Gesundheitssystems hin. Viele Menschen, die ansonsten in Indien und Pakistan medizinische Hilfe in Anspruch nehmen würden, könnten diese Länder aufgrund der Covid-19-Maßnahmen nicht mehr erreichen. (Stahlmann, 11. Mai 2020)

1.3.2.2 Auswirkungen auf Versorgungslage – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Am 7. April 2020 erwähnt The New Humanitarian (TNH), dass Grenzschließungen und Ausfuhrbestimmungen Auswirkungen auf die Versorgungslage hätten und die Nahrungsmittelpreise in die Höhe trieben. Während des Anstiegs der Covid-19-Fälle in den letzten beiden Märzwochen seien die Preise für Weizenmehl landesweit gestiegen, darunter um 20 Prozent in der nordöstlichen Stadt Faizabad. (TNH, 7. April 2020)

Anfang Mai 2020 erwähnt Save the Children ebenfalls die steigenden Nahrungsmittelpreise und weist zudem auf die sinkenden finanziellen Möglichkeiten der Tagelöhner zum Kauf von Nahrungsmitteln hin, da es aufgrund der landesweiten Covid-19-Beschränkungen weniger Gelegenheitsarbeit gebe. Ein großer Teil der afghanischen Arbeitskräfte sei auf den informellen Arbeitsmarkt angewiesen, der bei Arbeitsmangel keine Sicherheitsnetze biete. (Save the Children, 1. Mai 2020)

Auch die Nachrichtenagentur Reuters erwähnt am 5. Mai 2020 die steigenden Nahrungsmittelpreise. Im April 2020 sei die Nahrungsmittelinflation in Kabul dem Ökonomen Omar Joya zufolge bei 16,7 Prozent gelegen. Joya habe als Mitarbeiter des afghanischen Think-Tanks Biruni Institute Zugang zu den neusten Regierungsdaten zur Preisentwicklung. Parvathy Ramaswami vom Welternährungsprogramm in Afghanistan habe angegeben, dass sich die Covid-19-Lage in Afghanistan von einem Gesundheitsnotfall zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise entwickle. (Reuters, 5. Mai 2020)

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF schätzt Ende Mai 2020, dass in Afghanistan 11,9 Millionen Menschen vom Entzug der Nahrungsmittelsicherheit bedroht sein könnten, was wiederum zum Anstieg der multidimensionalen Armut (Einzelindikatoren zur Bemessung: Bildung, Gesundheit und Lebensstandard, Anm. ACCORD) von 51,7 auf 61,4 Prozent führen könnte. (UNICEF, 29. Mai 2020)

Aktuelle Daten und Informationen zu den Nahrungsmittel- und Treibstoffpreisen finden sich in folgendem Dokument: FEWS Net - Famine Early Warning Systems Network: Afghanistan Price Bulletin, May 2020, 30. Mai 2020 (https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Afghanistan_2020_05_PB.pdf).

Berichte würden UNOCHA zufolge zudem darauf hinweisen, dass die Lockdown-Maßnahmen weiterhin Auswirkungen auf die Mobilität humanitärer Organisationen hätten, Hilfslieferungen verzögern würden und Auswirkungen auf den Zugang zu humanitärer Hilfe hätten. Humanitäre Partnerorganisationen würden jedoch weiterhin landesweit aktiv auf Krisen reagieren. (UNOCHA, 31. Mai 2020, S. 3) […]

1.3.2.3 Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt – LIB, letzte Änderung 31.03.2021

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

1.3.2.4 Reaktionen der Taliban – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Anfang März habe der Talibansprecher Zabiullah Mujahid das Coronavirus noch als göttliche Fügung („decree of Allah“) zur Bestrafung des „Ungehorsams und der Sünden der Menschheit“ bezeichnet. Die Antwort der Taliban auf die Pandemie habe sich in den vergangenen Wochen jedoch verändert und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens wurde in Gebieten unter Taliban-Kontrolle sichere Durchfahrt zugesichert. (Central Asia-Caucasus Analyst, 26. Mai 2020)

Die Taliban würden einem Bericht der Johanniter International Assistance vom 27. Mai 2020 zufolge eine eigene Anti-Corona-Kampagne verfolgen. Im Bezirk Shindand in der Provinz Herat, der überwiegend von den Aufständischen kontrolliert werde, habe sich etwa eine Gesundheitskommission der Taliban versammelt, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern und ein öffentliches Bewusstsein dafür zu schaffen. Dem Talibansprecher Zabihullah Mujahed zufolge sei die Verbreitung von Covid-19 ein wichtiges Thema für die Taliban. Sie hätten deshalb Maßnahmen ergriffen und würden über einen strukturierten Plan verfügen. Die Gruppe habe laut eigenen Angaben bereits mehrere Personen unter Quarantäne gestellt und würde mithilfe von Motorrädern in abgelegenen Gebieten Flugblätter, Seife und Desinfektionsmittel verteilen. Die Taliban würden ihren Fokus insbesondere auf RückkehrerInnen aus dem Iran legen und diese zur Selbstisolation auffordern. (Johanniter International Assistance, 27. Mai 2020, S. 9-10)

The New Humanitarian (TNH) berichtet am 3. Juni 2020 über Kooperationen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung. Eine formelle Zusammenarbeit sei selten, auf Provinzebene habe es jedoch Versuche gegeben, direkt mit den Taliban zusammenzuarbeiten. So etwa in der Provinz Faryab. Jedoch würden sich diese Bemühungen, abhängig von den Beziehungen zu den Taliban vor Ort, von Bezirk zu Bezirk unterscheiden. Ein Experte der International Crisis Group, Andrew Watkins, habe angegeben, dass die Taliban es zwar nie zugeben würden, die Gruppe aber weder über die technischen Kapazitäten noch über ausreichend Mittel verfüge, um eigenständig effektiv Hilfe zu leisten. TNH erwähnt weiters, dass bei einem Treffen von GesundheitsmitarbeiterInnen der Provinzregierung von Faryab und Talibanvertretern im April 2020 etwa die Desinfektion öffentlicher Bereiche und die Umsetzung eines Lockdowns zur Eindämmung des Virus besprochen worden seien. Konvois mit MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens und Mitgliedern der Taliban seien sowohl in von den Taliban als auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten von Ortschaft zu Ortschaft gefahren, um gesundheitliche Ratschläge zu erteilen. Solche koordinierten Einsätze seien jedoch selten. In Badghis etwa hätten die örtlichen Taliban MitarbeiterInnen der Regierung in zwei Bezirken den Zugang verweigert. (TNH, 3. Juni 2020)

1.3.2.5 Stigmatisierung – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Einem Bericht des United States Institute of Peace (USIP) vom April 2020 zufolge würden einige AfghanInnen aufgrund der religiösen Stigmatisierung (als Strafe Gottes, Anm. ACCORD) des Virus ihre Symptome verheimlichen und sich weigern medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Regierung und religiöse Anführer hätten sich diesem Thema gewidmet und jene mit Symptomen ermuntert, medizinische Hilfe aufzusuchen. (USIP, 16. April 2020)

Ein Artikel der New York Times (NYT) vom April 2020 erwähnt in Verbindung mit der Stigmatisierung des Coronavirus, dass in Afghanistan MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens angegriffen worden und PatientInnen aus den Fenstern geklettert seien, um einer Quarantäne zu entgehen. An einem Tag im März 2020 etwa seien in Herat MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens in einem Krankenhaus von 40 PatientInnen angegriffen worden, bevor diese aus der Quarantäne geflohen seien. (NYT, 14. April 2020)

Friederike Stahlmann erwähnt in ihrem Vortrag vom Mai 2020 Stigmatisierung von RückkehrerInnen aus dem Iran oder Europa in Verbindung mit der Übertragung von Covid-19. Abgesehen von ihren eigenen Erfahrungen, betont sie aber, dass es sich dabei bisher um nicht überprüfbare Berichte handle. Ein Mitarbeiter eines Krankenhauses habe gegenüber einem Informanten Stahlmanns angegeben, dass RückkehrerInnen aus dem Iran nicht behandelt würden. Zudem komme es auf der Straße zu Übergriffen. (Stahlmann, 11. Mai 2020)

Die Internationale Organisation für Migration (International Organization for Migration, IOM) berichtet im April 2020 nicht speziell auf Afghanistan bezogen, dass in steigendem Ausmaß über Stigmatisierung und Diskriminierung von MigrantInnen in Ziel-, Transit- und bei Rückkehr in Heimatdestinationen aufgrund von Ängsten hinsichtlich der Übertragung von Covid-19 berichtet werde. (IOM, 20. April 2020)

1.3.2.6 Auswirkungen auf RückkehrerInnen – ACCORD-Bericht vom 05.06.2020

Einem Vortrag von Friederike Stahlmann im Mai 2020 zufolge seien RückkehrerInnen aufgrund der Covid-19-Maßnahmen mit fehlenden Übernachtungsmöglichkeiten konfrontiert. Hotels und Teehäuser seien geschlossen. Stahlmann wisse von drei im März 2020 abgeschobenen Personen, die obdachlos geworden seien. (Stahlmann, 11. Mai 2020)

Stahlmann erwähnt hinsichtlich RückkehrerInnen zudem, dass eine Flucht nach Europa sehr teuer sei und mit besonderen wirtschaftlichen Risiken verbunden sei, da viele dafür ihr sämtliches Hab und Gut verkauft hätten. Daher seien bei einer Rückkehr oft keine finanziellen Ressourcen mehr vorhanden, auf die sie zurückgreifen könnten. Zudem bedeute die regelmäßige Verweigerung von Familien Betroffene aufzunehmen, dass sie im Zweifelsfall nicht auf ein in Krankheitsfällen essentielles Betreuungsnetzwerk zählen könnten. Selbst wenn sie finanzielle Unterstützung hätten, sei so selbst die Beschaffung von Medikamenten und Zugang zu Pflege unrealistisch (Stahlmann, 11. Mai 2020)

Aufgrund der Covid-19-Maßnahmen seien Stahlmann zufolge zudem die Konsulate nicht erreichbar und deshalb könnten auch keine Visa für europäische Länder, den Iran oder die Türkei beantragt werden. Offizielle Büros und Beratungsstellen seien nicht zugänglich und auch IOM habe keinen Kundenverkehr. (Stahlmann, 11. Mai 2020)

1.3.3 Grundversorgung und Wirtschaft – LIB, letzte Änderung am 01.04.2021

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%.

Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (AA 16.7.2020; vgl. WB 4.2020). Eine Reihe von U.S.- Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020, aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht (SIGAR 30.1.2021). […]

1.3.4 Arbeitsmarkt – LIB, letzte Änderung 01.04.2021

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 10.2020). Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 3.12.2020; vgl.: CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten sind Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 3.12.2020). Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020; cf. IOM 18.3.2021) ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten (AAN 3.12.2020), auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (IOM 23.9.2020). Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vgl STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018). In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar.

Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich (STDOK 4.2018; vgl. CSO 2018).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet.

Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen an, in der Landwirtschaft tätig zu sein (AF 2018).

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).

In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (CSO 2018; vgl. IOM 18.3.2021). Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Für das Anmeldeverfahren sind das Ministerium für Arbeit und Soziale Belange und die NGO ACBAR zuständig; Rückkehrende sollten ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (STDOK 4.2018).

Laut dem Afghanistan National Peace and Development Framework (ANPDF) hat die Regierung geplant, sich auf mehrere Sektoren zu konzentrieren, um Arbeitsplätze zu schaffen. Insbesondere konzentriert sie sich auf umfassende Programme zur Entwicklung der Landwirtschaft und des Privatsektors. Laut ANPDF steigt und fällt das afghanische BIP mit der Leistung der Landwirtschaft, die für mindestens 40% der Bevölkerung Arbeitsplätze schafft und einen bedeutenden Anteil der aktuellen Exporte ausmacht (IOM 18.3.2021; vgl. GoIRA 2021).

Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vgl. Haider/ Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).

Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrarsektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.3.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (IOM 18.3.2021).

1.3.5 Regierungsfeindliche Gruppierungen, Taliban – LIB, letzte Änderung am 25.02.2021

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020).

Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jalaluddin Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017).

In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 Prozent zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden.

Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021).

1.3.6 Alternative Rechtsprechungssysteme – LIB, letzte Änderung 01.04.2021

In Afghanistan werden viele Streitigkeiten, die von Uneinigkeiten über Landbesitz bis hin zu kriminellen Handlungen reichen, außerhalb des formellen Gerichtssystems in informellen Institutionen wie den örtlichen Jirgas und Shuras (beratschlagende Versammlungen, normalerweise von Männern, die von der Gemeinde nominiert werden) beigelegt. Die Bestrafung basiert weitgehend auf dem Konzept der Vergeltung, und die Art der Bestrafung kann sehr unterschiedlich sein, aber in der Regel wird sie in einer Weise entschieden, die dem entspricht, was sich der Täter gegenüber dem Opfer zu schulden hat kommen lassen (Rahmi o.D.; vgl. EASO 7.2020, USDOS 11.3.2020).

Das formelle Justizsystem ist in urbanen Zentren stärker ausgeprägt, wo es näher an der Zentralregierung ist, jedoch schwächer in ländlichen Gebieten (USDOS 11.3.2020). In den Großstädten entschieden die Gerichte in Strafverfahren auch weiterhin im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Zivilrechtsfälle werden oft durch informelle Systeme wie beispielsweise staatliche Mediation über das Huquq-Büro des Justizministeriums oder durch Verhandlungen zwischen den Streitparteien beigelegt: Diese Mediationen werden von Gerichtspersonal oder privaten Rechtsanwälten geführt. Nachdem das formelle Rechtssystem in ländlichen Gebieten oft nicht vorhanden ist (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 7.2020), nutzen Bewohner des ländlichen Raumes die lokalen Rechtsschlichtungsmechanismen Jirgas und Shuras häufiger als die städtische Bevölkerung (AF 2.12.2019; vgl. USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020), wo eine Mischung aus Varianten des staatlichen Rechts und der Scharia (islamisches Recht) angewandt wird (FH 4.3.2020). Es kommt insbesondere in paschtunischen Siedlungsräumen weiter auch zu traditionellen Formen privater Strafjustiz, bis hin zu Blutfehden (AA 16.7.2020).

Informelle Justizmechanismen werden von vielen Personen auch wegen ihrer schnelleren und meist weniger kostenintensiven Tätigkeit bevorzugt (AF 2.12.2019). Der Großteil der Bevölkerung hat, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen, sozialen oder religiösen Gruppe, kein Vertrauen in die afghanischen Sicherheitskräfte und die Justizorgane. Diese werden als korrupt und zum Teil auch gefährlich wahrgenommen, weshalb ihre Hilfe in Notfällen oft nicht in Anspruch genommen wird (AA 16.7.2020; vgl. AF 2.12.2019).

Die Taliban haben ihr eigenes Rechtswesen in den Gebieten unter ihrer Kontrolle eingerichtet (FH 4.3.2020). Sie tun die afghanische Verfassung als ein vom Westen kopiertes und einer muslimischen Gesellschaft aufgezwungenes, nicht auf den Prinzipien des Islam gegründetes, Produkt ab (AAN 9.4.2019; vgl EASO 7.2020). Die Gerichte der Taliban sind bei einigen Afghanen auch über die Grenzen der von den Taliban kontrollierten Gebiete hinaus beliebt (HPG 5.2020; EASO 7.2020). So berichten Bewohner in Logar über das Gerichtssystem der Gruppierung, dass es eine bessere, schnellere und weniger korrupte Justiz biete als staatliche Gerichte. In zunehmendem Maße wenden sich Menschen an die Taliban, um Eigentums- und Familienstreitigkeiten beizulegen, da Richter und Staatsanwälte oft Bestechungsgelder verlangen (CBC 24.12.2018; vgl. EASO 7.2020).

Viele Talibankommandanten sprechen willkürliche Bestrafungen ohne Berücksichtigung des Taliban‘schen Rechtssystems aus (FH 4.3.2020; vgl. EASO 7.2020). Jedoch gibt es höchstwahrscheinlich Bestrafungen für diese Kommandanten, wenn die Anführer davon erfahren. Die Taliban haben nur geringe Möglichkeiten, willkürliche Bestrafungen zu verhindern, jedoch ein System der Bestrafung, wenn diese Dinge bekannt werden (ODI 21.6.2018).

Auch andere nicht-staatliche Gruppen setzen ein paralleles, auf der Scharia basierendes Rechtssystem um. Bestrafungen beinhalten Exekution und Verstümmelung (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.7.2020, EASO 7.2020).

Jedoch besteht bei der Nutzung informeller Justizmechanismen oft keine Wahlfreiheit. Viele Frauen, die Gewaltverbrechen an die staatlichen Behörden melden wollen, werden gezwungen, die informellen Systeme zu nutzen. Dies führt häufig dazu, dass die Täter ungestraft bleiben und die Frauen weiterhin Gefahren ausgesetzt sind (AF 2.12.2019).

In der Gesellschaft der Paschtunen wird das Paschtunwali zur Regelung aller gesellschaftlichen und internen Angelegenheiten der Gemeinschaft als zentrale Autorität herangezogen, so wie sie sich in den Vorschriften des Paschtunwali manifestiert. Dieses sind die Folgenden: Melmastiya (Gastfreundschaft), Nang (Ehre), Nanawatai (Abbitte leisten), Ghairat (Würde) usw.. Die gesellschaftlichen Institutionen wie die Jirga (Ältestenversammlung zur Lösung von Streitigkeiten), Maraka (Ältestenrat zur Lösung kleinerer Probleme) usw. stellen demokratische Strukturen dar. Desgleichen gibt es für Rechtsangelegenheiten eine Justiz in Form der Jirga (alternative Streitbeilegung), Tigah (Waffenruhe), Nogha (Strafzahlung) usw.. Auch eine Exekutive ist vorgesehen in Form der Lashkar (Bürgermiliz), Tsalwashtees (Friedenskräfte), Cheegha (Aufruf zum Handeln) und Ähnliches (STDOK 7.2016).

1.3.7 Situation für Rückkehrer – LIB, letzte Änderung: 01.04.2021

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren, nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 7.5.2020).

IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.1.2021; vgl. TNH 26.1.2021). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 Personen nach Afghanistan zurück (IOM 5.1.2019, vgl. AA 16.7.2020).

Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 19.3.2021) über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 18.3.2021; vgl. F 24 19.3.2021). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 18.3.2021).

Seit 12.8.2020 ist der Grenzübergang Spin Boldak an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist montags und dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.9.2020).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein, sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert.

Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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