TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/22 W265 2193178-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.06.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

22.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W265 2193178-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 07.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 08.06.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er unter anderem an, afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volkgruppe der Hazara und schiitischer Muslim zu sein. Er sei in XXXX in Pakistan geboren, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Zu seinem Fluchtgrund führte er aus, er wisse nicht, warum seine Eltern Afghanistan verlassen hätten. Pakistan habe er verlassen, weil er von den Taliban dreimal misshandelt worden sei. Er habe auch eine Schussverletzung. Das sei vor ca. zwei Jahren gewesen. Das sei sein einziger Flucht- und Asylgrund. Befragt, was er bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte, sagt er, in Afghanistan habe er niemanden. In Pakistan habe er Angst vor den Taliban.

3. Mit Verfahrensanordnung vom 28.09.2015 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nach Einholung eines gerichtsmedizinischen Gutachtens fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX geboren sei.

4. Am 12.09.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen persönlichen Umständen ergänzend im Wesentlichen an, er habe von seiner Geburt bis zur Ausreise in XXXX XXXX , Pakistan gelebt. Seine Eltern würden aus der Provinz Ghazni in Afghanistan stammen, er wisse nicht, wann sie ausgewandert seien. Er habe in Pakistan acht Jahre lang die Schule besucht und seinem Vater manchmal in dessen Geschäft geholfen. Seine Eltern und sieben Schwestern würden noch in XXXX leben. In Afghanistan habe er keine Verwandten. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer medizinische Befunde und Integrationsunterlagen vor.

Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, das Leben sei sehr schwierig für ihn gewesen. Er sei Hazara und das sehe man ihm auch an, deshalb habe er Angst gehabt, hinauszugehen. 2007 oder 2008 habe er zwei Selbstmordanschläge überlebt. Einmal sei ihr Auto auf dem Weg nach Islamabad von drei vermummten Männern aufgehalten worden, die dann auf sie geschossen hätten. Dabei habe es sich um Taliban gehandelt. Ihn hätten drei oder vier Kugeln in den Oberschenkel getroffen. Die Männer hätten sie alle für tot gehalten und seien geflüchtet. Er habe dabei viel Blut verloren und mehrere Tage im Krankenhaus verbracht. Ein paar Monate vor seiner Ausreise sei er von den Taliban entführt worden. Er sei auf dem Heimweg in ein Auto mit drei Personen gestiegen, die angeboten hätten, ihn mit in die Stadt zu nehmen, doch dann habe ihm einer der Männer den Mund zugehalten und er sei ohnmächtig geworden. Sie hätten ihn an einen unbekannten Ort gebracht, wo auch andere junge Burschen gewesen seien. Die Taliban hätten sie über den Jihad gelehrt. Nach ca. einer Woche sei ihm die Flucht gelungen, indem er mithilfe eines Freundes über eine Mauer gesprungen sei. Den Freund habe er dabei zurücklassen müssen. Danach hätten seine Eltern beschlossen, ihn wegzuschicken. Afghanistan hätten seine Eltern verlassen, nachdem sein Bruder von Taliban getötet worden sei.

5. Mit Eingabe vom 26.09.2017 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen zunächst die von der Behörde festgestellte Volljährigkeit des Beschwerdeführers angezweifelt wurde. Es werde beantragt, das von ihm ursprünglich angegebene Geburtsdatum festzustellen. Zur Asylrelevanz wurde ausgeführt, bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sei aufgrund ihrer besonderen, altersbedingten Vulnerabilität ein weites Spektrum potentieller Bedrohungsszenarien zu prüfen. Der Beschwerdeführer habe glaubhaft dargelegt, mehrmals Bedrohungen ausgesetzt gewesen zu sein. Aufgrund der erfolgten Zwangsrekrutierung durch die Taliban laufe er bei einer Rückkehr Gefahr, entweder neuerlich rekrutiert oder wegen der durch seine Flucht manifestierten Ablehnung der Taliban zur Rechenschaft gezogen zu werden, da er nun als politischer Gegner zu bewerten sei. Hinzu komme die seit seiner Flucht vorangeschrittene westliche Orientierung, das große Interesse an Bildung und der Auseinandersetzung mit anderen Lebensweisen. Zudem werde die schiitische Minderheit der Hazara von den Taliban massiv verfolgt, ihre Lage sei nach wie vor prekär. Eine Neuansiedlung des in Pakistan geborenen minderjährigen Beschwerdeführers in Afghanistan, wo er noch nie gewesen sei und keinerlei Verwandte habe, sei ihm nicht zumutbar.

6. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit oben genanntem Bescheid vom 19.03.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt, gegenüber dem Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, es sei dem Beschwerdeführer vor dem Bundesamt nicht gelungen, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Er habe kein konkretes Bedrohungsszenario für seine Person in Afghanistan nennen können und nur vage Angaben gemacht, dass sein Bruder von den Taliban getötet worden sei. Es hätten sich auch keine konkreten Anhaltspunkte für eine ihm als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Religionsgemeinschaft der Schiiten drohende asylrelevante Verfolgung ergeben. Die von ihm angeführten Gründe, aus denen er Pakistan verlassen habe, seien im Asylverfahren nicht prüfungsrelevant. Dem Beschwerdeführer sei eine Rückkehr jedenfalls in die afghanische Hauptstadt Kabul zumutbar. Er verfüge über achtjährige Schulbildung sowie Berufs- und Arbeitserfahrung und sei arbeitsfähig. Es sei ihm zuzumuten, sich mithilfe der eigenen Arbeitsleistung und der Unterstützung von Angehören den Lebensunterhalt in Afghanistan zu sichern. Hinderungsgründe, etwa wegen Krankheit, hätten sich im gegenständlichen Verfahren nicht ergeben. Er leide aktuell an keiner lebensbedrohlichen Krankheit.

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 17.04.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. In dieser wurde nach erneuter Darstellung des Fluchtvorbringens im Wesentlichen ausgeführt, XXXX liege im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet und die pakistanischen Taliban würden, so wie die Taliban im Osten Afghanistans und in Ghazni, aber auch das Haqqani-Netzwerk, der Quetta-Shura angehören. Der Beschwerdeführer wäre daher auch im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan von den Taliban und deren Verbündeten bedroht. Es sei völlig unverständlich, wie die Behörde zu dem Schluss komme, dass er keinen Fluchtgrund glaubhaft machen habe können. Ihm stehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, denn die Taliban seien durchaus in der Lage, Personen, an denen sie ein gesteigertes Interesse haben, überall in ihrem Einflussbereich, sicherlich auch in Kabul und anderen Großstädten, aufzuspüren. Kabul wäre ihm als Kind ohne soziales Netzwerk in Afghanistan als Fluchtalternative auch nicht zumutbar. Junge Rückkehrer, insbesondere solche, die lange Zeit im Iran oder in Pakistan gelebt haben, seien in Afghanistan besonders gefährdet und von Diskriminierung betroffen. Aufgrund seines durch seinen Aufenthalt in Österreich und sein Aufwachsen in Pakistan veränderten Auftretens würde er in Afghanistan in Konflikte mit islamisch-fundamentalistisch eingestellten Kräften geraten, Rückkehrer würden häufig als „verwestlicht“ angesehen. Auch die Volksgruppe der Hazara werde fortwährend diskriminiert und verfolgt. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre ihm daher die Flüchtlingseigenschaft, zumindest aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Schreiben vom 19.04.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo sie am 20.04.2018 einlangten.

9. Mit Eingabe vom 10.01.2020 erstattete der Beschwerdeführer durch sein bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ergänzend ausgeführt wurde, sein psychischer und physischer Gesundheitszustand habe sich seit der Beschwerdeerhebung erheblich verschlechtert. Die bereits damals diagnostizierte Somatisierungsstörung habe offensichtlich dazu geführt, dass er jetzt schwerste Magenbeschwerden habe, die zeitweise so stark seien, dass er die Schule nicht besuchen könne. Trotz mehrerer Behandlungsversuche habe sich sein Leiden nicht verbessert. Er habe deswegen einen neuen psychiatrischen Therapieversuch unternommen und werde auch seine Psychotherapie wieder aufnehmen. Der Beschwerdeführer sei in Pakistan geboren. Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Ghazni sei angesichts der dort herrschenden Sicherheitslage ausgeschlossen, ihm stehe innerhalb Afghanistans aber auch keine relevante und zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Er sei psychisch und körperlich krank und habe keine familiäre Unterstützung bei der Beschaffung der notwendigen medizinischen Versorgung. Er verfüge auch über keinerlei in einer Großstadt brauchbare Berufsausbildung. Zur Zumutbarkeitsprüfung bei innerstaatlichen Fluchtalternativen wurde auf Länderberichte und Judikatur verwiesen. Der Beschwerdeführer sei schon alleine aufgrund seiner Sprache, er spreche Dari in einem für Pakistan typischen Gemisch mit Urdu und Englisch, ganz leicht als Fremder zu identifizieren. Unter diesen Bedingungen erscheine es nahezu ausgeschlossen, dass er in Afghanistan Arbeit finden könne. Mit der Stellungnahme wurden medizinische Unterlagen vorgelegt.

10. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der zuvor zuständigen Gerichtsabteilung W164 abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung W265 zugewiesen.

11. Mit Eingaben vom 20.05.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung medizinische Unterlagen vor.

12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 27.05.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer in Anwesenheit seiner Rechtsvertretung zu seinen Fluchtgründen, seinen persönlichen Umständen und seiner Integration in Österreich befragt wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsniederschrift wurde der Erstbehörde übermittelt. Der Beschwerdeführer legte ein Dokument aus Pakistan vor.

Das Bundesverwaltungsgericht brachte in der mündlichen Verhandlung Länderberichte in das Verfahren ein und räumte dem Beschwerdeführer die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde, des genannten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Stellungnahmen, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers, zu seinen persönlichen Umständen in Pakistan und Afghanistan und zu seiner Ausreise:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist spätestens am XXXX geboren. Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Hazaragi, er spricht auch Dari, Paschtu, Urdu, Englisch, Punjabi und Deutsch.

Der Beschwerdeführer wurde in XXXX in Pakistan geboren. Seine Eltern stammen aus der Provinz Ghazni und verließen Afghanistan vor seiner Geburt. Er besuchte in Pakistan acht Jahre lang eine staatliche Schule. Neben der Schule half er seinem Vater an dessen Verkaufsstand und arbeitete zwei Jahre lang als Aushilfstischler. Er verfügt über keine Berufsausbildung. Der Beschwerdeführer verließ Pakistan 2015 und reiste nach Österreich, wo er am 07.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Der Beschwerdeführer war bis zu seiner Ausreise nach Europa sein gesamtes Leben durchgehend in Pakistan aufhältig.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Die Familie des Beschwerdeführers besteht aus seinen Eltern und sieben Schwestern. Seine Familienangehörigen leben in XXXX in Pakistan. Der Beschwerdeführer hat regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan, insbesondere auch nicht in Herat oder Mazar-e Sharif.

Der Beschwerdeführer leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer rezidivierenden depressiven Störung, einer Schlafstörung und psychosomatischen Magen-Darm-Beschwerden. Zudem finden sich infolge einer in Pakistan erlittenen Schussverletzung Metallsplitter im Oberschenkel des Beschwerdeführers, die ihm in mehreren Operationen, auch in Österreich, teilweise entfernt wurden.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer wurde in Pakistan nicht von den Taliban entführt und gefangen gehalten. Ihm droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht konkret und individuell die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt durch die Taliban oder deren Verbündete.

Dem Beschwerdeführer droht nicht alleine wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Religion konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Ebenso wenig ist jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion in Afghanistan alleine aufgrund dieses Merkmals zwangsläufig physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht alleine auf Grund der Tatsache, dass er in Pakistan aufgewachsen ist und mehrere Jahre in Europa verbracht hat, konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Ebenso wenig ist jeder Rückkehrer aus Pakistan bzw. aus Europa alleine aufgrund dieses Merkmals in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 01.04.2021 (LIB), in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR) und den EASO-Leitlinien zu Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.3.1.  Allgemeine Lage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.3.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (LIB, Kapitel 4).

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind (LIB, Kapitel 4).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (LIB, Kapitel 5).

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15 % (21 % laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel 5).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (LIB, Kapitel 5)

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wiederaufgenommen worden (LIB, Kapitel 4)

1.3.1.2. Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf verschiedene Lebensbereiche

Entwicklung der COVID-19-Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (LIB, Kapitel 3).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (LIB, Kapitel 3).

Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (LIB Kapitel 3).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (LIB, Kapitel 3).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert – diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (LIB, Kapitel 3).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (LIB, Kapitel 3).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (LIB, Kapitel 3).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20 % der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde. Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20 % der Bevölkerung finanzieren würden (LIB, Kapitel 3).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 60 % der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (LIB, Kapitel 3).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (das sind 3,9 bis 6,5 USD) (LIB, Kapitel 3).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Bei etwa 8 % der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (LIB, Kapitel 3).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (LIB, Kapitel 3).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10 % der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (LIB, Kapitel 3).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30 %) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35 %) haben (LIB, Kapitel 3).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17 % stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31 % gestiegen sind. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (LIB, Kapitel 3).

Die COVID-19-Krise führte zu einem deutlichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit und einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise. In städtischen Gebieten werden die geringere Verfügbarkeit von Einkommensmöglichkeiten während des Winters, unterdurchschnittliche Rücküberweisungen und überdurchschnittliche Nahrungsmittelpreise wahrscheinlich den Zugang zu Nahrung und Einkommen für viele arme Haushalte einschränken, wobei während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 ohne Hilfe eine Bewertung mit IPC Stufe 3 („Crisis“) erwartet wird. Wenn die Umsetzung des COVID-19-Hilfsprogramms voranschreitet, werden sich die Haushalte, welche humanitäre Hilfe erhalten, wahrscheinlich auf IPC Stufe 2 („Stressed“) verbessern, bis sie die Hilfe ausschöpfen. Die meisten ländlichen Gebiete haben IPC Stufe 2 („Stressed“), und es wurde erwartet, dass dies während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 bestehen bleibt. (LIB, Kapitel 23).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 % über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (LIB, Kapitel 3).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (LIB, Kapitel 3).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40 % steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84 % der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98 % im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (LIB, Kapitel 3).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9 % gestiegen, gegenüber 23,9 % im Jahr 2019 (LIB, Kapitel 3).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (LIB, Kapitel 3).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19-Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen, und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden. In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen. Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden. Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen. Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (LIB, Kapitel 3).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19-Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt, wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind. Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (LIB, Kapitel 3).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an. Von 01.01.2020 bis 22.09.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit Stand 18.03.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (LIB, Kapitel 3).

1.3.1.3 Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

Taliban:

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt, und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können. Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (LIB, Kapitel 6.1).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LIB, Kapitel 6.1).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (LIB, Kapitel 6.1).

Rekrutierung durch die Taliban

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban, enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta /Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich. Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (LIB, Kapitel 6.5).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren, wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden. Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LIB, Kapitel 6.5).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LIB, Kapitel 6.5).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LIB, Kapitel 6.5).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden. Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LIB, Kapitel 6.5).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LIB, Kapitel 6.5).

Haqqani-Netzwerk:

Das formell 1996 gegründete Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Es verfügt über Kontakte zum IS/ISKP. Als von den US-Truppen und der afghanischen Armee als „tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan“ bzw. „gefährlichster“ Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht. Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika, Helmand, Kandahar und Khost sowie in Paktia und Teilen Ghaznis aktiv (LIB, Kapitel 6.2).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfer reduziert (LIB, Kapitel 6.3).

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck, da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region. Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen, wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. (LIB, Kapitel 6.3).

Angriffe des ISKP gingen zurück, aber die Gruppe war für mehrere tödliche Bombenanschläge verantwortlich. Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB; Kapitel 6.3).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Kapitel 6.3).

Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche. Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al-Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (LIB, Kapitel 6.3).

Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen

Gemäß UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in 12 Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv. Al-Qaida unterhält Beziehungen zu den Taliban und eine begrenzte Präsenz in Afghanistan, wobei sie ihre Aktivitäten meist unter dem Dach anderer AGEs, insbesondere der Taliban, durchführt. Nach Ansicht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen stellen Al-Qaida und andere ausländische Terroristen, die unter dem Schutz und Einfluss der Taliban stehen, eine langfristige globale Bedrohung dar. Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten, bestritten die Taliban kürzlich, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert. Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (LIB, Kapitel 6.4).

Im Oktober 2020 wurde der ranghohe Al-Qaida-Chef Abu Muhsin al-Masri von einer Spezialeinheit der afghanischen Streitkräfte in Ghazni in einem Dorf, welches unter Talibankontrolle steht, getötet. Die afghanische Regierung sieht darin einen eindeutigen Beweis, dass die Taliban ungeachtet der laufenden Friedensverhandlungen nach wie vor enge Beziehungen zu Terrorgruppen pflegen, und nach Angaben der Vereinten Nationen ist Al-Qaida immer noch stark in die Taliban in Afghanistan eingebettet. Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen LIB, Kapitel 6.4).

1.3.1.4. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (LIB, Kapitel 5.5).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1.509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi), sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (LIB, Kapitel 5.5).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul. Rund 30 Kilometer östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab. Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (LIB, Kapitel 5.5)

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz F

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten