TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/29 W279 2231976-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.06.2021
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Entscheidungsdatum

29.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W279 2231976-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. KOREN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs-und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.03.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.05.2021 zu Recht:

A)

Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2015 illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 02.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Anlässlich seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 02.08.2015 gab der BF an, er sei afghanischer Staatsangehöriger und stamme aus XXXX , XXXX . Außerdem habe er in Kabul, XXXX , XXXX gelebt, dort die Grundschule und AHS bis zur 12. Klasse besucht. Als Muttersprache gab er Dari an, welche er in Wort und Schrift beherrsche. Zu seinem Fluchtgrund führte er aus, er sei wegen seiner Arbeit von den Taliban mit dem Tode bedroht, von diesen entführt und gegen Lösegeld freigelassen worden. Die Taliban hätten ihn getötet, hätte er seine Heimat nicht verlassen. Zudem führte er aus, er habe seinen Reisepass in der Türkei weggeschmissen.

3. Mit Schreiben vom 29.03.2017 teilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) mit, dass auf Antrag des BF zur Genehmigung der Übernahme der Heimreisekosten für freiwillige Rückkehrer Projektteilnahme RESTART II Afghanistan, Sonderaktion Reintegrationshilfe, die Heim-bzw. Ausreisekosten für diesen übernommen werden.

4. Mit Schreiben vom 05.04.2017 wurde dem BFA durch IOM International Organization for Migration die Ausreisebestätigung hinsichtlich des BF übermittelt, wonach dieser am 04.04.2017 unter Gewährung von Rückkehrhilfe aus dem Bundesgebiet nach Afghanistan ausgereist ist.

5. Mit Aktenvermerk vom 14.04.2017 stellte das BFA das Asylverfahren gemäß § 24 Abs. 2 AsylG ein, da der BF freiwillig in den Herkunftsstaat abgereist sei.

6. Mit Schreiben vom 23.08.2017 brachte die Ex-Ehegattin eine Stellungnahme ein. Zusammengefasst führte sie neben den Angaben zu ihrer Situation in Österreich aus, sie habe auf einer gynäkologischen Station als Krankenschwester im Herkunftsstaat gearbeitet und die Taliban hätten sie gezwungen, die Arbeit zu verlassen, weil Frauen laut den Taliban nicht arbeiten dürften. Zudem habe es massive Spannungen mit ihren Schwiegereltern gegeben und diese hätten sie sogar mit dem Tode bedroht. Der BF habe Österreich nunmehr verlassen und sei nach Afghanistan aufgrund des massiven Druckes seiner Familie zurückgekehrt.

7. Der BF reiste im Jahr 2020 erneut illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 15.01.2020 erneut einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am gleichen Tag gab der BF an, er spreche neben Dari, Paschtu, Englisch und Deutsch in Wort und Schrift. Er verfüge über einen Reisepass, der vom Passamt in XXXX ausgestellt worden sei, aber ihm von Schleppern in der Türkei abgenommen worden sei. Zudem gab er an, bereits 2015 für ungefähr 16 Monate in Österreich gewesen zu sein, das Bundesgebiet aber freiwillig verlassen zu haben und wieder nach Afghanistan zurückgekehrt zu sein, da sein Vater von den Taliban entführt worden sei. Zu seinem Fluchtgrund befragt führte er aus, er sei der Fahrer von General XXXX gewesen. Sein Haus sei am 07.11.2018 von den Taliban angegriffen worden und er sei selbst anwesend gewesen, als der General, seine drei Söhne und weitere 47 Personen ums Leben gekommen seien. Er selbst habe den Anschlag überlebt und die Taliban seien auf der Suche nach ihm.

8. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 03.02.2020 gab der BF im Wesentlichen an, er verfüge über einen afghanischen Führerschein und einen nationalen Führerschein sowie über ein Diplom für Pharmazie, welche er von seinem Handy der Einlaufstelle übermitteln werde. Ansonsten habe er über einen Reisepass verfügt, welchen er allerdings in der Türkei verloren habe, bzw. ihm von einem Schlepper abgenommen worden sei. Zuletzt habe er den Reisepass vor 15 Monaten in XXXX ausstellen lassen. Der BF führte aus, dass er in XXXX geboren sei, ursprünglich aus XXXX stamme und in XXXX , Ort XXXX , Wohnort XXXX gelebt habe. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und bekenne sich zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft des Islam. Seine Mutter gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sein Vater sei Tadschike. Seit ca. 3 Jahren sei er von XXXX geschieden und diese lebe aktuell mit den Kindern (Tochter: XXXX , 10 Jahre, Sohn: XXXX , 5 Jahre) in Klagenfurt. Die genaue Adresse kenne er nicht. Als er in Afghanistan gewesen sei, habe er ungefähr zwei Mal die Woche telefonischen Kontakt zu seinen Kindern gehabt.

Zu seinen Lebensumständen in Afghanistan befragt, gab der BF an, er sei Apotheker gewesen, er habe die Mittelschule in XXXX und die zweite Schule in XXXX besucht. Insgesamt sei er 12 Jahre in die Schule gegangen und ca. 16 Monate für das Diplom gebraucht. Danach habe er eine Praxis in XXXX gehabt und sei zwischen XXXX und Kabul beruflich unterwegs gewesen. Seine Praxis sei eine Gesundheitsklinik gewesen, habe aus zwei Ärzten, einer Krankenschwester und ihm bestanden.

In Afghanistan würden nach wie vor seine Eltern (Vater: XXXX und Mutter: XXXX ) in Kabul leben. Sein Vater habe noch eine weitere Ehefrau gehabt, von der er geschieden sei. Ansonsten habe der BF vier Brüder, die allesamt in Kabul leben würden. Seine Mutter sei Ärztin, sein Vater habe viele Berufe ausgeübt und arbeite derzeit als Arzt. Einen Satz danach sagte der BF aus, sein Vater arbeite nicht mehr als Arzt, sondern im Sicherheitsdienst.

Auf die Frage des BFA, warum der BF im Jahr 2017 wieder freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sei, gab dieser an, sein Vater sei von den Taliban gefangen genommen worden. Die Taliban hätten nach ihm gefragt und behauptet, der BF schulde ihnen Geld. Darauf angesprochen, dass er als Grund für seine freiwillige Ausreise die Krankheit seines Vaters angegeben habe, antwortete der BF, dass er damals nicht die Wahrheit habe sagen können, weil man ihm anhängen könne, er arbeite mit den Taliban. Sein Vater habe Probleme mit der Leber und sei starker Raucher. Als er nach Afghanistan zurückgekehrt sei, sei er direkt zu den Taliban gegangen und ihnen gesagt, er würde mit ihnen zusammenarbeiten, wenn sie seinen Vater freilassen würden. Die Taliban hätten seinen Vater freigelassen und er habe eine Praxis, in der Ortschaft Razana, eröffnet, damit die Taliban sehen, dass er dort sei. Danach habe er für den General gearbeitet und im September 2018 oder 2019 habe es diesen Anschlag in Jagori gegeben. Der Fahrer sei dabei ums Leben gekommen

Im Rahmen des Projektes Restart II habe er ein Schuhgeschäft in Kabul, in XXXX eröffnet. Das Geschäft gehöre nun seinen Brüdern, er habe seinen Teil genommen und sei gegangen. Finanziell sei er nie von seiner Familie abhängig gewesen, da er immer selbst sein Geld verdient habe.

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an, er habe in Afghanistan als Fahrer für den General XXXX gearbeitet. Bei einem Anschlag sei dieser und seine drei Söhne ums Leben gekommen. Deswegen sei er dann nach Österreich geflüchtet. Die „Leute“ hätten schlecht über ihn geredet, da er eine Praxis eröffnet habe für die Taliban. Nach dem Vorfall sei er zuerst in Kabul gewesen und habe ein Visum beantragt. Seine Tante mütterlicherseits sei die 4. Frau des Generals gewesen; so sei er zu dem Job gekommen.

Das erste Mal habe er Afghanistan verlassen, weil ihn die Taliban gefangen genommen hätten. Als er 300 000,- Afghani bezahlt und versprochen habe, mit ihnen zusammenzuarbeiten, hätten sie ihn gehen lassen.

9. Die Ex-Ehefrau des BF, XXXX , wurde am 04.02.2020 vor dem BFA als Zeugin niederschriftlich einvernommen. Im Rahmen dieser Einvernahme führte diese aus, sie sei seit ungefähr zweieinhalb Jahren vom BF geschieden und habe noch Kontakt zu ihm. Er habe die Kinder vor einer Woche besucht. Sie habe sich mit ihm verabredet und die Kinder seien zwei Stunden bei ihm gewesen. Das zweite und dritte Treffen mit den Kindern habe allerdings nur eine halbe bis eine Stunde gedauert. Der BF habe ein bis zwei Mal in der Woche Kontakt zu den Kindern, vorwiegend zur Tochter, weil der Sohn sehr introvertiert sei. Weiters gab sie an, vom BF einmal geschlagen worden zu sein, da er an Depressionen gelitten habe. Von seiner Familie sei sie allerdings öfter geschlagen worden. Die Kinder habe er nie geschlagen. Unterhalt für die Kinder zahle der BF nicht. In Afghanistan habe sie eine Ausbildung zur Hebamme gemacht und auch als solche gearbeitet zusammen mit ihrem Ex-Ehemann in einem Krankenhaus gearbeitet, einem Klinikum in XXXX , XXXX . Er habe ihr gesagt wieder dort und dann als Fahrer für einen General namens XXXX gearbeitet zu haben. Als sie erfahren habe, dass der BF wieder in Österreich sei, habe sie Angst bekommen und ihm gesagt, dass sie ihm keinesfalls die Kinder geben würde. Er habe gesagt, dass er nur hier hergekommen sei, um die Kinder zu besuchen und es reiche ihm, wenn er sie ab und zu sehen könne.

10. Am 16.02.2020 übermittelte der BF dem BFA eine handschriftliche Stellungnahme und am 20.02.2020 diverse Schriftstücke in Kopie.

11. Mit Aktenvermerk des BFA vom 27.02.2020 wurde die Übersetzung der übermittelten Schriftstücke durch einen Dolmetscher, festgehalten.

12. Mit Bescheid des BFA vom 03.03.2020, Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 14.01.2020 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), sondern gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

In der Entscheidungsbegründung wurde seitens des BFA im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF eine ihm im Herkunftsstaat drohende asylrelevante Gefährdung nicht habe glaubhaft machen können.

So habe der BF bei seiner ersten Asylantragsstellung im Jahr 2015 angegeben, er wäre wegen seiner Arbeit von den Taliban mit dem Tode bedroht und entführt, dann gegen Lösegeld freigelassen worden. Hätte der damalige Fluchtgrund der Wahrheit entsprochen, spräche dies fundamental gegen seine freiwillige Heimkehr und gegen den von ihm angegebenen Grund, aufgrund der Erkrankung seines Vaters heimkehren zu wollen. Zu seinem jetzigen Fluchtgrund führte das BFA aus, er habe sich mehrmals widersprochen, insbesondere bei der Angabe des Datums des angeblichen Anschlages auf den General. Sein Vorbringen sei keineswegs nachvollziehbar und realistisch, zumal er mehrmals seine Angaben im Laufe der Einvernahme geändert habe.

13. Gegen diesen Bescheid erhob der BF, vollumfängliche Beschwerde.

14. Am 31.03.2020 langten mehrere Anzeigen der Landespolizeidirektion Burgenland gegen den BF aufgrund von Verstößen gegen die Verordnung gemäß des COVID-19 Maßnahmengesetzes, ein.

15. Mit Schreiben vom 21.05.2021 beantragte der BF die Einvernahme seiner Ex-Ehefrau XXXX als Zeugin und übermittelte Integrationsunterlagen.

16. Mit Schreiben vom 25.05.2021 übermittelte der BF ein Konvolut an Fotos.

17. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 27.05.2021 in Anwesenheit des BF, einen Dolmetscher für die Sprache Dari und im Beisein des Rechtsvertreters des BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der BF zu seinem Gesundheitszustand, seinem Fluchtgrund, seinem Leben im Heimatland sowie in Österreich befragt wurde. Das BFA ist nicht erschienen. Als Zeuginnen wurde die Ex-Ehefrau sowie die Kinder des BF einvernommen.

Der BF gab an, dass sein Vater der Volksgruppe der Tadschiken und seine Mutter der Volksgruppe der Hazara, angehöre. Er bekenne sich zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft des Islam.

Zu seinem Tagesablauf befragt gab der BF an, er stehe um 08.00 Uhr morgens auf und gehe zur Arbeit. Er habe eine Gastronomiefirma und arbeite mit einem Koch. Dort arbeite er seit dem 01.05.2021. Das Lokal befinde sich in der XXXX , daneben gebe es eine Bäckerei und eine weitere Pizzeria. Im Restaurant gebe es Pizza, italienische Kost, Pasta, Reis und Ähnliches. Samstags, sonntags und an manchen Montagen besuche er seine Kinder. Er wohne gemeinsam mit zwei afghanischen Freunden in einer Wohnung im XXXX . Bezirk in Wien.

Sein Herkunftsland habe er verlassen nachdem XXXX am XXXX . Aqrab 1397 angegriffen worden sei und General XXXX , für welchen er gearbeitet habe, ums Leben gekommen sei. Zwei Tage später sei er nach Kabul gereist und anschließend nach Österreich geflüchtet. Im Jahr 2017 habe er angefangen für den General zu arbeiten für ungefähr eineinhalb Jahre.

Das erste Mal, als er sein Herkunftsland verlassen habe, habe er mit seiner Ex-Ehefrau eine Klinik gehabt und die Taliban wären ungefähr 20 Minuten von dieser Klinik entfernt, stationiert gewesen. Sein Vater habe damals für die Sicherheitsbehörde gearbeitet. Jetzt arbeite er auch dort, gemeinsam mit seiner Mutter. Die Taliban hätten ihn damals bedroht und zur Zusammenarbeit aufgefordert. Er sei dann von diesen festgenommen worden und gegen Lösegeld freigekommen. Zudem habe er den Taliban versprochen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, sei aber geflüchtet.

Auf Frage des erkennenden Richters, warum der BF Österreich verlassen habe und erneut nach Afghanistan ausgereist sei, gab dieser an, er habe den Taliban versprochen, dass er mit ihnen zusammenarbeiten werde und sei damals geflüchtet. Die Taliban hätten seinen Vater und seinen Bruder angerufen und nach ihm gefragt. Sein Vater sei dann auf dem Weg nach XXXX von den Taliban festgenommen worden und hätten seiner Familie gesagt, er schulde den Taliban Geld. Aus Angst um seinen Vater und weil er ihn unbedingt retten habe wollen, sei er wieder nach Afghanistan gereist. Seiner Ex-Ehefrau habe er von diesem Vorfall nichts erzählt und ihr nur gesagt, sein Vater sei krank und er wolle ihn besuchen. Obwohl er sich der Gefahr bewusst gewesen sei, habe er seinen Vater retten müssen. Aus diesem Grund habe es auch Probleme mit seiner Ex-Ehefrau gegeben. Nach seiner Rückkehr habe er sogleich die Ältesten von XXXX informiert, dass er zurückgekehrt sei, eine Klinik aufmachen wolle und mit den Taliban zusammenarbeiten wolle. Gegen Lösegeld habe er seinen Vater befreien können. Eine Klinik habe er auch eröffnet. Alles habe ungefähr zwei bis drei Monate gedauert.

Zu seinen Rückkehrbefürchtungen befragt, führte der BF, sein Leben sei in Afghanistan in Gefahr. Vor zwei Stunden habe er mit seiner Mutter telefoniert und diese habe ihm erzählt, dass ein Freund seines Vaters, der auch mit ihnen verwandt gewesen sei, in Kabul erschossen worden sei. Da sein Vater aktuell Polizeichef sei, mache er sich große Sorgen. Zudem sei er bedroht worden. Auf Nachfrage, welche Berufe seine Eltern ausüben würden, führte der BF aus, dass sein Vater Direktor einer Sicherheitsbehörde sei und im Militärkrankenhaus namens XXXX gearbeitet habe. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater seien Ärzte, hätten einen offiziellen Militärrang, doch nur seine Mutter arbeite derzeit als Ärztin.

In Afghanistan sei er Apotheker gewesen, habe eine eigene Klinik besessen und habe auch als Pfleger gearbeitet. Nach seiner Rückkehr habe er als Fahrer für den besagten General gearbeitet.

Auf die Verwaltungsübertretungen angesprochen, führte der BF aus, es habe einen Vorfall letztes Jahr aufgrund der Coronaregeln gegeben. Ein Freund habe ihn mit dem Auto wohin gebracht und er sei von der Polizei deswegen befragt worden. Er habe eine Geldstrafe von EUR 360,-- gezahlt.

Die Scheidung habe er bei seiner Rückkehr in Afghanistan eingereicht. Er habe ein sehr schlechtes Verhältnis zu seiner Ex-Ehefrau gehabt, weil sie gegen seine Rückkehr gewesen sei. Geschlagen habe er sie aber nie. Als sein Vater festgenommen worden sei, sei es ihm psychisch sehr schlecht gegangen und er habe die Kinder angeschrien und ihnen eine Ohrfeige versetzt.

Zu seinen Kindern befragt, gab der BF an, sein Sohn XXXX sei 6 oder 7 Jahre alt, seine Tochter, XXXX , sei 11 Jahre alt; sein Sohn gehe in den Kindergarten und seine Tochter besuche die Volksschule. An den Namen der Lehrerin seiner Tochter erinnere er sich nicht. Die Lehrerin seines Sohnes heiße Daniela. Seine Tochter habe 3, 4 Freundinnen, sie kämen aus der Türkei, Bosnien und Österreich, Namen würden ihm nicht einfallen. Sie möge alle Fächer, vor allem Englisch. In ihrer Freizeit lese und zeichne sie gerne. Außerdem recherchiere sie über Astronauten, weil sie gerne eine Astronautin werden möchte. Er habe ihr vor kurzem zwei Bücher geschenkt, wisse aber nicht welches sie gerade lese. Die Tochter des BF wurde als Zeugin einvernommen und führte im Wesentlichen aus, ihr Lieblingsfach sei Englisch, ihr Berufswunsch Astronautin, sie lese aktuell das Buch „Dark Diaries“, ihre beste Freundin heiße Marlene, käme aus Deutschland. Der Sohn des BF gab an, seine Lehrerin heiße Manuela und am liebsten lese er mit seinem Vater.

Die Ex-Ehefrau des Beschwerdeführers wurde ebenfalls als Zeugin einvernommen und gab an, der BF würde die Kinder zwei bis dreimal die Woche besuchen, aber nicht bei ihnen übernachten. Sie hätten sich aufgrund familiärer Probleme und weil der BF zurück nach Afghanistan gereist sei, scheiden lassen. Sie habe ihren Ex-Ehemann nicht bei seiner Rückreise begleitet, da sie sich dort nicht frei bewegen könne, sie hätte keine Freiheiten, die Kinder könnten dort nicht die Schule besuchen und ihre Schwiegereltern würden nicht wollen, dass sie arbeitet.

Auf die Frage, welche Gefahren dem BF in einer Stadt wie Herat oder Mazar-e Sharif drohen würden, antwortete dieser, dass die Taliban überall in Afghanistan wären und die Sicherheitslage sehr gefährlich sei. Er wolle seine Kinder nicht verlieren und würde in so einem Fall lieber Selbstmord begehen. Als das Leben seines Vaters in Gefahr gewesen sei, habe er seine Familie zurückgelassen, um ihn zu retten. Er liebe seine Ex-Ehefrau noch und glaube, dass es noch eine Chance gebe, wieder zusammenzufinden. Auf Nachfrage, wie er sich das Leben nehmen wolle, gab der BF wortwörtlich (auszugsweise) an: „Wenn man keine Hoffnung mehr im Leben hat oder an einem Punkt steht, wo ich damals vor drei Jahren stand, dann wird man auch irgendeine Entscheidung treffen, das Leben zu beendet. Damals als mein Vater festgenommen wurde, habe ich mit meinem Leben gespielt. Ich hatte keine Hoffnung dort am Leben zu bleiben oder zurück zu meiner Familie zu kommen.“ Auf den Einwand des erkennenden Richters seine Kinder hätten dann keinen Vater mehr, führte dieser aus: „Ich hoffe, dass ich nicht falsch verstanden werde. Ich möchte Sie damit nicht unter Druck setzen. Damit meinte ich, dass ich von meinen Kindern nicht getrennt werden möchte. […] Ich würde kein Selbstmord begehen, aber wenn ich keine Hoffnung mehr im Leben habe, würde mich das Leben auch nicht mehr interessieren.“ Nach weiterem Nachfragen, ob er ihm Falle einer negativen Entscheidung an Selbstmord denke, führte der BF aus: „Ob ich danach daran denken werde, kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass mich das Leben nicht mehr interessieren wird.“ Abschließend führte der BF wortwörtlich (auszugsweise) aus: „Ich bin ein positiver Mensch und ich denke nie negativ über mein Leben und andere Personen. Ich habe hier meine Kinder und meine Frau und ich habe Hoffnung mit meiner Frau und den Kindern zusammenzuleben und ein glückliches Leben zu führen.“

Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung legte der BF folgende Schriftstücke ein Konvolut an ausgedruckten Fotos in Farbe, vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF führt den im Spruch angeführten Namen und ist volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Der BF ist der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft des Islam.

Der BF ist in Afghanistan in der Provinz XXXX geboren und lebte in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Dorf XXXX , bis zu seiner Ausreise.

Der BF hat in Afghanistan zwölf Jahre die Schule besucht und arbeitete in einer Gesundheitspraxis. Nicht festgestellt werden konnte, dass der BF über eine Ausbildung als Apotheker verfügt.

Der BF verfügt nach wie vor über Familienangehörige in seinem Herkunftsstaat. Neben seinen Geschwistern und seinen Eltern, die allesamt in Kabul wohnen, leben noch weitere Familienangehörige, etwa Tanten mütterlicherseits und Großvater mütterlicherseits im Afghanistan.

Der BF leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung oder sonstigen Beeinträchtigungen und ist arbeitsfähig.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Nicht festgestellt werden kann, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund einer Bedrohung durch die Taliban oder anderen nichtstaatlichen Akteuren konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt droht.

Nicht festgestellt werden kann, dass der BF in Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des BF in Afghanistan festgestellt werden.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Nicht festgestellt werden kann, dass der BF im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der BF liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF spricht Dari auf muttersprachlichem Niveau, zudem spricht er zumindest grundlegend Paschtu sowie ein wenig Deutsch und Englisch.

Eine Rückkehr des BF sowohl in seine Herkunftsprovinz XXXX als auch in seine Heimatprovinz XXXX ist aufgrund der Sicherheitslage nicht möglich.

Dem volljährigen BF steht aber eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung.

Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut, wuchs innerhalb eines afghanischen Familienverbandes auf und wurde zum weitaus überwiegenden Teil seines Lebens innerhalb dessen sozialisiert.

Der BF ist ein junger, gesunder, arbeits- und selbsterhaltungsfähiger Mann und leidet an keiner akuten oder lebensbedrohlichen psychischen oder physischen Erkrankung, welche ein Hindernis für die Rückführung nach Afghanistan darstellen würde.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Coronavirus SARS-CoV2 (COVID-19) kein Rückkehrhindernis für ganz Afghanistan darstellt. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.4. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Erstmals reiste der BF im Jahr 2015 in das österreichische Bundegebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 04.04.2017 kehrte der BF freiwillig unter Zuhilfenahme von Rückkehrhilfe aus dem Bundesgebiet nach Afghanistan zurück und das Asylverfahren wurde seitens der belangten Behörde gemäß § 24 Abs. 2 AsylG eingestellt.

Im Jahr 2020 reiste der BF erneut in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seitdem hält sich der BF durchgehend im Bundesgebiet auf. Während seines Aufenthaltes hat sich der BF Grundkenntnisse der deutschen Sprache angeeignet und ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Nicht festgestellt werden kann, dass eine ausgeprägte und verfestigte Integration des BF in Österreich vorliegt.

Der BF lebt derzeit in einer privaten Wohnung im XXXX . Bezirk gemeinsam mit zwei afghanischen Mitbewohnern.

Während seines Aufenthaltes besuchte der BF weder einen Deutschkurs, noch andere integrativen Kurse bzw. Aus- oder Weiterbildungsmaßnahmen. Zudem ging der Beschwerdeführer weder in den Jahren 2015 bis 2017, noch seit seiner nunmehrigen Antragsstellung ehrenamtlichen Tätigkeiten nach.

Der BF ist von seiner Ex-Ehefrau XXXX geschieden und hat mit dieser zwei Kinder (Tochter: XXXX , geboren am XXXX 2010, Sohn: XXXX , geboren am XXXX 2015), lebt mit diesen weder in einem gemeinsamen Haushalt, noch zahlt er Unterhalt. Die Kinder des BF leben bei ihrer Mutter und diese ist mit deren grundsätzlicher Obsorge betraut. Der BF trifft die Kinder seit seiner erneuten Einreise in das österreichische Bundesgebiet in regelmäßigen Abständen. Weder übernachtet der BF bei den Kindern, noch diese bei ihm.

Der BF ist nicht Mitglied in einem Verein. Besonders verfestige Sozialkontakte zu anderen Personen wurden weder behauptet, noch sind welche hervorgekommen.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Bezogen auf die Situation des BF sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonimische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maß- nahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druck- platten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021). Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

ÖffentlichkeitswirksameAngriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen dieANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexerAngriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen dieANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Daikundi

Letzte Änderung: 08.03.2021

Daikundi liegt in der Zentralregion Hazarajat und grenzt an Ghor im Norden und Westen, Bamyan im Osten, Ghazni im Südosten, Uruzgan im Süden und Helmand im Südwesten (UNOCHA Daikundi 4.2014). Daikundi gehörte früher zur Provinz Uruzgan und ist mittlerweile eine eigenständige Provinz (PAJ 1.2.2014). Neben der Provinzhauptstadt Nili besteht Daikundi aus den folgenden Distrikten: Ishterlai, Pato, Kejran, Khedir, Kiti, Miramor, Sang-e-Takht (Sang Takht) und Shahristan (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Daikundi 2019). Der Distrikt Gizab/Pato wechselte in der Vergangenheit zwischen Uruzgan und Daikundi (AAN 31.10.2011). Im Juni 2018 wurde Pato ein eigenständiger Distrikt (AAN 27.1.2019). DieNational Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) führte Pato 2020 als „temporären" Distrikt von Daikundi (NSIA 1.6.2020). „Temporäre" Distrikte sind Distrikte, die nach Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 2004 vom Präsidenten aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, jedoch (noch) nicht vom Parlament bestätigt wurden (AAN 16.8.2018). Der von Hazara dominierte Distrikt Nawamish wurde auf Anordnung des Präsidenten im März 2016 vom mehrheitlich paschtunischen Distrikt Baghran in der Provinz Helmand abgespalten. Im Juni 2017 wurden die administrativen Angelegenheiten von Nawamish Daikundi zugeordnet (AAN 16.8.2018), bzw. beschloss die Regierung 2018, dass Nawamish Teil von Daikundi werden würde (Mobasher 2019). Während Zeitungsberichte vom August und Mai 2020 Nawamish zu Daikundi zählen (MENAFN 19.8.2020, XI 1.5.2020), rechnen die nationale Statistikbehörde und die unabhängige Wahlkommission (IEC) Nawamish allerdings weiterhin Helmand zu (NSIA 1.6.2020; IEC Helmand 2019). Eine Quelle berichtet, dass es sich hierbei um einen Konflikt entlang ethnischer Grenzen handelt: Während Paschtunen fordern, dass Nawamish Teil von Daikundi sein soll, sprechen sich Hazara für eine Zugehörigkeit zu Helmand aus (Mobasher 2019).

Die NSIAschätzt die Bevölkerung in Daikundi im Zeitraum 2020-21 auf 516.504 Personen (NSIA

1.6.2020) . Als Teil des Hazarajats (UNOCHA Daikundi 4.2014) wird Daikundi mehrheitlich von Hazara bewohnt, wobei es eine Minderheit an Paschtunen, Belutschen und Sayeds/Sadats gibt (NPS Daikundi o.D.).

Daikundi ist von Bergen umgeben. Fehlende Straßeninfrastruktur und die große Entfernung zu den afghanischen Großstädten machen den Transport zu einer kostspieligen und oft riskanten Aufgabe (KN 19.5.2020). Die Provinz kann via Uruzgan oder Bamyan erreicht werden (LCA

4.7.2018) , bei starkem Schneefall sind die Straßen jedoch blockiert (LCA 4.7.2018; vgl. AnA

13.2.2020) . Es gibt in Daikundi einen Flughafen, der jedoch na

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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