TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/29 W177 2147624-1

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Veröffentlicht am 29.06.2021
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Entscheidungsdatum

29.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch


W177 2147624-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Joachim RATHBAUER, Weißenwolffstraße 1/4/23, 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz, vom 30.01.2017, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.05.2021, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, und §§ 52, 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 26.09.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 27.09.2014 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er in Pakistan geboren worden sei und er dort eine zehnjährige Schulbildung erhalten habe. Seine Muttersprache sei Paschtu. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekenne sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er sei ledig und habe zuletzt Berufserfahrung als Einkäufer für eine Baufirma gesammelt. In seinem Heimatland habe er sich zuletzt im Distrikt XXXX in der Provinz Logar aufgehalten. Dort würden noch seine Eltern und seine beiden Brüder leben. Ein weiterer Bruder sei irgendwo in Europa aufhältig. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er für eine afghanische Baufirma tätig gewesen sei, die ihrerseits im Auftrag für die US-Corps, ANA und die afghanische Polizei gebaut habe. Aufgrund von dieser Tätigkeit wären der BF uns sein Bruder von den Taliban mit dem Leben bedroht worden. Diese hätten ihnen vorgeworfen, dass sie Spione wären und ihr Geld verbotenerweise verdienen würden. Daher hätten sie ihr Heimatland verlassen müssen. Im Falle einer Rückkehr sei sein Leben in Gefahr. Der BF legte seine Tazkira vor.

3. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 18.01.2017 gab der BF an, dass er gesund und nicht ärztlicher Behandlung sei. Er werde in Afghanistan verfolgt. Mit dem afghanischen Sonnenkalender kenne er sich nicht aus, weil er in Pakistan geboren und aufgewachsen sei. Er stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Logar. Er legte einen USB-Stick mit Unterlagen vor und wurde angewiesen, diese binnen zwei Wochen ausgedruckt der Behörde vorzulegen. Er sei afghanischer Staatsbürger, sunnitischer Moslem und Angehöriger der paschtunischen Volksgruppe. Er sei verlobt und habe keine Kinder. Sein Zielland sei Deutschland gewesen, jedoch habe er nur Geld für eine Flucht nach Österreich gehabt. In anderen sicheren Ländern habe er keinen Asylantrag gestellt, weil nur in Deutschland und Österreich die Menschenrechte berücksichtigt werden würden und diese Länder auch sicher und fortgeschritten seien. Jeder wolle in solchen Ländern leben. Sein Heimatland habe er über Pakistan, den Iran und die Türkei verlassen. Er sei in Bulgarien auf das Gebiet der EU eingereist.

Er sei in Pakistan aufgewachsen, wo er auch zwölf Jahre die Schule besucht habe. Dort habe er in einem Autohaus gearbeitet, ehe er 2006 wieder zurück nach Afghanistan gegangen sei. Dort habe er auch in einem Autohaus gearbeitet und Englischunterricht gegeben, ehe er bei einer Baufirma angestellt gewesen sei. Diese sei international tätig gewesen und sich habe in Kabul befunden, wo sich der BF auch aufgehalten habe. In Logar würden noch seine Eltern und zwei seiner Brüder leben. Ein weiterer Bruder sei in Italien aufhältig. Mit seinen in Afghanistan aufhältigen Verwandten habe er zuletzt vor einem Monat über das Internet Kontakt gehabt. Seine Eltern würden mittlerweile in Kabul leben. Weitschichtige Verwandte und einige Freunde würden ebenfalls noch in der Provinz Logar aufhältig sein. Einige Arbeitskollegen würden noch in Kabul leben, könnten aber von dort nicht nach Logar zurückkehren.

In seinem Heimatland habe er kein Problem mit Behörden oder staatlichen Stellen gehabt. Er sei auch weder politisch aktiv noch Mitglied in einer politischen Partei gewesen. Er selbst sei paschtunischer Volksgruppenzugehörigkeit und Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. In Afghanistan habe dort auch keine Probleme aufgrund seiner Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit sowie wegen einer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gehabt. Er habe keine gröberen Probleme mit Privatpersonen gehabt und in seinem Heimatland nicht an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen teilgenommen.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er, im Wissen um die Gefährlichkeit dieser Arbeit, bei einer namentlich genannten afghanischen Baufirma tätig geworden sei. Er habe niemandem in seiner Heimatregion gesagt, dass er für diese Firma, die für die Amerikaner tätig gewesen sei, in Kabul gearbeitet habe. Doch die Leute im Heimatdorf hätten davon erfahren und als die Taliban 2012 in das Dorf gekommen wären, hätten die Leute ihnen gesagt, dass er und sein Bruder Spione seien. Sie hätten danach den Kontakt ins Heimatdorf eingestellt und seine Eltern wären in die (Bezirks-)Hauptstadt übersiedelt. Im Jänner 2014 sei der BF aber zu einer Hochzeit wieder in sein Heimatdorf zurückgegangen. Dabei habe man auf ihn geschossen, wobei sein Cousin verletzt worden sei. Der BF habe sich bei einem Armeestützpunkt in Sicherheit bringen können. Danach habe er sich entschlossen, Afghanistan zu verlassen. Da für die Finanzierung seiner Ausreise noch Grundstücke verkauft hätten werden müssen, habe er erst im Mai 2014 das Land verlassen können. Dass es sich damals um einen Angriff der Taliban gehandelt habe, schließe der BF daraus, weil er eineinhalb Jahre zuvor von den Taliban bedroht worden wäre. Damals hätten die Taliban an das Haus der Familie geklopft und den Dorfbewohnern mitgeteilt, dass er und sein Bruder Spione seien. Es habe auch einige Male Drohanrufe gegeben. Am Tag vor der Bedrohung habe einen solchen erhalten. Zwei weitere Anrufe wären ca. ein bis zwei Monate davor eingegangen. Andere Familienmitglieder würden nicht bedroht werden. Seine Verlobte würde bei ihren Eltern leben. In Kabul sei der BF nicht bedroht worden. In eine als sicher eingestufte Provinz des Landes könnte der BF nicht gehen, weil es eine solche nicht geben würde. Selbst in Kabul gäbe es immer wieder Explosionen, bei denen Personen sterben würden. Selbst wenn er ein Paschtune sei, würden ihn seine Verwandten nicht unterstützen können. Es wäre in Logar zu gefährlich und keiner würde sich in Gefahr bringen wollen. In Kabul habe er ohne Bedrohungen leben können, jedoch würde die Taliban immer auf die passende Gelegenheit warten.

Sein Bruder habe in Italien Asylstatus erhalten. In Österreich habe er keine Verwandten. Er lerne Deutsch und werde bald die A2-Prüfung ablegen. Er wolle sich hier auch weiterbilden. Er habe einmal nachgefragt und erfahren, dass er Saisonarbeiten durchführen dürfe. Er lebe von der Grundversorgung und helfe anderen Flüchtlingen im Heim. Er befinde sich in keiner Lebensgemeinschaft und sei in keinem Verein aktiv. Derzeit arbeite er nur gemeinnützig. Auf die Abgabe einer Stellungnahme zu den Länderfeststellungen verzichtete der BF. Abschließend gab er an, dass bei den Paschtunen eine Verlobung mit der Eheschließung gleichzusetzen sei und er sei seit Anfang 2011 verlobt. Ebenso legte der BF zahlreiche Kopien und Fotos vor.

4. Mit Bescheid vom 30.01.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass der BF nicht glaubwürdig sei. Bezüglich des Fluchtgrundes habe er in der Erstbefragung nicht erwähnt, dass er bei der Hochzeit seines Cousins angegriffen und er davor bereits mehrmals telefonisch bedroht worden sei. Auch würden dem vorgelegten Schreiben des Sicherheitspräsidiums der Provinz Logar völlig andere Details zur Fluchtgeschichte des BF zu entnehmen sein (u.a. der Erhalt von Drohbriefen), die der BF in dieser Form nicht angeführt habe. Der BF habe auch keine Beweise für den von ihm vorbrachten Anschlag vorlegen können. Dass dieser Anschlag überhaupt von den Taliban durchgeführt worden sei, habe der BF mit vagen Mutmaßungen, nämlich Drohanrufe aus dem Jahr 2012, begründet. Ebenso sei es ich nachvollziehbar gewesen, dass die Taliban bis zum Jahr 2014 warten würden, um dann einen Angriff auf den BF durchzuführen, obgleich sie von dessen Tätigkeit in Kabul gewusst hätten. Außerdem sei es auffällig gewesen, dass der BF nach dem Anschlag der Taliban von Jänner 2014 bis Mai 2014 keinen weiteren Drohungen ausgesetzt gewesen sei. Nicht nachvollziehbar sei es ebenfalls gewesen, dass der BF zur Hochzeitsfeier in seine Heimatregion zurückkehren würde, zumal er selbst seine Eltern aufgefordert hätte, dass sie diese Region verlassen sollen. Ebenso sei ein Verlassen Afghanistan nicht plausibel gewesen, zumal der BF einerseits einer anderen Tätigkeit hätte nachgehen können, andererseits ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung gestanden wäre. Ebenso habe der BF betont, dass er seinen Asylantrag nur in einem wohlhaben Land habe stellen wollen, was gegen eine Schutzsuche als primären Grund für das Verlassen des Heimatstaates spreche.

Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre dem BF eine Ansiedlung in Kabul zumutbar. Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Der BF habe eine Schulbildung, Berufserfahrung und Kontakt zu seinen in Afghanistan lebenden Verwandten Ebenso sei der BF gesund. Betreffend den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

5. Mit Verfahrensanordnung vom 30.01.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren als Rechtsberatung zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 30.01.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

6. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 13.02.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung, nunmehr RA Dr. Joachim RATHBAUER, in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass der BF sein Fluchtvorbringen konkret, nachvollziehbar und asylrelevant dargelegt habe. Ebenso seien die lange Verfahrensdauer und die unberücksichtigten Integrationsschritte moniert worden. Der angefochtene Bescheid würde sohingehend an einer Verletzung von Verfahrensvorschriften leiden. Ebenso habe es die Behörde unterlassen, Nachforschungen zu seiner Identität anzustellen. Abermals wurde ausgeführt, dass das Fluchtvorbringen des BF glaubhaft dargelegt worden sei und die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan ein Rückkehrhindernis für den BF darstellen würde. Diese wurde mit Berichten von Anschlägen aus dem Jahren 2016/17 untermauert. Ebenso habe sich der BF trotz kurzer Aufenthaltsdauer gut integriert, weshalb die Rückkehrentscheidung sohin für dauerhaft unzulässig erklärt hätte werden müssen. Ebenfalls wurde das Durchführen einer mündlichen Verhandlung beantragt.

7. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 14.02.2017 vom BFA vorgelegt.

8. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 07.03.2017 wurde die gegenständliche Rechtssache der bisher zuständigen Gerichtsabteilung W254 abgenommen und der Gerichtsabteilung W253 neu zugewiesen.

9. Mit Schreiben vom 10.07.2017 legte der BF das Sprachzertifikat ÖSD B1 vor.

10. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.02.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der bisher zuständigen Gerichtsabteilung W253 abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.

10. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 04.05.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, mit Schreiben vom 29.04.2021 entschuldigt, auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19 und es wurde auf die Verlesung der für das Ermittlungsverfahren wesentlichen Aktenteile verzichtet und die Aktenteile seitens des erkennenden Richters zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der heutigen Niederschrift erklärt.

Der BF gab an, dass er in Afghanistan seit 2011 verlobt sei. Er habe bis dato die Wahrheit gesagt und stellte den Protokollierungsfehler richtig, dass er seine Flucht aus den Mitteln durch den Verkauf von Grundstücken und seinen eigenen Ersparnissen bewerkstelligen habe können. Er sei mit seiner Familie noch gelegentlich in Kontakt. Sein Vater sei im Juni 2020 an COVID-19 verstorben.

Nach Erörterung der Situation im Falle einer Rückkehr des BF führte dieser aus, dass er in Pakistan geboren und aufgewachsen worden sei, er aber dennoch nach Afghanistan zurückgegangen sei. In Afghanistan würde man wegen Kleinigkeiten getötet werden und es sei für ihn wie ein fremdes Land. Auch unter den Paschtunen würde man nicht akzeptiert werden. Diesbezüglich brachte er das Beispiel eines paschtunischen Regionalpolitikers vor, der von der paschtunischen Bevölkerung nicht akzeptiert werde und vermeinte, dass ihm dasselbe Schicksal drohe. Auch in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat sei die Sicherheitslage angespannt. Seitdem die Amerikaner angekündigt hätten, dass sie das Land verlassen werden, seien die Taliban und Daesh gleich wieder erstarkt. Auf Vorhalt, dass er selbst acht Jahre in Afghanistan gelebt habe und ihm eine Integration in die Gesellschaft daher zugemutet werden könne, vermeinte der BF, dass sein Leben in Gefahr sei und er damals trotzdem zwei Jahre in Kabul geblieben sei. Er habe sich nur einmal nach Logar zurückgetraut, wobei er gedacht habe, dass man bereits auf ihn vergessen hätte. Allerdings habe sich dann bei der Hochzeit dieser Vorfall ereignet. Ebenso seien viele Leute seines Stammes bei den Taliban, sodass er sich vor seinem Stamm nicht verstecken können.

In weiterer Folge legte der BF zahlreiche Integrationsunterlagen vor. Er lebe von der Grundversorgung, vermeinte aber, dass er aufgrund seines Status als Asylwerber nicht arbeiten dürfe. Er habe es versucht, Saisonarbeiten zu bekommen, jedoch habe er dabei keine Unterstützung erhalten. Der Rechtsvertretung des BF stellte in Aussicht verschiedene Einstellungszusagen im Zuge eines ergänzenden Schriftsatzes vorzulegen.

In Österreich habe er sich außergewöhnlich integriert, weil er Deutsch gelernt habe und freiwillige Arbeiten durchgeführt habe. Er habe Freundschaften geschlossen und ohne Unterstützung Deutschzertifikate erworben. Er habe auch online einen Computerkurs absolviert und löse im Heim nun sowohl Software- als auch Hardwareprobleme. Danach wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.

11. Mit Schriftsatz vom 14.05.2021 erfolgte seitens der Rechtsvertretung des BF die Vorlage zweier Einstellungszusagen.

12. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Afghanische Tazkira

?        Bestätigungsschreiben aus Afghanistan über die berufliche Tätigkeit des BF

?        Bestätigungsschreiben aus der Provinz Logar über seine Gefährdung

?        Fotos aus Afghanistan

?        Pakistanisches Zeugnis

?        Teilnahmebestätigungen an Deutsch- und Bildungskursen

?        Bestätigungen über die Durchführung gemeinnütziger Arbeit

?        Länderberichte zur Situation in Afghanistan

?        Sprachzertifikat ÖSD B1

?        Bestätigungen über die Durchführung gemeinnütziger Arbeit des ÖRK

?        Zahlreiche Referenz- und Empfehlungsschreiben

?        Google Course Certificate „Technical Support Fundamentals“

?        Zwei Einstellungszusagen

?        Stellungnahme der Caritas vom 19.09.2019

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Paschtu. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben in Pakistan geboren und ging dort auch zwölf Jahre lang in die Schule, ehe er im Jahr 2006 nach Afghanistan zurückkehrte. Während der Zeit in Afghanistan hat sich der BF zumeist im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Logar aufgehalten. Ebenso hat er in Afghanistan über zwei Jahre in Kabul gelebt, wo er einer Arbeit bei einer Baufirma nachgegangen ist. Er hat in Afghanistan auch als Verkäufer in einem Autohaus und Englischlehrer gearbeitet. In Pakistan hat er Berufserfahrung als Verkäufer in einem Autohaus gesammelt. In seinem Heimatland sind noch seine Mutter und seine beiden Brüder sowie zahlreiche weitschichtige Verwandte und seine Verlobte aufhältig. Zu seiner Mutter, die mittlerweile in Kabul lebt, und seinen Brüdern besteht regelmäßiger Kontakt. Sonstige Familienangehörige leben nach wie vor in der Provinz Logar. Ein weiterer Bruder lebt in Italien. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF ist in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft und hatte keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv. Der BF ist in Österreich ebenfalls unbescholten.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan über Pakistan, den Iran und die Türkei in Bulgarien auf das Gebiet der EU eingereist. Am 26.09.2014 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 26.09.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, die ihrerseits im Auftrag für die US-Corps, ANA und die afghanische Polizei gebaut habe. Aufgrund von dieser Tätigkeit wären der BF uns sein Bruder von den Taliban mit dem Leben bedroht worden. Diese hätten ihnen vorgeworfen, dass sie Spione wären und ihr Geld verbotenerweise verdienen würden. Daher hätten sie ihr Heimatland verlassen müssen. Im Falle einer Rückkehr sei sein Leben in Gefahr. In weiterer Folge steigerte der BF sein Vorbringen dahingehend, in dem er vermeinte, dass es Drohanrufe gegeben habe und ein Schussattentat auf ihn verübt worden sei.

Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht noch wird er von den staatlichen Behörden gesucht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung, er wird von diesen oder dieser auch nicht gesucht.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch staatliche Behörden oder andere Personen.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Paschtunen oder der Zugehörigkeit zu einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Dem BF ist eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Logar, die als volatile Provinz eingestuft wird, aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage nicht zumutbar. Da seine weitere Herkunftsprovinz Kabul nicht zu den volatilen Provinzen Afghanistans zählt, ist eine Rückkehr in diese möglich. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan ist dem BF auch noch – neben einer Rückkehr nach Kabul – die Ansiedlung in einer der größeren Städten Afghanistans, insbesondere der Stadt Herat und der Stadt Mazar-e Sharif, zumutbar. Bei einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Kabul, in der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Der BF leidet an keiner ernsthaften Krankheit, welche ein Rückkehrhindernis darstellen würde; er ist gesund. Es bestehen keine Zweifel an der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des BF. Der BF ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Seine Mutter lebt derzeit in Kabul. Zwei Brüder, zahlreiche weitere weitschichtige Familienangehörige und seine Verlobte wohnen derzeit in der Provinz Logar. Die Familie des BF kann ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan zumindest vorübergehend finanziell unterstützen. Ebenfalls kann der BF von einem in Italien lebenden Bruder vom Ausland aus unterstützt werden.

Der BF hat jedenfalls die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF wurde in der Beschwerdeverhandlung über die Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt.

Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit.

Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und einer Sprache seines Herkunftsstaates als Muttersprache vertraut, weil er in Pakistan in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen ist und er auch dort zwölf Jahre in die Schule ging sowie er in seinem Heimatland jahrelang Berufserfahrung als Verkäufer in einem Autohaus, Englischlehrer und Einkäufer bei einer Baufirma gesammelt hat.

1.4.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 26.09.2014 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 26.09.2014 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu sonstigen in Österreich lebenden Personen.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften ist er kein Mitglied in sonstigen Vereinen. Schließlich wird das soziale Verhalten des BF in der Gesellschaft durch Referenzschreiben belegt, wo der BF als hilfsbereit, freundlich und fleißig wahrgenommen wird. Jedoch gilt es auch hier anzumerken, dass diese Schreiben ausschließlich aus dem sozialen Umfeld des BF stammen, das ein besonderes Interesse am Verbleib des BF im Bundesgebiet hat und von Organisationen (Personen), zu deren maßgeblichen Tätigkeitsfeld die Unterstützung von Asylwerbern zählt.

Er besuchte auch zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen und Prüfungszertifikate darlegen. Er ist daher in der Lage, bei klarer Standardsprache über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. auf Deutsch zu reden. Darüber hinaus kann er über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben. Er ist bemüht seine Sprachkenntnisse zu vertiefen und hat bereits das ÖSD-Zertifikat B1-Kurs.

Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er verfügt über Einstellungszusagen und hat vermehrt gemeinnützige bzw. ehrenamtliche Aufgaben übernommen und sich der Aus- und Fortbildung gewidmet. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF jedoch nicht gelungen.

Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten.

1.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020 in der Aktualisierung vom 02.04.2021 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Länderspezifische Anmerkungen

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (3.2021) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.

Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

COVID-19

Letzte Änderung: 31.03.2021

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl. UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

0.       Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:

Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.

1.5.1. Politische Lage

Letzte Änderung: 31.03.2021

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die ü

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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