TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/1 W107 2190522-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.07.2021
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Entscheidungsdatum

01.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1a

Spruch


W107 2190522-2/47E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Sibyll BÖCK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA MMag. Katrin Maringer, Laudongasse 55/5, 1080 Wien, als einstweilige Erwachsenenvertreterin, diese vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.01.2018, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.06.2021 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste schlepperunterstützt und unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte hier am 19.05.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 21.05.2015 wurde der Beschwerdeführer von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute, seinem Fluchtgrund und allfälligen Rückkehrgefährdungen befragt. Er gab an, in XXXX , Afghanistan geboren zu sein; sein Vater, XXXX , und seine drei Schwestern, XXXX XXXX und XXXX seien im Herkunftsstaat aufhältig, seine Mutter, XXXX , sei bereits verstorben; seine zwei Brüder, XXXX und XXXX , seien in Österreich, seine Brüder XXXX und XXXX seien in Norwegen aufhältig. Die Familie besitze ein Haus und ein Grundstück, die Familie habe dann in Kabul gelebt; dort habe er sieben Jahre die Grundschule besucht; vor vierzehn Monaten sei er aus Afghanistan in den Iran ausgereist; ein Jahr habe er im Iran gelebt. Von dort sei er dann mit seinen beiden Brüdern Richtung Europa geflüchtet. Zu seinem Fluchtgrund gab er an, er habe in Afghanistan einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein Mann gestorben sei. Die Familie dieses Mannes schwöre nun Blutrache. Daher fürchte er um sein Leben.

3. Eine durchgeführte EURODAC-Abfrage ergab einen Treffer am 16.05.2015 mit Ungarn. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) richtete am 26.05.2015 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-Verordnung) gestütztes Aufnahmeersuchen an Ungarn.

4. Mit Schreiben vom 08.06.2015 wurde durch das ungarische Office of Immigration and Nationality die Bereitschaft zur Aufnahme des Beschwerdeführers bekannt gegeben.

5. Am 12.08.2015 wurde der Beschwerdeführer im Hinblick auf die geplante Zurückweisung seines Antrags auf internationalen Schutz und die geplante Ausweisung nach Ungarn vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Vorgebracht wurde vom damaligen Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, dass das Verfahren seines mj. Bruders XXXX in Österreich bereits zugelassen worden sei. In Folge wurde das Verfahren des Beschwerdeführers in Österreich zugelassen.

6. Am 07.11.2017 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seinem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen. Hier gab er an, gesund zu sein; zu seinen Familienverhältnissen befragt führte er aus, dass sein Vater und seine drei Schwestern in Kabul, Afghanistan, wohnhaft seien, zwei Brüder seien in Norwegen, ein Bruder in Frankreich und sein kleiner Bruder sei auch in Österreich, seine Mutter sei bereits verstorben; zu seiner Familie in Afghanistan habe er regelmäßigen telefonischen Kontakt; zu seinem Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, er sei vor seiner Ausreise sieben Monate wegen eines Verkehrsunfalles im Gefängnis in XXXX gewesen; er habe einen Führerschein mit achtzehn Jahren gemacht und als Taxifahrer gearbeitet; Afghanistan habe er schon immer verlassen wollen; große Schwierigkeiten habe er in Afghanistan jedoch – bis auf den Unfall - nie gehabt; wie alle Leute in seinem Alter habe er Afghanistan verlassen wollen; er sei gerne nach Europa gegangen; er habe keine Lust gehabt, in Kabul zu leben; aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen sei er nicht verfolgt worden; er sei auch noch nie konkret bedroht worden; im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan müsse er jedoch „aufpassen“, da die in den Verkehrsunfall involvierte Person „invalide“ geworden sei, diese Person auch Brüder habe und ihm selbst etwas passieren könne. Afghanistan habe er vor ca. drei Jahren Richtung Iran verlassen, dort habe er sich sieben Tage aufgehalten und sei dann Richtung Europa weitergereist.

7. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 05.01.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.) und ausgesprochen, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkt VII.). Ferner wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 5 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.).

Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer nachweislich am 10.01.2018 in der Justizanstalt Wien- XXXX durch persönliche Übernahme zugestellt.

8. Mit Schriftsatz vom 14.03.2018 erhob der Beschwerdeführer durch die damalige Rechtsvertretung Diakonie Flüchtlingsdienst – Vollmacht vom 12.03.2018 - vollinhaltlich Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom 05.01.2018 verbunden mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist sowie mit einem Antrag auf aufschiebende Wirkung.

Begründet wurde der Antrag auf Wiedereinsetzung im Wesentlichen mit der dem Bescheid fehlenden Rechtsmittelbelehrung auf Dari, der fehlenden Verfahrensanordnung über die Beigabe einer Rechtsberatungsorganisation und die fehlende Verfahrensanordnung der ARGE Rechtsberatung betreffend deren Bestellung. Aus den angeführten Gründen treffe den Beschwerdeführer kein Verschulden an der Versäumung des Rechtsmittels.

9. Mit Datum 27.03.2018 übermittelte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

10. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.04.2018, GZ W107 2190522-1/4E, wurde die Beschwerde als verspätet zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde gem. § 6 AVG iVm § 17 VwGVG zuständigkeitshalber an das BFA weitergeleitet (Spruchpunkt II.). Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

11. Mit Schreiben vom 11.04.2018 wurde von der damaligen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers ein „Psychiatrischer Befund“ des Psychosozialen Zentrums „ESRA“, vorgelegt, demzufolge der Beschwerdeführer an einer „emotional instabilen Persönlichkeitsstörung F60.3“ und an einer „Rez.“ (Anmerkung seitens des BVwG: rezidivierenden) „Depression F 33.1“ leide sowie dem Beschwerdeführer schädlicher Gebrauch von Alkohol und Cannabinoiden diagnostiziert wurde (BFA-Akt, AS8 35 bis 839).

12. Mit Bescheid vom 14.05.2018, ZI. XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 33 Abs. 1 VwGVG ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 33 Abs. 4 VwGVG wurde dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.).

Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben (BFA-Akt, AS 893f).

13. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.12.2020, GZ W107 2190522-2/4E, wurde dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 33 VwGVG stattgegeben. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

14. Mit Schreiben vom 21.12.2020 gab die damalige Rechtsvertretung des Beschwerdeführers bekannt, die Bestellung eines (einstweiligen) Erwachsenenvertreters zugunsten des Beschwerdeführers beim zuständigen Bezirksgericht angeregt zu haben. Zudem wurde die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens beantragt.

15. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.01.2021, GZ W107 2190522-2/11Z, wurde Dr. XXXX , Allgemein beeidete gerichtlich zertifizierte Sachverständige für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychiatrische Kriminalprognostik gemäß § 52 Abs. 2 AVG zur nichtamtlichen Sachverständigen aus den angeführten Fachgebieten bestellt und mit der Erstattung von Befund und Gutachten betreffend den Beschwerdeführer beauftragt (BVwG; OZ 11Z). Am 09.02.2021 wurde in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine persönliche Untersuchung des Beschwerdeführers durch die Sachverständige durchgeführt.

16. Mit Schreiben vom 08.02.2021 ersuchte der ausgewiesene Rechtsvertreter des Beschwerdeführers um elektronische Akteneinsicht. Diese wurde gewährt und durchgeführt.

17. Am 18.02.2021 wurde der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Schubhaft vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen.

18. Am 19.02.2021 erging seitens des Bundesverwaltungsgerichts ein Übersetzungsauftrag bezüglich der vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente, gehalten in der Sprache Dari, an den Dolmetscher, bestellt für die Sprache Dari, XXXX .

19. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 25.02.2021, GZ XXXX , wurde RA MMag. Katrin Maringer mit sofortiger Wirksamkeit zur einstweiligen Erwachsenenvertreterin des Beschwerdeführers hinsichtlich dessen Vertretung in Verwaltungsverfahren und verwaltungsgerichtlichen Verfahren bestellt.

20. Am 01.03.2021 wurden Befund und Gutachten der Sachverständigen Dr. XXXX betreffend den Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht samt Kostennote übermittelt. Das Gutachten wurde der Erwachsenenvertretung per Adresse BG XXXX sowie den Parteien mit Schreiben vom 09.03.2021 in das Parteiengehör übermittelt.

21. Mit Eingabe vom 12.03.2021 wurden die beauftragten Übersetzungen in die deutsche Sprache vom Dolmetscher XXXX dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt. Am 16.03.2021 wurden die übersetzten Dokumente dem BFA sowie der ausgewiesenen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers in das Parteiengehör übermittelt.

22. Mit Eingabe vom 19.03.2021 wurde vom Beschwerdeführer durch seine ausgewiesene Rechtsvertretung zum psychiatrischen Sachverständigengutachten eine Stellungnahme abgegeben und die Beantwortung aufgeworfener Fragen durch die Sachverständige beantragt.

23. Am 26.03.2021 legte die Sachverständige Dr. XXXX im Hinblick auf die Stellungnahme der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 19.03.2021 ein ergänzendes Gutachten vor.

24. Am 08.06.2021 wurde dem Beschwerdeführer über seine Rechtsvertretung und Erwachsenenvertretung sowie dem BFA das ergänzende Sachverständigengutachten in das Parteiengehör übermittelt.

25. Mit Schreiben vom 08.06.2021 übermittelte der Beschwerdeführer, vertreten durch den ausgewiesenen Rechtsvertreter, eine Stellungnahme zu dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation.

26. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 10.06.2021 in Anwesenheit des – aus dem Stande der Haft vorgeführten - Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters, eines Vertreters der belangten Behörde, eines Dolmetschers für die Sprache Dari sowie eines länderkundigen Sachverständigen (im Folgenden: SV) eine öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen und zu seiner Lebenssituation in Österreich befragt wurde.

In die Verhandlung wurden zudem die aktuellste, am Tag der Verhandlung den Parteien elektronisch verfügbare Version des Länderinformationsblatts zu Afghanistan (Stand 01.04.2021) sowie die Berichte von EASO und UNHCR sowie jene, die in der gegenständlichen Beschwerde bzw. Stellungnahme vom 08.06.2021 angeführt wurden, in das Verfahren eingeführt.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung legte der Beschwerdeführer eine Tazkira in Kopie (Beilage ./1) vor. Zudem wurde die Vollmacht des ausgewiesenen Vertreters der belangten Behörde zum Verhandlungsprotokoll (VP) genommen (Beilage ./2).

Der länderkundige Sachverständige (in der Folge: SV) erstattete im Rahmen der mündlichen Verhandlung ein mündliches Gutachten zu der vorgelegten Tazkira des Beschwerdeführers und zu seinem Fluchtgrund im Lichte seines bisherigen Vorbringens. Den Parteien wurde in der Verhandlung die Gelegenheit gegeben, zum Gutachten des SV Stellung zu nehmen und Fragen an den SV zu stellen.

Dem Beschwerdeführer wurde über den Antrag seiner Rechtsvertretung eine Stellungnahmefrist zum Gutachten des länderkundigen Sachverständigen bis 17.06.2021 eingeräumt. Am 17.06.2021 wurde eine diesbezügliche Stellungnahme übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in die zugrundeliegenden Verwaltungsakten, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, in das beauftragte psychiatrische Sachverständigengutachten samt Ergänzungsgutachten, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und die gutachterlicher Ausführungen des länderkundigen Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Verhandlung, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Fluchtvorbringen:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Seine Muttersprache ist Dari. Er kann in Dari lesen und schreiben. Der Beschwerdeführer ist ledig, hat keine Kinder, ist der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und bekennt sich zum Islam sunnitischer Ausrichtung.

Der Beschwerdeführer legte bereits vor dem BFA eine Tazkira in Kopie vor (VP, Beilage ./1). Mit den gutachterlichen Ausführungen des länderkundigen Sachverständigen wird festgestellt, dass es sich bei dem vorgelegten Dokument um eine Kopie handelt; die Echtheit der Tazkira kann nicht festgestellt werden (VP 18). Festgestellt wird mit den gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen, dass bei der vom Beschwerdeführer vorgelegten Tazkira in Kopie eine Manipulation vorgenommen wurde (wörtlich, auszugsweise):

„[….] ist in dieser Tazkira eine Manipulation erkennbar, nämlich ein Strich durch die Rubrik Geburtsdatum und Alter. Durch diesen Strich ist das Jahr, in dem die Tazkira ausgestellt worden ist, verwischt, sodass man das Jahr der Ausstellung in Verbindung mit dem Alter nicht feststellen kann. Es kommt zwar ein Datum in der dritten Spalte von unten links (vom Betrachter aus) vor, nämlich „8 hamal 1386“, aber diese Angabe ersetzt das Datum, welches in der Spalte der Feststellung des Alters des Beschwerdeführers stehen sollte, nicht (dadurch wird erst das Alter des Antragstellers deutlich, nämlich wie alt genau der Antragsteller zum Zeitpunkt der Ausstellung der Tazkira ist), vielmehr ist dieses dort durch den Strich verwischt. Außerdem kommt in der Rubrik „Nationalität“ in seiner Tazkira „Tadschike“ vor, obwohl grundsätzlich in dieser einblättrigen Tazkira als Nationalität nur „Afghan“ geschrieben wird. […]“.

Die Identität des Beschwerdeführers steht somit mangels Vorlage unbedenklicher Identitätsnachweise nicht fest.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer die gutachterlichen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung betreffend die vorgelegte Tazkira verstanden und zur Kenntnis genommen hat (VP.S.20).

Der Beschwerdeführer ist in der afghanischen Provinz XXXX im Dorf XXXX geboren und dort gemeinsam mit seiner Familie (seinen Eltern, vier Brüdern – XXXX - und drei Schwestern, XXXX ) aufgewachsen; die Familie besitzt dort ein Haus samt Grundstück (BFA, AS 7); in Folge übersiedelte die Familie nach Kabul, der Beschwerdeführer hat dort sieben Jahre die Schule besucht, sei aber ein faules Kind gewesen und habe dann als Taxifahrer (VP S. 9) bzw. als Chauffeur (BFA-Akt, AS 363) gearbeitet. Zudem war er mit seinem Vater unterwegs und hat diesen als Chauffeur bei der Erledigung seiner Aufträge unterstützt (BFA-Akt, AS 363).

Der Vater des Beschwerdeführers arbeitete als selbständiger Edelsteinverkäufer in Panjir und Kabul; bekam später von der afghanischen Regierung auch Aufträge, um Straßen und Moscheen zu bauen; er ist aktuell etwa sechzig Jahre alt und arbeitet nicht mehr. Die letzte Wohnadresse des Beschwerdeführers war in Kabul, XXXX (BFA, AS 361); die Familie besitzt dort ein Haus mit Garten. Der Vater des Beschwerdeführers lebt in Kabul (VP S. 13) und wird von seinem Sohn XXXX der in Norwegen lebt, finanziell unterstützt. Die Mutter des Beschwerdeführers ist bereits verstorben (BFA, AS 361). Weiters leben zwei Onkel väterlicherseits in Kabul. Der Beschwerdeführer hat telefonischen Kontakt zu seinem Vater (VP S. 13).

Der Beschwerdeführer hat vier Brüder und drei Schwestern: Der Bruder XXXX lebt in Norwegen; ebenso der Bruder XXXX (BFA, AS 361). Aufenthaltsort und Tätigkeit der Brüder konnte nicht festgestellt werden. Der Bruder namens XXXX lebte Ende 2017 in Frankreich, wurde von dort abgeschoben, ist dann gemeinsam mit dem Beschwerdeführer aus Kabul, Afghanistan, Richtung Europa ausgereist und wohnten beide in der Flüchtlingsunterkunft in XXXX (VP S. 6). Dem Beschwerdeführer sind dessen Aufenthaltsort und Tätigkeit nicht bekannt. Zwei Schwestern leben in Kabul, die jüngste davon beim Vater in Kabul (BFA, AS 361); eine Schwester hält sich gemeinsam mit ihrem Mann aktuell in Frankreich auf (VP S. 12). Sein Bruder XXXX (Beschwerdeführer zu W107 2177603-1) reiste gemeinsam mit dem gegenständlichen Beschwerdeführer im Mai 2015 nach Europa und stellten diese gemeinsam – nach illegaler Einreise – in Österreich einen Asylantrag.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer sowohl im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 07.11.2017 als auch in der mündlichen Verhandlung am 10.06.2021 vor dem Bundesverwaltungsgericht keine Einwände gegen die Person des jeweiligen Dolmetschers erhoben hat. Die Übersetzung des für die Sprache Dari beigezogenen Dolmetschers stieß auf keine Schwierigkeiten, der Beschwerdeführer beantwortete die an ihn gestellten Fragen ohne Nachfrage und mit vollem Verständnis des Inhalts (VP S. 21). Die Verhandlungsschrift wurde u.a. vom Beschwerdeführer und seiner Rechtsvertretung unterzeichnet (VP S. 23).

Festgestellt wird mit dem Beschwerdeführer, dass dieser „…nicht immer die Wahrheit gesagt“ hat. Er hat „die Befragung nicht ernst genommen …“ und „irgendwas erzählt“, wenn er einen iranischen Dolmetscher hatte (VP S. 5).

Festgestellt wird, dass sich der Beschwerdeführer noch etwa acht Monate nach Entlassung aus der - etwa sechs bis acht Monate dauernden – in Afghanistan verbüßten Haft bei seiner Familie in Kabul, Afghanistan, aufhielt (VP S. 12).

Der Beschwerdeführer reiste 2014 (Einvernahme vor dem BFA am 07.11.2017: „Ich reiste ca. vor drei Jahren aus Afghanistan aus“) in den Iran. Es kann nicht festgestellt, wie lange er sich dort aufgehalten hat (BFA, AS 363: sieben Tage im Iran; AS 7: ein Jahr). Der Beschwerdeführer stellte am 21.05.2015 ein Asylantrag im österreichischen Bundesgebiet (BFA, AS 3).

Bei dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Konvolut an Unterlagen aus Afghanistan, gehalten in der Sprache Dari (BFA, AS 619 bis 777), handelt es sich um dieselben Unterlagen, die der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX (Beschwerdeführer zu W107 2177603-1) im Zuge seines Beschwerdeverfahrens vorgelegt hat. Der Beschwerdeführer zu W107 2177603-1 befindet sich seit 2015 illegal in Österreich; seine Beschwerde gegen den abweisenden Bescheid des BFA vom 13.10.2017 wurde mit Erkenntnis vom 25.06.2021, W107 2177603-1/19E, als unbegründet abgewiesen; die Revision wurde nicht zugelassen.

Festgestellt wird, dass bei dem vom Beschwerdeführer als Fluchtgrund angeführten Verkehrsunfall niemand getötet wurde (BFA, AS 371; VP S. 13).

Zur Verfolgung wegen eines Verkehrsunfalls in Afghanistan wird mit dem länderkundigen Sachverständigen Folgendes festgestellt (wörtlich, auszugsweise):

„Grundsätzlich wird bei den Unfällen in Afghanistan eine zivile Lösung angestrebt. Die beiden Parteien und ihre Familien bzw. die Dorfältesten setzen sich zusammen und versuchen, zu einer Einigung zu kommen. Wer der Schuldige am Unfall ist, hat die Behandlungskosten und weitere Schäden, die dem Opfer verursacht wurden, zu übernehmen. Aber ich weise darauf hin, dass der BF selber nicht sicher ist, ob er schuld ist oder der Motorradfahrer oder auch beide. Der Staat versucht, sich in diese Angelegenheit nicht einzumischen, wie der BF selber auch heute angegeben hat, vielmehr gab er an, dass die Behörde ihm empfohlen hat, sie sollen miteinander auskommen. Trotzdem kann es vorkommen, dass die Polizei den Verursacher des Unfalls kurzfristig festhält und dann die Staatsanwaltschaft gewisse Strafen anschließt. Nach Verbüßung dieser Strafe wird der Verursacher freigelassen, ohne dass er weitere Nachteile zu befürchten hat.[…]“.

Zur Verfolgung in Afghanistan aus Gründen der Blutrache aufgrund eines Verkehrsunfalls wird mit dem länderkundigen Sachverständigen Folgendes festgestellt (wörtlich, auszugsweise):

„Der BF und seine Familie ist nach dem Unfall mit dem Motorradfahrer in Kontakt und in Versöhnungsverhandlung getreten. Offensichtlich ist der BF mit dem Motorradfahrer nicht mehr verfeindet, weil er einerseits eine weitschichtige Verwandtschaft mit dem Opfer hat. Andererseits war der BF nach dem Unfall 8 Monate noch in Afghanistan. Wenn bei einem Unfall oder bei einem Streit eine Feindschaft entsteht, dann ist 8 Monate lang genug, dass das Opfer und seine Familie sich an dem Täter rächen können. Dies ist nicht geschehen, obwohl das „Opfer“, wie der BF gesagt hat, mehrere Brüder hat.

Ich möchte grundsätzlich darauf hinweisen, dass in Afghanistan ständig solche Streitigkeiten, die bei Verkehrsunfällen entstehen, durch Vermittlung von Behörden oder der Bevölkerung, aber auch durch die betroffenen Seiten selbst, bald gelöst werden, wenn dabei niemand getötet worden ist. […]“.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund eines Verkehrsunfalls, an dem er beteiligt war, von der Familie des Unfallopfers verfolgt wird. Es kann nicht festgestellt werden, dass aufgrund des Verkehrsunfalls zwischen der Familie des Beschwerdeführers und der Familie des Unfallopfers eine aufrechte Blutfehde oder Todesfeindschaft besteht.

Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner gegen ihn gerichteten Bedrohung oder Verfolgung, sei es durch staatliche Organe oder durch Private, aufgrund seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung (oder aus anderen Gründen) ausgesetzt und hat eine solche im Falle seiner Rückkehr auch nicht zu erwarten.

1.2. Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, insbesondere zu seiner Einvernahmefähigkeit, seiner Wahrnehmungsfähigkeit und seinem Erinnerungsvermögen:

Mit Beschluss des BG XXXX vom 25.02.2021, GZ XXXX , wurde RA MMag. Katrin Maringer zur einstweiligen Erwachsenenvertreterin des Beschwerdeführers bestellt. Begründet wurde die Bestellung mit dem Vorliegen einer psychischen Beeinträchtigung (Wertigkeit nach 3 268 ABGB) des Beschwerdeführers (Argument: dieser scheint nicht in der Lage zu sein, dem Asyl- und Schubhaftverfahren ausreichend zu folgen bzw. sich dabei ohne die Gefahr eines Nachteils zu vertreten), (OZ 29).

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.01.2021, GZ W107 2190522-2/11Z, wurde Dr. XXXX , Allgemein beeidete gerichtlich zertifizierte Sachverständige für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychiatrische Kriminalprognostik zur nichtamtlichen Sachverständigen aus den angeführten Fachgebieten bestellt und mit der Erstattung von Befund und Gutachten zu den gestellten Fragen betreffend den Beschwerdeführer beauftragt. Am 09.02.2021 wurde in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine persönliche Untersuchung des Beschwerdeführers durch die Sachverständige durchgeführt.

Festgestellt wird mit dem Sachverständigengutachten zur Verdachtsdiagnose gemäß psychiatrischem Befund des psychosozialen Zentrums ESRA vom 27.03.2018 wie folgt (wörtlich, auszugsweise):

„Die angeführten Diagnosen sind nicht ausreichend begründet. Die Verdachtsdiagnose PTBS entspricht nicht den diagnostischen Kriterien. Die Pathogenese einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung lässt sich in traumatischen Erlebnissen nicht begründen […]. Die gestellten Diagnosen entsprechen weder den Klassifikationsvorgaben von ICD 10 noch von DSM V […]“.

Der „Psychopathologische Status“ des Beschwerdeführers wird mit dem Sachverständigengutachten wie folgt festgestellt (wörtlich, auszugsweise):

„Herr XXXX ist zum Zeitpunkt der Exploration wach, klar, zu allen Qualitäten orientiert und versteht die Aufgaben der SV und den Grund der gutachterlichen Untersuchung.

Er gibt an, ständig unter Stress und Anspannung zu stehen. Während der gesamten Exploration kann der Untersuchte jedoch ruhig sitzen, Zeichen einer Anspannung oder psychomotorischen Unruhe finden sich nicht.

Auf Befragen gibt er an, dass er sich in einem polizeilichen Anhaltezentrum befinde. Den Grund der Anhaltung wisse er nicht, er fühle sich ungerecht behandelt, da er an den ihm vorgeworfenen Taten nicht schuldig sei. Er habe der Polizei bloß keine Dokumente vorweisen können und habe sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort befunden.

Er erlebe sich als Opfer widriger bzw. unglücklicher Umstände und weise äußeren Einflüssen und Faktoren die Verantwortung für eigenes Verhalten sowie die darauffolgenden Konsequenzen zu.

Er neigt in Bezug auf seine Straftaten eine bagatellisierende Haltung einzunehmen, zeigt sich nur eingeschränkt zu Analyse seines strafbaren Handelns bereit und „versteckt“ sich hinter Stress, den er seit der Kindheit verspüre.

Im Duktus zeigt er sich selbstbewusst, ist bei Beantwortung der für ihn unangenehmen oder schwierigen Fragen (ua. Gründe für seine Gefängnisstrafe in Afghanistan) weitschweifig, perseverierend und vorbeiredend.

Die deutsche Sprache beherrscht er nur rudimentär.

Die klinische Einschätzung spricht für eine limitierte intellektuelle Flexibilität.

Seitens des Auffassungsvermögens, der kognitiven und mnestischen Funktionen ergeben sich keine Einbußen.

Der Untersuchte weist keine inhaltlichen Denkstörungen auf, insbesondere kein überwertiges Beschwerdenerleben bei aktiver Herangehensweise an die mit der Flucht zusammenhängenden Ereignisse. Er berichtet über seine Flucht detailreich, sachlich und abstandsvoll, ohne ins Nacherleben zu geraten.

Es findet sich keine wahnhafte Realitätsverarbeitung, kein Hinweis auf Sinnestäuschungen oder Aufhebung der Ich-Grenzen.

Weder auf der Beschwerden- noch auf der Befundebene finden sich Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Affektiv zeigt sich der Untersuchte eingeschränkt und verflacht mit geminderter Schwingungsfähigkeit, die Stimmung ist als indifferent zu bezeichnen.

Zum Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung ergeben sich keine Hinweise auf eine suizidale Einengung [….]“.

Festgestellt wird, dass sich - in Zusammenschau der Längsschnitterhebungen und in der Querschnittsdiagnostik - bei dem Beschwerdeführer psychische Auffälligkeiten erheben, welche auf eine kombinierte Persönlichkeitsstörung – ICD 10 61 mit emotional instabilen und dissozialen Anteilen hindeuten. Die kombinierte Persönlichkeitsstörung kann bei dem Beschwerdeführer nur als Verdachtsdiagnose ausgesprochen werden, da objektive Hinweise auf eine Verhaltensstörung in Kindheit und Pubertät des Beschwerdeführers, als Grundlage für die Klassifizierung nach ICD 10 und DSM V, fehlen.

Mit den gutachterlichen Ausführungen der Sachverständigen steht fest, dass Persönlichkeitsstörungen nur durch einen langjährigen psychotherapeutischen Prozess, unter der Voraussetzung der Mitarbeit der Betroffenen, behandelt werden können. Medikamentös lassen sich Persönlichkeitsstörungen nicht behandeln. Die Störung hat höchstwahrscheinlich bereits im Herkunftsland bestanden. Der Beschwerdeführer ist in der Lage das Erlebte wiederzugeben. Bei dem Beschwerdeführer besteht keine beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit. Er ist imstande das Erlebte ungestört wahrzunehmen. Der Beschwerdeführer weist keine Bewusstseinsstörung und keine sich aus einer psychotischen Störung abgeleitete gestörte Realitätsverarbeitung auf. Der Beschwerdeführer leidet an keiner psychiatrischen Erkrankung. Er kann an einer Beschwerdeverhandlung teilnehmen und uneingeschränkt unter Zuziehung von Dolmetscher einer Einvernahme folgen. der Beschwerdeführer leidet an keiner psychischen Erkrankung, welche ihn verunmöglicht hätte die Bedeutung und die Tragweite des Verfahrens zu erfassen. Der Beschwerdeführer kann alle Angelegenheiten seines Lebens selbständig, ohne Nachteil für sich selbst, erledigen. Der Beschwerdeführer leidet an keiner psychischen Erkrankung und an keiner geistigen Behinderung, die ich daran gehindert hätte einer Beschäftigung nachzugehen. Die erhobene psychische Störung, die keine psychiatrische Erkrankung im engeren Sinne ist, begleitet den Beschwerdeführer lebenslang, dh. er ist mit den gleichen Charakterzügen nach Österreich eingereist. Es ist nicht anzunehmen, dass seine allfällige Rückkehr nach Afghanistan seine psychischen Auffälligkeiten verstärken würde.

Die gutachterliche Diagnose des Verdachts auf kombinierte Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen und dissozialen Anteilen ICD-10 F 61 ergibt sich, wie mit dem ergänzenden Gutachten der Sachverständigen ausgeführt wird, aus der Anamnese des Beschwerdeführers wie zB Impulsdurchbrüchigkeit ohne Berücksichtigung der Konsequenzen; Streitsucht; Konfliktbereitschaft mit Wutausbrüchen; launische Stimmung; deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung; Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen; geringe Frustrationstoleranz; niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges und delinquentes Verhalten; fehlendes Schuldbewusstsein und Unfähigkeit aus eigenen negativen Erfahrungen zu lernen; sind eindeutig, in Ermangelung von Hinweisen auf andere Erkrankungen, für eine emotional instabile und dissoziale Störung zeichnend.

Andere, als der Persönlichkeitsstörung zuzuschreibende Ursachen für das Verhalten des BF iS einer psychischen Störung aufgrund von Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns (neurologischen Erkrankung) oder einer körperlichen Krankheit lassen sich gemäß den gutachterlichen Ausführungen nicht finden. Die Persönlichkeitsbildung (Ausbildung des Charakters), und ggf. die Ausbildung einer Persönlichkeitsstörung, ist bis zu der Pubertät abgeschlossen. Eine Verhaltensstörung in der Kindheit und Pubertät des Beschwerdeführers, als Hinweis für eine beginnende Charakternormabweichung, kann nicht objektiviert werden.

Den Kriterien der diagnostischen Klassifikationsmanuals folgend kann beim Beschwerdeführer die kombinierte Persönlichkeitsstörung, trotz psychopathologischen Vollbildes, nur als Verdachtsdiagnose ausgesprochen worden. Diese Störung beginnt in der Kindheit und Pubertät, die Charakterzüge sind bis zum 14/15 a ausgebildet, was das Einsetzen der Störung im Herkunftsland des Beschwerdeführers plausibel macht.

Die Begutachtung des Beschwerdeführers am 20.03.2018 (Befund vom 27.03.2018) hat keine Symptome ergeben, welche das Vorliegen einer rezidivierenden Depression begründen.

Mit dem Sachverständigengutachten wird festgestellt, dass sich aus den Protokollen der Erstanhörung, der Einvernahme zum Asylverfahren BFA, der Strafverfahren und aus den verhängten Urteilen und Protokollen der Amtsärzte und der FÄ f. Psychiatrie bei der Anhaltung in der Schubhaft kein Hinweis darauf ergeben, dass der Beschwerdeführer den Ausführungen der Behörden und Gerichte nicht folgen konnte, nicht vernehmungsfähig oder verhandlungsfähig war.

Es besteht mit dem Sachverständigengutachten kein Grund zur Annahme, dass der Beschwerdeführer aufgrund einer psychiatrisch relevanten Störung nicht im Stande ist, die Angelegenheiten des Alltags zu bewältigen. Der Zustand besteht zumindest seit seiner Einreise nach Österreich.

Die im psychopathologischen Status festgestellte limitierte intellektuelle Flexibilität ist - mit dem Sachverständigengutachten - für Persönlichkeitsstörungen eigen und bedeutet keine Intelligenzminderung im Sinne einer Komorbidität.

Gemäß Befund und Gutachten der beauftragten Sachverständigen vom 24.02.2021 steht fest, dass beim Beschwerdeführer weder eine posttraumatische Belastungsstörung gegeben ist noch eine rezidivierende Depression vorliegt (OZ 24 und OZ35).

1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Einreise und seiner Asylantragstellung im Mai 2015 durchgehend im Bundesgebiet auf. Er besuchte während seines Aufenthaltes in Österreich keine Deutschkurse und legte keine Zertifikate über bestandene Deutschprüfungen vor. Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer wenig lernte und lieber mit seinen Freunden zum Prater spazieren ging. Der Beschwerdeführer spricht kaum Deutsch (VP S. 16).

Der Beschwerdeführer ist in Österreich mehrfach strafrechtlich bescholten und auch zu unbedingten Haftstrafen verurteilt worden (s. Strafregisterauszug vom 10.06.2021):

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15.11.2017, ZI. XXXX rechtskräftig seit 15.11.2017, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 15 StGB, § 269 Abs. 1 dritter Fall StGB, wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach § 15 StGB, § 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB, wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB sowie wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 15 StGB, § 83 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, wobei die gesamte Freiheitsstrafe auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 06.02.2018, ZI. XXXX , rechtskräftig seit 06.02.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten verurteilt, wobei ein Teil der Freiheitsstrafe im Ausmaß von sechs Monaten auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Der bedingt nachgesehene Teil der mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15.11.2017, ZI. XXXX wurde widerrufen.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 13.02.2018, ZI. XXXX , rechtskräftig seit 13.02.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB verurteilt, wobei unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15.11.2017, ZI. 152 XXXX und das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 06.02.2018, ZI. XXXX keine Zusatzstrafe nach §§ 31, 40 StGB verhängt wurde.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 22.05.2018, ZI. XXXX , rechtskräftig seit 20.09.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 15 StGB, § 269 Abs. 1 StGB und wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83, 84 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt.

Mit Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 30.12.2019, ZI. XXXX , rechtskräftig seit 03.01.2020, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten verurteilt.

Der Beschwerdeführer bezieht seit 17.04.2018 keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ging während seines Aufenthalts in Österreich zu keinem Zeitpunkt einer Erwerbstätigkeit nach. Während seiner Haftaufenthalte konnte der Beschwerdeführer sieben oder acht Monate lang Berufserfahrung in der Werkstatt der Haftanstalt sammeln. Er war zu keinem Zeitpunkt ehrenamtlich tätig und ist nicht Mitglied in einem Verein.

Festgestellt wird, dass gegen den Beschwerdeführer am 14.02.2016 ein Straferkenntnis mit einem zu zahlenden Gesamtbetrag in Höhe von EUR XXXX verhängt wurde. Dem Straferkenntnis liegt zugrunde, dass der Beschwerdeführer am 14.02.2016 die öffentliche Ordnung ungerechtfertigt gestört hat, indem er die Gäste einer Ballveranstaltung belästigte, sich absolut aggressiv gegenüber den Sicherheitsmitarbeitern verhielt, gegen eine Wegweisung verstieß, den öffentlichen Anstand verletzte und sich erneut aggressiv gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht verhielt.

In Österreich ist der jüngere Bruder des Beschwerdeführers, XXXX (Beschwerdeführer zu W107 2177603-1) aufhältig. Seine Beschwerde gegen den abweisenden Bescheid des BFA vom 13.10.2017 wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.06.2021, W107 2177603-1/19E, als unbegründet abgewiesen. Die Revision wurde für nicht zulässig erklärt. Der Beschwerdeführer lebt mit seinem Bruder in keinem gemeinsamen Haushalt und hat auch nur sporadisch telefonischen Kontakt zu diesem (VP S. 15).

Ansonsten leben keine Verwandten oder Familienangehörigen des Beschwerdeführers in Österreich. Dass sein Bruder XXXX aktuell in Österreich aufhältig ist, konnte nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos und führt hier auch keine Lebensgemeinschaft. Besonders verfestigte Sozialkontakte sind ebenfalls nicht hervorgekommen.

Der Beschwerdeführer leidet an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung – ICD 10 61 mit emotional instabilen dissozialen Anteilen. Beim Beschwerdeführer liegt weder eine posttraumatische Belastungsstörung noch eine rezidivierende Depression vor (OZ 24 und OZ35). Der mittels eingeholtem psychiatrischem Sachverständigengutachten diagnostizierte Gesundheitszustand des Beschwerdeführers steht einer Rückkehr in das Herkunftsland nicht entgegen (s. oben Punkt 1.2.; BVwG-Akt, OZ 24 und OZ 35). Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und arbeitswillig (VP S.11).

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Bezogen auf die Situation des Beschwerdeführers sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonimische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maß- nahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben di

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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