TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/13 W242 2235971-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.07.2021
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Entscheidungsdatum

13.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W242 2235971-1/15E

W242 2235974-1/15E

W242 2235973-1/13E

W242 2235969-1/11E

W242 2235975-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HEUMAYR als Einzelrichter über die Beschwerden des 1.) XXXX , geb. XXXX , der 2.) XXXX , geb. XXXX , des 3.) XXXX , geb. XXXX , des 4.) XXXX , geb. XXXX und der XXXX , geb. XXXX , alle Staatsangehörigkeit Aserbaidschan, der minderjährige Drittbeschwerdeführer, der minderjährige Viertbeschwerdeführer und die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin vertreten durch den Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin, alle vertreten durch die XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2020, 1.) Zl. XXXX , 2.) Zl. XXXX , 3.) Zl. XXXX , 4.) Zl. XXXX und 5.) Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.05.2021, zu Recht:

A)       Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2), beide Staatsangehörige Aserbaidschans, sind verheiratet und die Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers (im Folgenden: BF3), des minderjährigen Viertbeschwerdeführers (im Folgenden: BF4) und der minderjährigen Fünftbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF5).

Die Beschwerdeführer reisten im September 2019 von Aserbaidschan mit dem Flugzeug nach Ungarn und anschließend mit dem Bus weiter nach Deutschland, wo sie am 23.09.2019 ankamen. Anschließend begaben sich die Beschwerdeführer nach Österreich und stellten am XXXX 2019 Anträge auf internationalen Schutz.

Am selben Tag fand unter Beiziehung eines Dolmetschers für Türkisch die niederschriftliche Erstbefragung des BF1, der BF2 und des BF3 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.

Dabei gab der BF1 zu seinen Fluchtgründen an, dass er sich in Aserbaidschan gegen das Regime gewandt und öffentlich demonstriert habe, weshalb er am XXXX 2017 festgenommen und drei Monate in Haft angehalten worden sei. Am XXXX 2018 sei er erneut für zwölf Tage verhaftet und zusammengeschlagen worden. Am XXXX 2019 sei ihm vom Gericht mitgeteilt worden, dass er sich für seine Tätigkeiten verantworten müsse. Er habe gewusst, dass er für lange Zeit verurteilt werden würde und womöglich im Gefängnis sterben werde, weshalb er mit seiner Familie geflüchtet sei.

Die BF2 wiederholte im Wesentlichen die vom BF1 angegebenen Fluchtgründe und ergänzte, dass die Polizei bei ihnen zu Hause gewesen und ihr gegenüber handgreiflich geworden sei. Außerdem sei es zu einem Vorfall in der Schule ihrer Kinder gekommen, bei dem diese von fremden Männern abgeholt werden sollten. Sie habe die Kinder daraufhin aus der Schule genommen und einige Zeit nicht mehr dorthin gehen lassen. Sie vermute, dass es sich bei den Männern um Leute der Regierung gehandelt habe, die ihnen hätten schaden wollen.

Der BF3 führte zu den Fluchtgründen aus, dass er die Gründe für die Ausreise aus dem Herkunftsstaat nicht kenne. Der BF1 habe lediglich vor ein oder zwei Monaten gesagt, dass sie das Land verlassen müssten. Ob der BF1 im Gefängnis gewesen sei, wisse er nicht.

Eine im Zuge der Erstbefragung durchgeführte EURODAC-Abfrage ergab, dass die Beschwerdeführer zuvor jeweils am XXXX 2018 und XXXX 2018 in Deutschland (EURODAC-Treffermeldungen der Kategorie „1“) Anträge auf internationalen Schutz gestellt hatten.

Am XXXX 2020 wurde der BF1 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Russisch vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass seine Probleme mit den Demonstrationen am XXXX 2019 begonnen hätten. Er sei vom Bezirksgericht zu 15 Tagen Freiheitsstrafe verurteilt und währenddessen geschlagen und mit Strom gefoltert worden, bis er ohnmächtig geworden sei und habe anschließend fünf Tage im Spital behandelt werden müssen. Als er sich an die Ombudsfrau gewandt und anschließend bei der Staatsanwaltschaft wegen der Folter ausgesagt habe, habe die Polizei von ihm verlangt, die Aussage zurückzuziehen und ihn mit dem Tod bedroht. Unbekannte hätten sich in der Schule seiner Kinder nach den Schulterminen erkundigt, sodass sie diese immer zur Schule begleitet hätten. Ein anderes Mal sei er mit zwei anderen Parteimitgliedern von der Polizei verhaftet und immer wieder geschlagen worden bis er ohnmächtig geworden sei und habe anschließend zwölf Tage im Spital und danach zu Hause behandelt werden müssen. Als er mit seinen Kindern in Moskau gewesen sei, seien vier Polizisten bei ihm eingebrochen, um nach ihm zu suchen und ihn festzunehmen. Sie hätten seine Frau vor den Augen seiner achtjährigen Tochter geschlagen, weshalb sie zwei Tage im Spital gewesen sei. Als er zurückgekommen sei, sei er am Flughafen verhaftet worden, habe einen Tag in Schubhaft und anschließend 20 Tage im Gefängnis verbracht. Die Freunde seines Bruders hätten 25 000 Dollar Lösegeld organisiert, um ihn frei zu bekommen. Der Staatsanwalt, der das Lösegeld übernommen habe, habe ihm empfohlen, das Land zu verlassen. Anschließend sei er untergetaucht um die Ausreise zu organisieren.

Am XXXX 2020 fand in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Aserbaidschanisch vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Einvernahme der BF2 und des BF3 statt.

Die BF2 führte zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen aus, dass ihr Ehemann in Aserbaidschan Probleme mit dem Staat und der Polizei habe, weil er die Wahrheit gesagt und bei Meetings teilgenommen habe. An einem Feiertag, der „res publica“ genannt werde, sei er geschlagen worden. Er sei zwölf Tage in Behandlung gewesen. Als sie mit ihrer Tochter alleine zu Hause gewesen sei, seien Beamte in der Wohnung gewesen und hätten auch sie geschlagen.

Der BF3 gab zu seinen Fluchtgründen an, dass es für sie und seinen Vater gefährlich geworden sei. Er selbst sei nicht bedroht worden, seine Mutter und sein Vater allerdings schon. Sein Vater sei von Polizeibeamten mit dem Tod bedroht worden und dreimal inhaftiert gewesen, er wisse allerdings nicht, was der Grund dafür gewesen sei. Seine Mutter habe überall auf den Händen und Knien Wunden und Prellungen von den Schlägen gehabt. In der Schule habe er keine Probleme gehabt, seine Lehrerin habe jedoch erzählt, dass einmal zwei Männer dort aufgetaucht seien und die Stundenpläne von ihm und seinem Bruder mitgenommen hätten.

Mit den angefochtenen Bescheiden vom XXXX 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Aserbaidschan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen sie wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Aserbaidschan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dem BF1 und der BF2 sei es nicht gelungen, ihre Fluchtgründe glaubhaft darzulegen. Für den BF3, den BF4 und die BF5 seien keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht worden. Die Beschwerdeführer hätten bis zu ihrer Ausreise durchgehend in ihrem Herkunftsstaat gelebt. Der BF1 habe zwei abgeschlossene Studien. Der BF1 und die BF2 seien gesund und arbeitsfähig und hätten in Aserbaidschan Berufserfahrung gesammelt. Zudem lebe der Bruder des BF1 in Aserbaidschan, auf dessen Unterstützung die Beschwerdeführer zurückgreifen könnten. Insgesamt sei dem BF1 und der BF2 daher zuzutrauen, dass sie im Falle der Rückkehr eine Existenzgrundlage für sich und ihre Kinder schaffen könnten und nicht der Gefahr der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK ausgesetzt wären. Die Beschwerdeführer seien erst im September 2019 nach Österreich gereist und hätten ihren Aufenthalt lediglich mit der Stellung eines ungerechtfertigten Asylantrags begründet. Demgegenüber werde ein Eingriff in ihre privaten Interessen schon dadurch relativiert, dass sie ihr gesamtes bisheriges Leben in Aserbaidschan verbracht hätten, weshalb das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiege und die Rückkehrentscheidung zulässig sei.

Am XXXX 2020 übermittelte die BF2 ein Zeugnis über die bestandene Integrationsprüfung auf Sprachniveau A1.

Mit Schreiben vom XXXX 2021 gab das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführern Gelegenheit, binnen zwei Wochen die Einvernahme von Zeugen unter Angabe einer ladungsfähigen Adresse und des genau bezeichneten Beweisthemas zu beantragen sowie die als Beweismittel beabsichtigten Urkunden und Dokumente im Original sowie in Kopie vorzulegen, wobei darauf hingewiesen wurde, dass fremdsprachigen Dokumenten eine beglaubigte Übersetzung in die deutsche Sprache anzuschließen ist.

Am XXXX 2021 übermittelte der BF1 ein Zeugnis über die bestandene ÖIF-Deutschprüfung auf Sprachniveau A1.

Mit Schriftsatz vom XXXX 2021, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am XXXX 2021, übermittelten die Beschwerdeführer diverse Integrationsunterlagen, gaben ihren nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertreter bekannt, beantragten (näher bezeichnete) Ermittlungen im Herkunftsstaat zum Beweis dafür, dass sie in Aserbaidschan aufgrund oppositioneller Tätigkeit und Teilnahme an Demonstrationen für Menschenrechte willkürlich inhaftiert, gefoltert und verletzt worden seien sowie die Einvernahme zweier Ärzte aus Baku zum Beweis dafür, dass die in den von den Beschwerdeführern vorgelegten Unterlagen dokumentierten Verletzungen aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen und willkürlicher Staatsgewalt erfolgt seien und ergänzten ihre bisherigen Ausführungen zu den persönlichen Verhältnissen sowie dahingehend, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die angefochtenen Bescheide judikaturwidrig begründet habe.

Am 12.05.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Aserbaidschanisch sowie des rechtsfreundlichen Vertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der BF1 und die BF2 ausführliche zu ihrer Identität und Herkunft sowie ihren persönlichen Lebensumständen in Aserbaidschan, ihren Fluchtgründen und ihrer Integration in Österreich befragt wurden. Nach Rücksprache mit ihrem rechtsfreundlichen Vertreter und Belehrung durch den erkennenden Richter verzichteten der BF1 und die BF2 ausdrücklich auf die Einvernahme der minderjährigen Beschwerdeführer.

Am XXXX 2021 beantragten die Beschwerdeführer die Übermittlung von Kopien der dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Original vorgelegten Unterlagen, die das Bundesverwaltungsgericht am XXXX 2021 übermittelte.

Mit Schriftsatz vom XXXX 2021 beantragten die Beschwerdeführer die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und in eventu die Neudurchführung der mündlichen Verhandlung und brachten dazu vor, dass der in der Verhandlung beigezogene Dolmetscher zugesagt habe, an einer für XXXX 2021 geplanten Besprechung mit ihrem rechtsfreundlichen Vertreter teilzunehmen und dazu an die bekanntgegebene E-Mail-Adresse eine Einladung zur Zoom-Konferenz erhalten habe. Die Einladung sei jedoch von der offiziellen E-Mail-Adresse der Botschaft der Republik Aserbaidschan angenommen worden. Da der Dolmetscher offensichtlich für jenen Staat arbeite, vor dem die Beschwerdeführer Schutz beantragt hätten und über detaillierte Informationen ihres Fluchtvorbringens verfüge, bestünden erhebliche Bedenken an der Unbefangenheit des vermeintlich unabhängigen Dolmetschers.

Am XXXX 2021 übermittelten die Beschwerdeführer Unterlagen zu den Beschäftigungs- und Vermögensverhältnissen des BF1 und der BF2 im Herkunftsstaat.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer führen die im Spruch genannten Namen und Geburtsdaten und sind Staatsangehörige der Republik Aserbaidschan. Ihre Identität steht fest. Die Beschwerdeführer gehören der Volksgruppe der Aserbaidschaner an. Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Aserbaidschanisch. Der BF1 und die BF2 sind verheiratet. Der BF3, der BF4 und die BF5 sind ihre gemeinsamen minderjährigen Kinder.

Der BF1 schloss in Aserbaidschan zwei Studien ab, war bis zumindest Juni 2019 durchgehend berufstätig. Die BF2 absolvierte eine Ausbildung zur Konditorin, arbeitete vor ihre Ehe drei Jahre bei einem Mineralölunternehmen und nahm anschließend gelegentlich private Backaufträge an. Die Beschwerdeführer lebten in Baku gemeinsam in einer 88 m2 großen Eigentumswohnung die nach wie vor im Eigentum des BF1 steht. Die BF2 ist zur Hälfte Eigentümerin eines Landhauses samt Grundstück im Ausmaß von insgesamt 1.200 m2, das vorher im Eigentum ihrer Eltern stand.

Der BF3, der BF4 und die BF5 sind in Aserbaidschan geboren und besuchten dort bis zu ihrer Ausreise die Schule.

Die Beschwerdeführer sind in Baku in einer Wohnung, die den Eltern des BF1 gehörte und die sich in der Nähe ihrer eigenen Wohnung befindet, behördlich gemeldet. Derzeit lebt der Bruder des BF1, zu dem die Beschwerdeführer regelmäßig Kontakt haben, in der Wohnung. Darüber hinaus hat der BF1 mehrere Cousins und Cousinen in Aserbaidschan. Die BF2 hat regelmäßig Kontakt zu ihren Cousinen in Aserbaidschan.

Die Beschwerdeführer sind gesund.

Zum (Privat-)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer reisten im September 2019 mit einem von der ungarischen Botschaft in Baku ausgestellten Schengen-Visum („C-Visum“) über Ungarn und Deutschland nach Österreich und stellten am XXXX 2019 Anträge auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführer leben gemeinsam in einer Unterkunft der Caritas und beziehen Leistungen aus der Grundversorgung.

Der BF1 und die BF2 sind in der Lage, eine kurze Unterhaltung auf Deutsch zu führen. Sie besuchten mehrere Deutschkurse, bestanden die ÖIF-Integrationsprüfung auf Sprachniveau A1 und verrichten gemeinnützige Tätigkeiten.

Der BF3, spricht sehr gut Deutsch, schloss am XXXX 2020 die ÖIF-Integrationsprüfung auf Sprachniveau A2 positiv ab, besuchte in den beiden vergangenen Schuljahren die Polytechnische Schule und wurde zuletzt in allen Fächern positiv beurteilt. Für das Schuljahr 2021/2022 hat er eine Zusage einer Handelsschule. Der BF4 besuchte im zweiten Semester des Schuljahres 2019/2020 die dritte Klasse sowie im vergangenen Schuljahr die vierte Klasse einer Mittelschule und nahm von XXXX 2020 bis XXXX 2020 an der Sommerschule teil. Die BF5 ging im Schuljahr 2019/2020 in die erste Klasse sowie im vergangenen Schuljahr in die zweite Klasse Volksschule und nahm von XXXX 2020 bis XXXX 2020 an der Sommerschule teil.

Die Beschwerdeführer haben regelmäßig Kontakt zu ihren Nachbarn. Sie haben in Österreich keine Familienangehörigen.

Der BF1, die BF2, der BF3 und der BF4 sind in Österreich unbescholten, die BF5 ist nicht strafmündig.

Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Fest steht, dass die Beschwerdeführer keiner konkreten und individuellen Gefahr ausgesetzt sind, aufgrund einer (unterstellten) politischen Gesinnung des BF1 in Aserbaidschan mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.

Auch sonst sind die Beschwerdeführer keiner Gefahr ausgesetzt, aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Aserbaidschan mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.

Weiters steht fest, dass den Beschwerdeführern in Aserbaidschan weder die Todesstrafe noch die Androhung oder Anwendung von Folter droht und sie ihre grundlegenden Lebensbedürfnisse wie Nahrung Kleidung und Unterkunft befriedigen können, ohne in eine ausweglose oder existenzbedrohende Notlage zu geraten.

Zur maßgeblichen Situation in Aserbaidschan:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 10.12.2020, wiedergegeben:

1.       Politische Lage

Aserbaidschan ist eine Präsidialrepublik. Staatspräsident Ilham Aliyev, der 2003 seinem Vater Heydar Aliyev nachgefolgt ist, dominiert das politische Leben. Die Nationalversammlung (Milli Mejlis) wirkt an der Gesetzgebung mit, spielt aber eine deutlich nachgeordnete Rolle (AA 17.11.2020). Die Verfassung räumt dem Präsidenten weitreichende Vollmachten ein. Er ernennt und entlässt mit Zustimmung der Nationalversammlung den Ministerpräsidenten; ohne Beteiligung der Nationalversammlung ernennt und entlässt er die Minister sowie die Gouverneure und Vize-Gouverneure der regionalen Verwaltungsbezirke (AA 17.11.2020). Das Parlament und die kommunalen Vertreter, obgleich vom Volk nominell gewählt, bleiben machtlose Teilnehmer im politischen Entscheidungsprozess. Dennoch schränken die Eigeninteressen der staatlichen Elite, der Oligarchen, der Regierungsminister und anderer hochrangiger Amtsträger die Entscheidungsfindung des Präsidenten bis zu einem gewissen Grad ein. Parlamentarier sind oft Schützlinge und Verwandte von Oligarchen (BTI 2020).

Die Präsidentschaftswahlen am 11.04.2018 sowie die vorgezogenen Parlamentswahlen am 09.02.2020 entsprachen nach Ansicht der internationalen Wahlbeobachter der ODIHR-Mission und des Auswärtigen Amts nicht den international anerkannten Standards. Während die Regierung regelmäßig auf administrative Ressourcen und die überwiegend staatlich kontrollierten traditionellen und zunehmend auch elektronischen Medien zurückgreift, werden die Versuche der Opposition, sich öffentlich zu versammeln oder sonst öffentlich wahrnehmbar zu äußern, deutlich und systematisch erschwert. Die Verfassung enthält den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 7 Abs. 3), wonach die Nationalversammlung („Milli Mejlis“) die gesetzgebende, der Staatspräsident die vollziehende und die Gerichte die rechtsprechende Gewalt ausüben. Das Einkammerparlament besteht aus 125 nach absolutem Mehrheitswahlrecht gewählten Abgeordneten. Das legislative Vorschlagsrecht haben der Präsident, das Oberste Gericht, das Parlament der autonomen Republik Nachitschewan und der Generalstaatsanwalt. In der Praxis gehen die von der Nationalversammlung verabschiedeten Gesetze oft auf Initiativen des Präsidialamtes zurück. Parteien sind in Aserbaidschan nur rudimentär ausgeprägt. Die Rechtsprechung wird durch den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, Berufungsgerichte, erstinstanzliche Bezirksgerichte und Gerichte mit Sonderzuständigkeiten ausgeübt (AA 17.11.2020).

Bei der Parlamentswahl im Februar 2020 hat die bisherige Regierungspartei nach offiziellen Angaben die absolute Mehrheit geholt. Die Partei des seit 2003 mit harter Hand regierenden Präsidenten Ilham Alijew hat sich bei der vorgezogenen Wahl 65 der 125 Sitze im Parlament gesichert (DW 10.2.2020).

Internationale Wahlbeobachtungsmissionen stellten ernsthafte Unregelmäßigkeiten in allen Phasen des Wahlprozesses fest (vgl. DW 10.2.2020) und kritisierten den Mangel an echtem demokratischen Wettbewerb. Aserbaidschan ist Mitglied des Europarats und Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention. Jedoch unterliegen Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit erheblichen Einschränkungen. Die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen ist deutlich erschwert (AA 26.2.2020a).

[…]

2.       Sicherheitslage

Die Kriminalitätsrate in Aserbaidschan ist niedrig. Der bewaffnete Konflikt um die Region Bergkarabach sowie die im Südwesten und Westen Aserbaidschans gelegenen, bisher von armenischen Streitkräften besetzten Bezirke Agdam, Füsuli, Dschabrayil, Sangilan, Kubadli, Ladschin und Kalbadschar ist durch den Waffenstillstand aufgrund der Dreiseitigen Erklärung zwischen Aserbaidschan, Armenien und Russland vom 9. November 2020 zunächst beendet. Es wird sich zeigen müssen, inwieweit sich das Abkommen auf die Sicherheitslage auswirkt (EDA 9.12.2020). Es besteht Minengefahr und teilweise auch Gefahr durch Blindgänger. Dies gilt in gleichem Maße für die aserbaidschanisch-armenische Landesgrenze, einschließlich der Grenze zwischen der aserbaidschanischen Autonomen Republik Nachitschewan und Armenien. Die Einreise in die nach wie vor von Aserbaidschan nicht kontrollierten Teile Berg-Karabachs (Gebiete nördlich und westlich von Schuscha, Latschin-Korridor) ohne eine entsprechende aserbaidschanische Erlaubnis stellte nach aserbaidschanischem Recht bisher einen Straftatbestand dar und führte zur Einreiseverweigerung für Aserbaidschan. Diese Gebiete werden derzeit von russischen Truppen kontrolliert. Die sieben Bezirke südlich und westlich von Bergkarabach stehen zwar wieder unter aserbaidschanischer Hoheit, sind aber aus Sicherheitsgründen nicht zu bereisen. Es gibt weder eine gesicherte Verwaltung noch Regelungen für das Betreten dieser Gebiete. Da weiterhin Kriegsrecht gilt, ist bei Zuwiderhandlungen wahrscheinlich mit Anwendung des Militärstrafrechts zu rechnen (AA 3.12.2020). Das Kriegsrecht berechtigt die Regierung im Prinzip, verschiedene Einschränkungen gegen Grundrechte wie Versammlungsfreiheit und Bewegungsfreiheit zu verfügen. Im Übrigen ist das Land politisch stabil (EDA 9.12.2020).

[…]

3.       Rechtsschutz / Justizwesen

In politisch relevanten Fällen wird der Grundsatz der Unschuldsvermutung, den die Verfassung in Art. 63 garantiert, regelmäßig nicht beachtet; Erklärungen der Staatsanwaltschaft und des Innenministeriums enthalten oft Vorverurteilungen. Ungeachtet zahlreicher Gesetze, die sich an westlichen Standards orientieren, bleibt die Rechtsanwendung hinter den Standards des Europarats zurück. Die Rechtsprechung ist zwar formell unabhängig, steht aber faktisch unter dem Einfluss der Regierungsgewalt. Insbesondere in den Verfahren, die von politischer Bedeutung sind (wie z.B. Strafverfahren gegen kritische Journalisten und oppositionelle Menschenrechtsaktivisten), scheinen die Urteile politischen Vorgaben zu folgen. Bei Urteilen zulasten der Regierung sind Umsetzung bzw. Vollstreckung problematisch. Die Medien, insbesondere staatlich kontrollierte Druckpresse und Fernsehen, werden gelegentlich für Hetzkampagnen gegen regierungskritische Organisationen oder Individuen missbraucht. Eine Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis, die nach Merkmalen wie Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe diskriminiert, lässt sich grundsätzlich nicht feststellen. Personen, die des Umsturzversuches oder des Terrorismus bezichtigt werden, müssen aber in besonderem Maße mit langjährigen Haftstrafen rechnen. Auf Jugendliche über 16 Jahre wird Erwachsenenstrafrecht angewendet. Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren sind nur bei bestimmten Verbrechen, wie z.B. Mord, Vergewaltigung und schwerer Sachbeschädigung, strafmündig. Kinder unter 14 sind strafunmündig. Für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren bestehen im Falle der Verhängung einer Freiheitsstrafe Erziehungsanstalten, in die sie eingewiesen werden können. Jeder Bürger des Landes, der sich durch einen Akt staatlicher Gewalt in diesen Grundrechten verletzt sieht, kann im Wege einer Individualbeschwerde den Rechtsweg zum Verfassungsgericht beschreiten (AA 17.11.2020).

Es gibt keine unabhängige Justiz. Die Gerichte sind korrupt und funktionieren als Strafmechanismus in den Händen der Exekutive. Die Situation hat sich durch eine Welle von Berufsverboten unabhängiger Verteidiger weiter verschlechtert. Die Regierung mischt sich massiv ein und hat das letzte Wort bei Gerichtsentscheidungen in politischen, wirtschaftlichen und anderen sensiblen Fällen. Verteidiger spielen in hohem Maße nur eine formale Rolle und haben nur geringen Einfluss auf Gerichtsentscheidungen. Die Anwaltskammer wird ebenfalls von der Exekutive kontrolliert und häufig als Instrument zur Bestrafung unabhängiger Verteidiger eingesetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) bleibt weitgehend die letzte vertrauenswürdige Chance für Rechtssuchende in Aserbaidschan. In den letzten Jahren hat die Regierung jedoch die Entscheidungen des ECHR verzögert (BTI 2020).

Obwohl die Verfassung eine unabhängige Justiz vorsieht, agieren die Richter nicht unabhängig von der Exekutive. Die Justiz bleibt weitgehend korrupt und ineffizient. Viele Urteile sind rechtlich nicht haltbar und stehen weitgehend in keinem Zusammenhang mit den während des Prozesses vorgelegten Beweisen. Die Ergebnisse erschieinen häufig vorgegeben. Die Gerichte verabsäumen es oft, Vorwürfe der Folter und der unmenschlichen Behandlung von Häftlingen in Polizeigewahrsam zu untersuchen. Das Justizministerium kontrolliert den Justizverwaltungsrat. Der Rat ernennt einen Auswahlausschuss (sechs Richter, einen Staatsanwalt, einen Rechtsanwalt, einen Ratsvertreter, einen Vertreter des Justizministeriums und einen Rechtswissenschaftler), der das gerichtliche Auswahlverfahren und die Prüfung administriert und die langfristige juristischen Ausbildung überwacht. Glaubwürdige Berichte zeigen, dass Richter und Staatsanwälte Anweisungen von der Präsidialverwaltung und dem Justizministerium erhalten, insbesondere in politisch sensiblen Fällen. Es gibt glaubwürdige Anschuldigungen, dass Richter routinemäßig Bestechungsgelder annahmen. Am 3.4.2019 unterzeichnete der Präsident ein Dekret über begrenzte Reformen im Justizsektor. Das Dekret forderte eine Erhöhung der Richtergehälter, eine Erhöhung der Zahl der Richterposten (von 600 auf 800), Tonaufnahmen aller Gerichtsverfahren und die Einrichtung spezialisierter Handelsgerichte für Streitigkeiten im Zusammenhang mit Unternehmertum. Das Dekret ordnete auch eine Erhöhung der Mittel für die kostenlose Prozesskostenhilfe an.

Das Gesetz schreibt die Unschuldsvermutung in Strafsachen vor. Es schreibt auch das Recht der Angeklagten vor, unverzüglich über die Anklagepunkte informiert zu werden, ein faires, zeitgerechtes und öffentliches Verfahren zu erhalten, bei der Verhandlung anwesend zu sein, mit einem Anwalt ihrer Wahl zu kommunizieren (oder einen Anwalt auf öffentliche Kosten stellen zu lassen, wenn sie nicht in der Lage sind, die Kosten zu tragen), angemessene Zeit und Einrichtungen zur Vorbereitung der Verteidigung bereitzustellen, vom Zeitpunkt der Anklageerhebung an in allen Berufungsverfahren unentgeltlich Dolmetscher zu stellen, Zeugen bei der Verhandlung entgegenzutreten und Zeugenaussagen in der Verhandlung zu präsentieren und nicht gezwungen zu werden, auszusagen oder sich schuldig zu bekennen. Sowohl Angeklagte als auch Staatsanwälte haben das Recht, Berufung einzulegen. Die Behörden haben diese Bestimmungen in vielen Fällen, die weithin als politisch motiviert galten, nicht eingehalten. Obwohl die Verfassung die Gleichberechtigung von Staatsanwälten und Verteidigern vorschreibt, bevorzugen die Richter bei der Beurteilung von Anträgen, mündlichen Erklärungen und Beweisen, die von Verteidigern vorgelegt werden, oft Staatsanwälte, ohne Rücksicht auf die Begründetheit ihrer jeweiligen Argumente. Die Verfassung verbietet die Verwendung von illegal erlangten Beweisen. Trotz der Behauptungen einiger Angeklagter, dass die Polizei und andere Behörden durch Folter oder Missbrauch eine Zeugenaussage erhielten, berichteten Menschenrechtsbeobachter, dass die Gerichte den Missbrauchsvorwürfen nicht nachgingen, und es gab keinen unabhängigen forensischen Ermittler, der die Behauptungen des Missbrauchs untermauern konnte. Es gab keine wörtlichen Abschriften von Gerichtsverfahren.

Das Gesetz sieht vor, dass Personen, die inhaftiert, verhaftet oder einer Straftat beschuldigt werden, ein ordnungsgemäßes Verfahren erhalten, einschließlich der sofortigen Unterrichtung über ihre Rechte und den Grund ihrer Verhaftung. In Fällen, die als politisch motiviert galten, wurde das ordentliche Verfahren nicht eingehalten, und die Angeklagten wurden unter einer Vielzahl von falschen Anklagen verurteilt. Dem Gesetz nach sind Häftlinge innerhalb von 48 Stunden nach der Verhaftung einem Richter vorzuführen. Der Richter kann dann entweder einen Haftbefehl erlassen, der den Häftling in Untersuchungshaft nimmt oder diesen unter Hausarrest stellt, oder die Freilassung des Häftlings anordnen. In der Praxis haben die Behörden jedoch manchmal Personen für länger als 48 Stunden festgehalten. Die anfängliche Haftzeit von 48 Stunden kann unter bestimmten Umständen auf 96 Stunden verlängert werden. Während der Untersuchungshaft oder des Hausarrests muss die Generalstaatsanwaltschaft ihre Ermittlungen abschließen. Die Untersuchungshaft ist auf drei Monate begrenzt, kann aber von einem Richter auf bis zu 18 Monate verlängert werden, je nach mutmaßlicher Straftat und den Erfordernissen der Untersuchung. Es gab Berichte darüber, dass Häftlinge nicht umgehend über die gegen sie erhobenen Anschuldigungen informiert wurden. Es gibt ein formales Kautionssystem, aber die Richter nützten es nicht. Das Gesetz sieht den Zugang zu einem Anwalt ab dem Zeitpunkt der Inhaftierung vor, aber es gab Berichte, dass die Behörden den Zugang von Anwälten zu Mandanten sowohl in politisch motivierten als auch in Routinefällen häufig verweigerten. Aserbaidschan verfügt über ein Militärgerichtssystem mit zivilen Richtern. Das Militärgericht behält die ursprüngliche Zuständigkeit für alle Fälle im Zusammenhang mit Krieg oder Militärdienst (USDOS 11.3.2020).

Die Justiz ist korrupt und der Exekutive untergeordnet. Die Richter werden vom Parlament auf Vorschlag des Präsidenten ernannt. Die mangelnde politische Unabhängigkeit der Gerichte zeigt sich besonders deutlich in den vielen erfundenen oder anderweitig fehlerhaften Fällen, die gegen Oppositionelle, Aktivisten und kritische Journalisten vorgebracht werden. Die verfassungsmäßigen Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren werden nicht eingehalten. Willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen sind üblich und die Gefangenen werden oft lange Zeit vor dem Prozess festgehalten. Politische Gefangene haben über einen eingeschränkten Zugang zu Rechtsbeistand, das Fälschen und Vorenthalten von Beweisen und über körperliche Misshandlungen zur Erzwingung von Geständnissen berichtet. Obwohl nominell unabhängig, handelt die aserbaidschanische Anwaltskammer auf Anordnung des Justizministeriums und macht sich an der Schikane von Menschenrechtsanwälten mitschuldig. Die 2018 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen sahen vor, dass nur Mitglieder der Anwaltskammer Mandanten vor Gericht vertreten dürfen. Seither hat die Vereinigung die meisten der aktiven Menschenrechtsanwälte des Landes ausgeschlossen, suspendiert oder bedroht, weil sie vor den Medien über Verletzungen der Rechte ihrer Mandanten gesprochen haben. In fast allen Disziplinarfällen haben die Gerichte die Entscheidungen der Anwaltskammer ohne eine gründliche Bewertung oder öffentliche Rechtfertigung bestätigt. Die Strafverfolgungsbehörden überwachten private Telefon- und Online-Kommunikation, insbesondere von Aktivisten, politischen Persönlichkeiten und ausländischen Staatsangehörigen, ohne gerichtliche Aufsicht. Die Verfolgung von Kritikern und ihren Familien durch die Regierung hat die Privatsphäre der gewöhnlichen Einwohner untergraben, genauso wie die Offenheit privater Diskussionen. Sogar Staatsbeamte wurden für ihre Aktivitäten in den sozialen Medien und die ihrer Familienmitglieder bestraft und Aktivisten wurden, aufgrund von nicht damit zusammenhängenden fabrizierten Anklagen, für kritische Facebook-Posts inhaftiert (FH 4.3.2020).

Der Menschenrechtskommissar des Europarates stellte fest, dass Aserbaidschan unter einem erheblichen Mangel an Anwälten leidet. Laut dem Bericht der Europäischen Kommission für die Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ) aus dem Jahr 2018 hatte Aserbaidschan zwischen 2010 und 2016 die geringste Anzahl von Anwälten pro 100.000 Einwohner im Gebiet des Europarates: Im Jahr 2016 kamen neun Anwälte auf 100.000 Einwohner, bei einem Durchschnitt von 162 Anwälten pro 100.000 Einwohner in den Mitgliedstaaten des Europarates. Darüber hinaus besteht die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit der Anwaltskammer und ihre Rolle bei der Vertretung und Verteidigung der Interessen ihrer Mitglieder zu stärken. Der Kommissar ist besorgt über die Anwendung von Disziplinarmaßnahmen aus unzulässigen Gründen, wie z.B. wegen der Äußerung kritischer Standpunkte, sowie über das Fehlen klarer Kriterien für die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen, insbesondere die Verhängung von Berufsverboten, und betont, dass Anwälte ethische Standards einhalten und in der Lage sein sollten, ohne Angst vor Vergeltungsmaßnahmen beruflich tätig zu werden (CoE – CommDH 11.12.2019).

[…]

4.       Sicherheitsbehörden

Die Polizei untersteht dem Innenministerium, der innenpolitische Staatliche Sicherheitsdienst dem Präsidenten (AA 17.11.2020).

Das Innenministerium und der Staatssicherheitsdienst sind für die Sicherheit im Land verantwortlich und unterstehen direkt dem Präsidenten. Das Innenministerium unterhält die lokalen Polizeikräfte und interne Zivilschutztruppen. Der Staatssicherheitsdienst ist für innere Angelegenheiten zuständig, und der Auslandsnachrichtendienst konzentriert sich auf Fragen des Auslandsnachrichtendienstes und der Spionageabwehr. NGOs berichten, dass beide Dienste Personen festgenommen haben, die ihr Recht auf Grundfreiheiten ausgeübt haben. Zivile Behörden üben eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aus. Die meisten Beamten, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, werden nicht strafrechtlich verfolgt oder bestraft. Straffreiheit bleibt ein Problem. Es gibt mehrere Berichte, dass die Regierung oder ihre Beamten willkürliche oder ungesetzliche Tötungen begingen. Es gibt keine Berichte über Verschwindenlassen durch oder im Namen von Regierungsbehörden (USDOS 11.3.2020).

[…]

5.       Folter und unmenschliche Behandlung

Die Behörden weisen in der Regel Beschwerden über Folter und andere Misshandlungen in der Haft ab und die Praxis wird ungestraft fortgesetzt (HRW 14.1.2020).

Die Anwendung von Folter ist verboten und steht unter Strafe; ein durch Folter erlangter Beweis darf vor Gericht nicht verwendet werden. Es gibt glaubwürdige Berichte über Misshandlung verhafteter Personen im Polizeigewahrsam. Die überwiegende Zahl der berichteten Vorfälle soll sich auf Polizeistationen bzw. in Untersuchungshaft ereignet haben. Es gibt Hinweise, dass religiös-politische Häftlinge in Gefängnissen einem höheren Risiko von Misshandlungen und Folter im Vergleich zu den „weltlichen“ politischen Gefangenen ausgesetzt sind. Beweise für extralegale Tötungen oder Fälle von „Verschwinden lassen“ liegen nicht vor. Unmenschliche oder erniedrigende Strafen werden nicht praktiziert (AA 17.11.2020).

Während die Verfassung und das Strafgesetzbuch solche Praktiken verbieten, und bei Verurteilung Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren vorsehen sind, gibt es glaubwürdige Vorwürfe wegen Folter und anderen Misshandlungen. Die meisten Misshandlungen finden in Polizeigewahrsam statt (USDOS 11.3.2020), wo die Behörden Berichten zufolge missbräuchliche Methoden zum Erwirken von Geständnissen einsetzen (USDOS 13.3.2019, vgl. FH 4.3.2020). Die Gerichte untersuchen Vorwürfe der Folter und der unmenschlichen Behandlung von Häftlingen in Polizeigewahrsam oft nicht. Es gibt auch Berichte über Misshandlungen im Gefängnis (USDOS 11.3.2020).

[…]

6.       Korruption

Laut Corruption Perceptions Index von Transparency International belegte Aserbaidschan 2019 den 126. Platz von 180 gelisteten Staaten (TI 1.2020).

Das Gesetz sieht strafrechtliche Konsequenzen für Korruption durch Beamte vor, aber die Regierung setzt das Gesetz nicht effektiv um und Beamte, die an korrupten Praktiken beteiligt waren, bleiben oft ungestraft. Während die Regierung bei der Bekämpfung der Korruption auf niedriger Ebene einige Fortschritte machte, gibt es weiterhin Berichte über die Korruption von Regierungsbeamten, einschließlich derjenigen auf höchster Ebene. Die Behörden bestrafen weiterhin Personen, die die Korruption der Regierung aufgedeckt hatten. Transparency International und andere Beobachter beschreiben Korruption als weit verbreitet. Es gibt Berichte über Korruption in den Bereichen Exekutive, Legislative und Judikative der Regierung (USDOS 11.3.2020).

Korruption und Bestechung sowie Monopolbildung sind nach wie vor die größten Probleme und betreffen jeden Aspekt des Lebens der aserbaidschanischen Bürger auf allen Ebenen. Auch bei der Bekämpfung der weit verbreiteten Korruption vor den Gerichten wurden keine wesentlichen Verbesserungen erzielt. In den Urteilen der Zivil- und Strafsachen ist Korruption nach wie vor ein erheblicher Mangel, der die Entscheidungsfindung stark beeinträchtigt. In den letzten Jahren hat die Regierung jedoch einige Anstrengungen unternommen, um die Korruption auf der mittleren und unteren Ebene einzudämmen. Oligarchen auf hoher Ebene sind faktisch immun gegen gerichtliche Verfolgung. Die Staatliche Kommission zur Korruptionsbekämpfung und die Abteilung für Korruptionsbekämpfung der Generalstaatsanwaltschaft sind die wichtigsten Regierungsbehörden für die Korruptionsbekämpfung (BTI 2020).

Korruption ist allgegenwärtig. In Ermangelung einer freien Presse und einer unabhängigen Justiz werden Beamte nur dann für korruptes Verhalten zur Rechenschaft gezogen, wenn es den Bedürfnissen einer mächtigeren oder gut vernetzten Person entspricht (FH 4.3.2020)

Aserbaidschan weist das höchste Ausmaß an Korruption auf. Seine »Beamtenoligarchie« bildete bislang eine machtvolle Verbindung zwischen Staat und Wirtschaft. 2019 sagte Präsident Ilham Alijew Schattenwirtschaft und Korruption den Kampf an und ersetzte einige langjährige Regierungsmitglieder. Experten bezweifeln allerdings, dass damit ein politischer Systemwandel in die Wege geleitet wurde (SWP 5.2020).

[…]

7.       Ombudsperson

Bürger können sich bei Verstößen, die vom Staat oder von Einzelpersonen begangen werden, an den Ombudsmann für Menschenrechte für Aserbaidschan oder den Ombudsmann für Menschenrechte der Autonomen Republik Nakhichevan wenden. Der Bürgerbeauftragte kann die Annahme von Missbrauchsfällen ablehnen, die älter als ein Jahr sind, anonym oder bereits von der Justiz bearbeitet werden. Menschenrechts-NGOs kritisierten das Büro des Ombudsmannes als mangelnd unabhängig und ineffektiv in Fällen, die als politisch motiviert gelten. Menschenrechtsbüros in der Nationalversammlung und im Justizministerium hören auch Beschwerden an, führen Untersuchungen durch und geben Empfehlungen an die zuständigen Regierungsbehörden, werden aber ebenfalls beschuldigt, Verletzungen in politisch sensiblen Fällen zu ignorieren. Während das Büro des Ombudsmannes berichtet, systematische Besuche von Gefängnissen und Untersuchungen von Beschwerden von Häftlingen durchzuführen, sagen Aktivisten, dass das Büro regelmäßig Beschwerden von Häftlingen in politisch heiklen Fällen abweist (USDOS 11.3.2020).

Strafgefangene haben die Möglichkeit, sich an die Ombudsfrau des Parlaments zu wenden (AA 17.11.2020).

[…]

8.       Allgemeine Menschenrechtslage

Nach Ansicht unabhängiger Beobachter und Menschenrechtsverteidiger hat sich die Menschenrechtslage speziell im Bereich der politischen Rechte (Meinungs- und Versammlungsfreiheit) nach deutlicher Verschlechterung 2013–2015 nicht wieder verbessert. In den Bereichen wie Frauenrechte und Inklusion von Menschen mit Behinderung zeigt Aserbaidschan allerdings Interesse (AA 17.11.2020).

Zu den Menschenrechtsproblemen gehören unrechtmäßige oder willkürliche Tötung; Folter; willkürliche Inhaftierung; harte und manchmal lebensbedrohliche Haftbedingungen; politische Gefangene; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; allgegenwärtige Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; starke Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Internetfreiheit, einschließlich Gewalt gegen Journalisten, Kriminalisierung von Verleumdung, Belästigung und Inhaftierung von Journalisten aufgrund fragwürdiger Anschuldigungen und Sperrung von Websites; erhebliche Eingriffe in das Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit; Einschränkungen der Bewegungsfreiheit; Zurückschicken von Flüchtlingen in ein Land, in dem sie einer Bedrohung für ihr Leben oder ihrer Freiheit ausgesetzt würden; strenge Einschränkungen der politischen Partizipation; systematische Korruption der Regierung; Festnahme und Folter von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen durch die Polizei; und die schlimmsten Formen der Kinderarbeit, zu deren Beseitigung die Regierung nur minimale Anstrengungen unternahm. Die Regierung verfolgt oder bestraft die meisten Beamten, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, nicht (USDOS 11.3.2020).

Die aserbaidschanischen Behörden führen weiterhin rigide Kontrollen durch und schränken die Vereinigungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit stark ein. Die Regierung ließ 2019 über 50 Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, Oppositionsaktivisten, religiöse Gläubige und andere vermeintliche Kritiker, die unter politisch motivierten Vorwürfen inhaftiert waren, frei. Mindestens 30 weitere blieben jedoch zu Unrecht inhaftiert, während die Behörden regelmäßig ihre Kritiker und andere abweichende Stimmen ins Visier nehmen. Andere Menschenrechtsprobleme blieben bestehen, darunter Folter und Misshandlung in der Haft, Verletzungen der Versammlungsfreiheit, unangemessene Einmischung in die Arbeit von Anwälten und Einschränkungen der Medienfreiheit. Die Behörden versuchen, Exil-Aktivisten zum Schweigen zu bringen, indem sie ihre Angehörigen in Aserbaidschan einschüchtern. Sicherheitsbeamte verhören wiederholt Angehörige von Aktivisten mit Sitz im Ausland, um sie unter Druck zu setzen, ihre Verwandten zu denunzieren, und drohen ihnen mit Gefängnis, wenn ihre Verwandten ihren Aktivismus fortsetzen (HRW 14.1.2020).

Das Wiedererwachen des zivilen Aktivismus, insbesondere bei der jüngeren Generation, inspiriert durch den arabischen Frühling und die Popularisierung der sozialen Netzwerke, hat in Aserbaidschan zu einer weiteren Unterdrückung der Bürgerrechte und Freiheiten geführt. Die Regierung hat ein umfassendes Vorgehen gegen politische Dissidenten, die Zivilgesellschaft, Menschenrechtsaktivisten, die Medien, internationale NGOs und Jugendorganisationen eingeleitet (BTI 2020).

In Aserbaidschan herrscht ein im regionalen Vergleich bemerkenswertes Maß an Religionsfreiheit und religiöser Toleranz. Aserbaidschan ist Mitglied des Europarats und Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention. Jedoch unterliegen Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit erheblichen Einschränkungen. Die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen ist deutlich erschwert (AA 26.2.2020a).

In der autoritären Regierung Aserbaidschans bleibt die Macht stark in den Händen von Ilham Aliyev konzentriert, der seit 2003 Präsident ist. Die Korruption ist weit verbreitet und nach Jahren der Verfolgung ist die formelle politische Opposition geschwächt. Die Behörden haben in den letzten Jahren die bürgerlichen Freiheiten umfassend unterdrückt, sodass nur wenig Raum für unabhängige Meinungsäußerung oder Aktivismus bleibt. Das autoritäre System in Aserbaidschan schließt die Öffentlichkeit von jeder echten und autonomen politischen Beteiligung aus. Das politische System erlaubt es Frauen oder Minderheitengruppen nicht, sich unabhängig zu organisieren oder für ihre jeweiligen Interessen einzutreten. Es gibt keine sinnvollen Mechanismen zur Förderung einer stärkeren Repräsentation von Frauen und ethnischen oder religiösen Minderheiten. Eine Reihe von Moscheen wurden in den letzten Jahren geschlossen, angeblich wegen Registrierungs- oder Sicherheitsverletzungen. Die Zeugen Jehovas sehen sich Schikanen sowie einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt, weil sie sich dem Militärdienst entzogen haben. Die Eigentumsrechte werden durch von der Regierung unterstützte Entwicklungsprojekte beeinträchtigt, die oft Zwangsräumungen, unrechtmäßige Enteignungen und Abrisse mit kurzzeitiger oder gar keiner Ankündigung nach sich ziehen (FH 4.3.2020).

Seit dem letzten Menschenrechtsdialog zwischen der EU und Aserbaidschan im Februar 2019 hat sich die Menschenrechtssituation in Aserbaidschan insgesamt nicht verbessert. Ernste Besorgnis besteht nach wie vor über allgegenwärtige Verletzungen der grundlegenden Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, und die staatliche Verfolgung von Regierungskritikern und vermeintlichen Kritikern hält an. Auch das harte Vorgehen gegen die unabhängige Anwaltschaft geht weiter, und Menschenrechtsanwälte unterliegen Disziplinarmaßnahmen, einschließlich des Ausschlusses aus der Anwaltskammer, wenn sie sich in den Fällen ihrer Mandanten zu Verletzungen äußern. Sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei der Umsetzung bestehen nach wie vor Probleme, die Einhaltung nationaler und internationaler Menschenrechtsstandards und -verpflichtungen zu gewährleisten (IPHR 2.2020).

[…]

9.       Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

9.1.    Versammlungsfreiheit

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit sind zahlreichen Beschränkungen unterworfen. Dies gilt besonders für die Versammlungsfreiheit, obwohl Art. 49 der Verfassung dieses Grundrecht garantiert und vorsieht, dass jeder sich nach rechtzeitiger Anmeldung friedlich und ohne Waffen versammeln kann. In der Praxis werden Versammlungen in der Innenstadt von Baku nicht gestattet. Sofern regierungskritische Kundgebungen unangemeldet oder trotz behördlichen Verbots durchgeführt werden, löst die Polizei Menschenansammlungen notfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs auf. Regelmäßig werden die Teilnehmer an solchen Aktionen festgenommen, aber meistens nach wenigen Stunden (oder zuweilen Tagen) wieder auf freien Fuß gesetzt. Es kann auch mit „vorbeugenden“ administrativen Arresten vor angekündigten Demonstrationen gerechnet werden. Für Versammlungen in geschlossenen/privaten Räumen sieht das Gesetz keine Beschränkungen vor. Die Anmietung von Konferenzräumen ist jedoch für kritische Zivilgesellschaftsvertreter oder Oppositionelle insbesondere in den Gebieten außerhalb der Hauptstadt so gut wie unmöglich (AA 17.11.2020).

Die Regierung schränkt die Versammlungsfreiheit stark ein. Die Behörden reagierten manchmal auf friedliche Proteste und Versammlungen, indem sie Gewalt anwenden und Demonstranten festnehmen. Während die Verfassung vorsieht, dass sich Gruppen nach vorheriger Verständigung der zuständigen Regierungsstelle friedlich versammeln können, interpretiert die Regierung diese Bestimmung weiterhin als Voraussetzung für eine vorherige Genehmigung. Die lokalen Behörden verlangen, dass alle Kundgebungen vorab genehmigt und an den vorgesehenen Orten durchgeführt werden müssen. Die meisten politischen Parteien und NGOs kritisieren die Anforderungen als inakzeptabel und bezeichnen sie als verfassungswidrig (USDOS 11.3.2020).

Das Gesetz schränkt die Versammlungsfreiheit, die vom Schutz der "öffentlichen Ordnung und Moral" abhängig ist, stark ein. Aktivisten haben sich darüber beschwert, dass die Hindernisse für öffentliche Versammlungen in der Praxis zusätzliche, außergesetzliche Maßnahmen umfassen. Ungenehmigte Versammlungen können eine harte Reaktion der Polizei und Geldstrafen für die Teilnehmer nach sich ziehen. Die Regierung hat die Erteilung von Genehmigungen für Kundgebungen in Baku im Frühjahr 2019 weitgehend eingestellt. Selbst wenn die Genehmigungen erteilt werden, beschränkt die Regierung Demonstrationen in der Regel auf relativ isolierte Orte, wo sie die Teilnehmer mithilfe von Gesichtserkennungstechnologie und Handydaten verfolgen kann (FH 4.3.2020).

Aserbaidschan verhängt ein pauschales Verbot von Protesten in den zentralen Gebieten Bakus und bietet stattdessen den Demonstranten einen abgelegenen Ort am Stadtrand für Kundgebungen an. Im Jahr 2019 war die Zahl der Personen, die wegen angeblicher Verstöße gegen die restriktiven Vorschriften des Landes über öffentliche Versammlungen mit Bußgeldern oder kurzen Gefängnisstrafen belegt wurden, um ein Vielfaches höher als im gesamten Jahr 2018. Die Polizei machte auch Hausbesuche, um Menschen zu warnen, die in sozialen Medien angegeben hatten, dass sie an Kundgebungen teilnehmen würden. Tage vor einem der Proteste nahm die Polizei die meisten der Protestveranstalter fest (HRW 14.1.2020).

[…]

9.2.    Opposition

Die Betätigungsmöglichkeiten der politischen Opposition sind eingeschränkt. Mitglieder und Sympathisanten regierungskritischer Oppositionsparteien und -bewegungen (insbesondere Volksfront, „Musavat“, REAL, Jugendbewegung NIDA) können im Alltag Benachteiligungen ausgesetzt werden. Diese richten sich insbesondere gegen Funktionäre bzw. politisch aktive Parteimitglieder. Während die Regierung regelmäßig auf administrative Ressourcen und die überwiegend staatlich kontrollierten traditionellen und zunehmend auch elektronischen Medien zurückgreift, werden die Versuche der Opposition, sich öffentlich zu versammeln oder sonst öffentlich wahrnehmbar zu äußern, deutlich und systematisch erschwert. Oppositionelle Aktivisten setzen sich einem Risiko aus, aufgrund ihres politischen Engagements Nachteile einschließlich gewaltsamer Übergriffe, willkürlicher Verhaftungen und deutlicher Beeinträchtigungen ihrer wirtschaftlichen Existenz zu erleiden. Die Anmietung von Konferenzräumen ist für kritische Zivilgesellschaftsvertreter oder Oppositionelle insbesondere in den Gebieten außerhalb der Hauptstadt so gut wie unmöglich (AA 17.11.2020).

Während es viele politische Parteien gibt, dominierte die regierende Yeni Azerbaijan Party das politische System. Inländische Beobachter berichten, dass die Mitgliedschaft in der regierenden Partei Vorteile mit sich brächte, wie z.B. die Bevorzugung bei öffentlichen Ämtern. Seit 2010 gehören der Nationalversammlung keine Vertreter der wichtigsten Oppositionsparteien des Landes mehr an. Oppositionsmitglieder sind wahrscheinlicher als andere Bürger offiziellen Schikanen, willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen ausgesetzt. Mitglieder oppositioneller politischer Parteien werden weiterhin verhaftet und zu Verwaltungshaft verurteilt, nachdem sie in den sozialen Medien die Regierung kritisiert oder an friedlichen Kundgebungen teilgenommen haben. Die Oppositionsparteien haben nach wie vor Schwierigkeiten bei der Anmietung von Büroräumen, angeblich, weil Immobilienbesitzer offizielle Vergeltungsmaßnahmen befürchten. Regionale Mitglieder der Oppositionspartei müssen oft den Zweck ihrer Versammlungen verbergen und sie in Teehäusern und anderen abgelegenen Orten abhalten. Die Oppositionsparteien sehen sich auch mit Finanzierungshindernissen konfrontiert. So haben die Behörden beispielsweise ihre finanziellen Ressourcen weiter begrenzt, indem sie diejenigen bestrafen, die materielle Unterstützung leisten, die Entlassung von Oppositionsmitgliedern erwirken und wirtschaftlichen Druck auf ihre Familienmitglieder ausüben (USDOS 11.3.2020).

Es gibt zwei große registrierte Oppositionsparteien, nämlich Musavat und die Volksfront. Beide haben sich zu liberal-demokratischen Prinzipien bekannt, aber nie eine klar definierte systematische Förderung dieser Werte verfolgt. Ähnlich wie die herrschende Partei sind sie anfällig für personenbezogene Politik. Der Eintritt westlich gebildeter Jugendlicher in das öffentliche Leben in den letzten Jahren und das Aufkommen einer jungen gesellschaftlichen Mittelschicht und starker mittelständischer Berufstätiger, die am aktiven öffentlichen Leben interessiert sind, haben jedoch den Weg für die Entstehung neuer pro-westlicher politischer Gruppen wie der Republikanischen Alternative (REAL) und der Bürgerbewegung NIDA geebnet. Der Opposition wird der Zugang zu Fernseh- und Rundfunknetzen in Aserbaidschan verweigert. Die Regierung übt Druck auf Hotels und andere Veranstaltungsorte im Land aus, den Oppositionsparteien und unabhängigen NGOs keinen Raum für ihre Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen (BTI 2020).

Das politische Umfeld in Aserbaidschan ist weder pluralistisch noch wettbewerbsfähig. Die Fähigkeit der Oppositionsparteien zu operieren und mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten, ist durch die Dominanz der YAP-Partei begrenzt. Eine Reihe von Gesetzen schränken die Bemühungen der Kandidaten ein, Kundgebungen zu organisieren und durchzuführen. Die politische Opposition hat praktisch keinen Zugang zur Berichterstattung im Fernsehen, das nach wie vor die beliebteste Nachrichtenquelle ist. Eine repressive Medienpolitik und die politischen Rahmenbedingungen machen es den Oppositionsparteien praktisch unmöglich, durch Wahlen an die Macht zu kommen. Oppositionspolitiker und Parteifunktionäre sind willkürlichen Verhaftungen unter zweifelhaften Vorwürfen sowie physischer Gewalt und anderen Formen der Einschüchterung ausgesetzt (FH 4.3.2020).

[…]

10.      Haftbedingungen

Die Haftbedingungen in den Gefängnissen des Landes werden durch Europarat und OSZE beobachtet. Die Bedingungen haben sich in zahlreichen Gefängnissen durch Renovierungen und Neubauten, wie etwa in Sheki, weiter verbessert. Es gibt jedoch beträchtliche Niveauunterschiede. Mindestens drei Haftanstalten sind EMRK-konform. Zurzeit werden weitere neue Haftanstalten gebaut, die ebenfalls EMRK-Standards erfüllen sollen. Tuberkulose ist ein Problem, weshalb Häftlinge zu Haftbeginn entsprechend untersucht werden, um eine Ausbreitung in der Anstalt zu unterbinden. Strafgefangene haben die Möglichkeit, sich an die Ombudsfrau des Parlaments zu wenden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Haftbedingungen für politische Straftäter härter sind als die für andere Straftäter. (AA 17.11.2020).

Nach Angaben einer angesehenen Gefängnisüberwachungsorganisation sind die Haftbedingungen mitunter hart und potenziell lebensbedrohlich aufgrund von Überbelegung, unzureichender Ernährung, mangelhafter Heizung, Belüftung und sanitärer Versorgung sowie schlechter medizinischer Versorgung. Weibliche Häftlinge leben in der Regel unter besseren Bedingungen als männliche Häftlinge, werden häufiger überwacht und haben besseren Zugang zu Ausbildung und anderen Aktivitäten, aber Frauengefängnisse leiden unter vielen gleichen Problemen wie Männergefängnisse. Verurteilte jugendliche Straftäter können in speziellen Hafteinrichtungen für Jugendliche bis zum Alter von 20 Jahren festgehalten werden. Während die Regierung weiterhin neue Anlagen baut, entsprechen einige der noch genutzten Anlagen aus der Sowjetzeit nicht den internationalen Standards. Menschenrechtsverteidiger berichten, dass Wachen manchmal Gefangene mit Schlägen oder durch Isolationshaft bestrafen. Ehemalige Häftlinge und Familienmitglieder von inhaftierten Aktivisten berichten, dass Häftlinge oft Bestechungsgelder zahlen müssen, um Familienmitglieder treffen zu können, fernzusehen, Toiletten oder Duschräume zu benutzen oder Lebensmittel von außerhalb der Haftanstalt zu erhalten. Während die meisten Häftlinge berichten, dass sie ohne Zensur Beschwerden an die Justizbehörden und das Büro der Ombudsperson richten können, lesen die Gefängnisbehörden regelmäßig die Korrespondenz der Häftlinge, überwachen die Treffen zwischen Anwälten und Mandanten und hindern einige Anwälte daran, Dokumente in und aus den Haftanstalten zu nehmen. Die Behörden schränken die Besuche von Anwälten und Familienangehörigen ein, insbesondere von Gefangenen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind. Es gibt auch Berichte über Misshandlungen im Gefängnis (USDOS 11.3.2020).

[…]

11.      Todesstrafe

Die Todesstrafe wurde mit Gesetz vom 28.10.1998 abgeschafft (AA 17.11.2020).

[…]

12.      Relevante Bevölkerungsgruppen

12.1.   Frauen

Artikel 25 Abs. 2 der Verfassung garantiert die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Im Großraum Baku entspricht dieser Grundsatz weitestgehend der Praxis, während auf dem Land traditionelle Vorstellungen der Geschlechterverhältnisse noch verbreitet sind. Insgesamt betrachtet nimmt die Repräsentanz von Frauen in Regierung und Parlament leicht zu (23 von 125 Parlamentariern sind weiblich); und sie sind im Bildungs- und Gesundheitssektor stark vertreten. Nach offiziellen Angaben machen Frauen 15% der Unternehmerschaft aus, Tendenz unter Nachwuchskräften steigend (AA 17.11.2020).

Vergewaltigung ist illegal und wird mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft (USDOS 11.3.2020). Eheliche Vergewaltigung ist ebenfalls illegal, aber Frauen können im Fall von Vergewaltigungen innerhalb der Ehe nicht darauf vertrauen, dass Sicherheitsorgane sie schützen und Ermittlungen aufnehmen (AA 17.11.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Das Gesetz schafft einen Rahmen für die Untersuchung von Beschwerden über häusliche Gewalt, definiert ein Verfahren zur Erlassung von einstweiligen Verfügungen und fordert die Einrichtung eines Schutz- und Rehabilitationszentrums für Opfer. Aktivisten berichteten, dass die Polizei häusliche Gewalt weiterhin als familiäres Problem ansieht und nicht effektiv zum Schutz der Opfer eingreift. Der Staatliche Ausschuss für Familie, Frauen und Kinder (SCFWCA) setzt seine Aktivitäten gegen häusliche Gewalt fort, indem er Aufklärungskampagnen durchführt und sich für die Verbesserung der sozioökonomischen Situation von Opfern häuslicher Gewalt einsetzt. Die Regierung bietet Frauen, die Opfer von Körperverletzungen wurden, begrenzten Schutz. Die Regierung und eine unabhängige NGO betreiben jeweils eine Unterkunft, die Opfern von Menschenhandel und häuslicher Gewalt Hilfe und Beratung bietet. Die Regierung setzt das Verbot der sexuellen Belästigung nur selten durch oder setzt selten rechtliche Schritte gegen Personen, die dieser beschuldigt werden. Obwohl Frauen nominell dieselben gesetzlichen Rechte wie Männer genießen, stellt die gesellschaftliche und geschlechtsspezifische Diskriminierung ein Problem dar (USDOS 11.3.2020; vgl. BTI 2020). Aus kulturellen Gründen sind Frauen von Führungspositionen ausgeschlossen. Frauenberufe sind traditionell unterbezahlt, und geschlechtsspezifische Ausgrenzung ist offensichtlich (BTI 2020). Nach Angaben des Statistischen Staatsausschusses gibt es eine Diskriminierung von Frauen in der Beschäftigung, einschließlich großer Lohnunterschiede und höherer Arbeitslosenquoten. Das Gesetz schließt Frauen von bestimmten Berufen aus, wie z.B. der Arbeit unter Tage in Bergwerken. Frauen waren in hochrangigen Berufen, einschließlich Spitzenpositionen in Unternehmen, unterrepräsentiert. Traditionelle Praktiken schränkten den Zugang von Frauen zu wirtschaftlichen Möglichkeiten in ländlichen Gebieten ein

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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