Entscheidungsdatum
20.07.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W261 2176427-1/27E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. Georg BÜRSTMAYR, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, vom 30.09.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. und III. erster Satz als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. zweiter Satz des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan auf Dauer unzulässig ist.
III. Dem Beschwerdeführer wird der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. dritter Satz und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 15.04.2016 als Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 16.04.2016 fand seine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, dass er Probleme mit den Taliban gehabt habe. Sein Vater sei in XXXX Polizeikommandant gewesen. Die Taliban hätten seinem Vater Drohbriefe geschickt. Sein Vater habe Angst um das Leben des Beschwerdeführers gehabt, da er der älteste Sohn der Familie sei. Sein Vater habe einen Schlepper organisiert und der Beschwerdeführer sei aus Afghanistan geflüchtet.
2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 07.09.2017 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, dass er Paschtune sei und sunnitischer Moslem. Er stamme aus Kunduz, aus dem Distrikt XXXX , aus dem Ort XXXX . Seine Eltern und seine zwei Brüder würden dort leben. Er habe dort sieben Jahre die Schule besucht, gearbeitet habe er nicht.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass sein Vater bei der XXXX tätig gewesen und von den Taliban bedroht worden sei. Er habe Drohbriefe erhalten. Die Taliban hätten gefordert, dass er nicht mehr in der XXXX arbeiten solle. Vorher seien sie nur nachts gekommen, jetzt würden sie auch am Tag kommen. Die Polizei habe ihnen nicht helfen können. Er habe nicht in die Schule gehen können, es sei unsicher gewesen. Das Leben sei dort sehr schwierig, es herrsche Krieg.
Der Beschwerdeführer legte Dokumente und Integrationsunterlagen vor.
3. Mit Eingabe vom 22.09.2017 gab der Beschwerdeführer durch seine damalige bevollmächtigte Vertretung, die Caritas Diözese XXXX , eine Stellungnahme ab. Er führte im Wesentlichen aus, dass der Vater des Beschwerdeführers nachweislich (Beweise aktenkundig) bei der regierungsnahen XXXX arbeite. Die asylrelevante Verfolgungsgefahr gründe sich somit auf die gegenüber den Taliban gesinnungsfeindliche Tätigkeit des Vaters. Des Weiteren würde sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtern, durch koordinierte Angriffe und dem Vorrücken der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte. Große Teile der Bevölkerung seien weiterhin zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch unterschiedliche Akteure ausgesetzt. Die Regierung könne die Menschenrechte nicht schützen, die Regierungsgewalt und die Rechtsstaatlichkeit seien besonders schwach. Der Zugang zu humanitären Einrichtungen sei außerdem begrenzt. Die Wiedereingliederungsversuche vieler Rückkehrender scheitere, was zu neuer Vertreibung führe. Des Weiteren sei Kabul keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative für den Beschwerdeführer.
4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 30.09.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass nicht festgestellt werden habe können, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland Afghanistan einer konkreten, individuellen und aktuellen Bedrohung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten ausgesetzt gewesen wäre beziehungsweise habe er eine solche Bedrohung dezidiert verneint. Die allgemeine Sicherheitslage sei nicht so schlecht, dass eine Rückkehr dorthin generell unmöglich sei. Er verfüge über eine sehr gute Schulbildung, sei gesund, arbeitsfähig und könne nach der Rückkehr eine Arbeit aufnehmen. Seine Familienangehörigen würden alle in der Provinz Kunduz leben. Diese würden ihn bei einer Rückkehr finanziell unterstützen können.
5. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid mit Eingabe vom 03.11.2017 durch seine damalige gesetzliche Vertretung, das Magistrat XXXX – Amt für Jugend und Familie, fristgerecht Beschwerde. Darin brachte er im Wesentlichen vor, dass Verfahrensvorschriften verletzt worden seien. Die Behörde habe sich wiederholt an nicht nachvollziehbaren Folgerungen bedient. Die vorgelegten Beweismittel seien nicht entsprechend gewürdigt worden. Er verwies auf ein Transkript eines Vortrags von Thomas RUTTIG vom 12.04.2017 „Notiz Afghanistan - Alltag in Kabul“, wonach Drohbriefe der Taliban weit verbreitet und seit Langem belegt wären, und auf die Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe SFH-Länderanalyse vom 04.03.2016 „Afghanistan: Drohbriefe der Taliban“, wonach Drohbriefe eine beliebte und weitverbreitete Taktik der Taliban wären. Des Weiteren sei die Staatsgewalt Afghanistans vor allem im Bereich der Sicherheit nicht wirksam genug. Außerdem sei die belangte Behörde von der Befriedigung der Bedürfnisse im Falle seiner Rückkehr ausgegangen, ohne auf die derzeitige Lage ausreichend Rücksicht zu nehmen. Der Beschwerdeführer verfüge über keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte in Kabul. Nach der Judikatur sei es unmöglich in Kabul, ohne soziales Netzwerk, Fuß zu fassen.
Der Beschwerdeführer beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 10.11.2017 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 14.11.2017 in der Gerichtsabteilung W173 einlangte.
7. Mit Eingabe vom 27.12.2017 reichte die belangte Behörde die Vollmacht der Caritas der Diözese XXXX nach.
8. Mit Eingabe vom 11.01.2018 reichte die belangte Behörde die Information des Landes XXXX über die Abmeldung von der Grundversorgung nach.
9. Mit Eingabe vom 25.09.2018 reichte die belangte Behörde die Information über die neue gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers, die Stadt XXXX , nach.
10. Mit Eingabe vom 29.05.2019 reichte die belangte Behörde den Abschluss-Bericht der LPD XXXX wegen des Verdachts auf Diebstahl und Urkundenunterdrückung nach.
11. Mit Eingabe vom 12.08.2020 übermittelte die belangte Behörde den Bescheid des AMS vom 10.08.2020 über die Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Stallarbeiter für die Zeit von 17.08.2020 bis 31.12.2020 im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche und mit einem monatlichen Entgelt von EUR 1.434,00 brutto.
12. Mit Eingabe vom 12.10.2020 reichte die belangte Behörde die Information des Landes Steiermark über die Abmeldung von der Grundversorgung per 09.10.2020 nach.
13. Mit Eingabe vom 05.01.2021 übermittelte die belangte Behörde den Bescheid des AMS vom 29.12.2020 über die Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter für die Zeit von 01.01.2021 bis 19.05.2021 im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche und mit einem monatlichen Entgelt von EUR 1.434,00 brutto.
14. Mit Eingabe vom 02.02.2021 gab der Rechtsanwalt Mag. Georg BÜRSTMAYR seine Vollmacht bekannt.
15. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.03.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W173 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 zugewiesen, wo dieses am 01.04.2021 einlangte.
16. Mit Eingabe vom 11.06.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen und Urkunden vor und gab eine Stellungnahme zum Verfahrensstand ab. Dazu führte er im Wesentlichen aus, dass der Vater des Beschwerdeführers in der Zwischenzeit seine Tätigkeit bei der XXXX eingestellt habe, er jedoch weiterhin von den Taliban verfolgt werde. Er halte sich aktuell an verschiedenen Orten versteckt und lebe getrennt von der Mutter des Beschwerdeführers und dessen Geschwister. Der Beschwerdeführer stehe mit seinem Vater in telefonischen Kontakt. Das Datum des Drohbriefes, den der Vater des Beschwerdeführers von den Taliban erhalten habe, entspreche dem 20.03.2017 und nicht dem 20.03.2012. Der Vater habe sich aufgrund der Bedrohungen im Jahr 2017 sowohl an seinen Arbeitgeber gewendet als auch an die lokalen Sicherheitsbehörden. Er habe bei der XXXX zum damaligen Zeitpunkt eine Position innegehabt, die dem mittleren Management entspreche. Des Weiteren würden, laut dem vorgelegten Artikel der New York Times die Vereinigten Staaten und Deutschland beabsichtigen bis Juli 2021 ihre Streitkräfte von Afghanistan abzuziehen. Mit den offiziellen Streitkräften würden auch rund 17.000 private Unternehmer, darunter auch Techniker, das Land verlassen. Dies stelle die einschneidendste sicherheitspolitische Entwicklung in Afghanistan der vergangenen 20 Jahre dar. Der Afghanistan Experte Thomas RUTTIG habe festgehalten, dass die Taliban, nach Bekanntgabe des vorzeitigen Abzugs der Streitkräfte, ihre Teilnahme an der Friedenskonferenz in Istanbul abgesagt hätten. Beobachter würden von einer „ungebremsten Kampfsaison“ und Taliban-Angriffen auf die Provinzhauptstädte ausgehen. RUTTIG habe auch darauf hingewiesen, dass die Zahl der zivilen Opfer im ersten Quartal 2021 aufgrund der steigenden Kämpfe um 29 % höher gewesen wäre. Der afghanische Innenminister habe gesagt, dass die afghanische Regierung, im Falle des Abzugs der US-Truppen, die Kontrolle verlieren würde. RUTTIG habe dazu außerdem gesagt, dass kurz- bis mittelfristig auch die finanzielle Unterstützung der afghanischen Regierung wegfallen werde. Des Weiteren dürfe eine innerstaatliche Fluchtalternative laut UNHCR Richtlinien nur angenommen werden, wenn die Person an diesem Ort dauerhaft Sicherheit und eine Existenzgrundlage vorfinde und, laut der Rechtsprechung des VwGH, (27.07.2017, Ra 2016/22/0066) seien im Entscheidungszeitpunkt aktuelle Berichte über die Lage im Herkunftsstaat zugrunde zu legen, und wies darauf hin, dass das Länderinformationsblatt vom 01.04.2021 keine Prognose über die Entwicklung der Sicherheits- und Versorgungslage nach dem 04.07.2021 zulasse. Laut RUTTIG bestehe die Gefahr, dass die afghanische Regierung nach Abzug der ausländischen Truppen an Einfluss verliere. Bereits jetzt hätten die Taliban mehrere afghanische Distrikte zurückerobern können. Auch die Städte Herat und Mazar-e Sharif würden davon betroffen sein. Somit stehe dem Beschwerdeführer keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.
Schlussendlich lebe der Beschwerdeführer seit ca. fünf Jahren ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet. Von August 2020 bis Mai 2021 sei er einer befristeten Erwerbstätigkeit als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter nachgegangen. Aufgrund dessen sei er seit August 2020 selbsterhaltungsfähig. Zwischenzeitlich habe der Beschwerdeführer einen neuen Arbeitgeber gefunden, der beim AMS eine Beschäftigungsbewilligung beantragt habe. In der Zwischenzeit beziehe der Beschwerdeführer Arbeitslosengeld. Er spreche außerdem Deutsch auf dem A2 Niveau und habe 2021 die Integrationsprüfung auf dem B1 Niveau abgelegt, jedoch nur teilweise positiv bestanden. Für den Pflichtschulabschluss würden dem Beschwerdeführer noch zwei Prüfungen fehlen. Er habe eine „Patin“, gute Beziehungen zu seinem ehemaligen Arbeitgeber und zum Teil mehrjährige Freundschaften.
17. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.06.2021 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen, der Situation im Falle seiner Rückkehr und zu seiner Situation in Österreich befragt wurde. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil. Der belangten Behörde wurde die Niederschrift der Verhandlung übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, innerhalb einer dreiwöchigen Frist, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Der Beschwerdeführer verwies durch seine bevollmächtigte Vertretung auf die bereits schriftlich eingebrachte Stellungnahme.
18. Mit Eingabe vom 30.06.2021 gab der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme zu den anlässlich der mündlichen Verhandlung ausgehändigten Berichten zur allgemeinen Situation in Afghanistan ab. Dazu führte er zusammengefasst aus, dass laut „orf.at“ seit dem tatsächlichen Beginn des Abzugs der NATO-Truppen aus Afghanistan die Volatilität der Sicherheitslage derart zugenommen habe, dass eine auch nur mittelfristige Prognose – sowohl betreffend die Sicherheitslage und die generellen Entwicklungen in Afghanistan als auch das mögliche Schicksal des Beschwerdeführers für den Fall der Rückkehr – nicht mehr möglich scheine. Die Taliban hätten acht weitere Bezirke im Norden Afghanistans eingenommen und 50 Bezirke neu erobert. Örtliche Politiker würden auch Zivilisten aufrufen, sich zu bewaffnen. In der Umgebung von Mazar-e Sharif, in der Provinz Balkh seien zwei Bezirke bereits von den Taliban eingenommen worden, drei weitere würden kurz vor dem Fall stehen. Nach derzeitigem Stand lasse sich aufgrund der vorliegenden Informationen für keinen Teil Afghanistans eine auch nur mittelfristige Prognose treffen, dass einem nach jahrelangem Aufenthalt in Europa nach Afghanistan abgeschobenen afghanischen Staatsbürger dort weder die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Verhältnisse im Sinne des Art. 3 EMRK drohe. Es scheine, dass es den Taliban entweder noch vor dem 11.09.2021, jedenfalls aber danach, gelingen werde, die Macht in ganz Afghanistan wieder an sich zu reißen. Rückkehrende müssten mit landesweiten Verfolgungshandlungen durch die Taliban rechnen, weil diese generell den Rückkehrenden eine abweichende religiöse Einstellung unterstellen würden. Eine gegenteilige Prognose könne derzeit nicht getroffen werden. Nach der Judikatur des VfGH müssten Länderberichte dann besonders aktuell sein, wenn die Lage im Herkunftsstaat besonders volatil sei. In Afghanistan, wo sich die Sicherheitslage in einem Zeitraum von zehn Tagen verändere, bedeute das, dass tragfähige Prognosen im positiven Sinn nicht angestellt werden könnten.
19. Mit Eingabe vom 06.07.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung den Bescheid des AMS vom 22.06.2021 über eine Beschäftigungsbewilligung im Zeitraum von 23.06.2021 bis 22.06.2022 vor.
20. Das Bundesverwaltungsgericht holte am 16.07.2021 einen Auszug aus dem AJ-Web ein, wonach der Beschwerdeführer seit laufend als Arbeiter in einem Beschäftigungsverhältnis gemeldet ist.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , er kennt sein genaueres Geburtsdatum nicht, er ist ca. 20 Jahre alt. Für Identifikationszwecke wird das Geburtsdatum des Beschwerdeführers mit XXXX festgestellt. Er wurde im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Kunduz geboren und ist afghanischer Staatsbürger, Paschtune und sunnitischer Moslem. Er gehört einem großen Stamm namens XXXX an. In diesem Stamm gilt „Paschtunwali“ (Ehren- und Verhaltenskodex).
Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari, Deutsch und etwas Englisch. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Sein Vater heißt XXXX , seine Mutter heißt XXXX . Er hat zwei Brüder, XXXX (ca. 8 Jahre) und XXXX (ca. 6 Jahre). Er ist der älteste Sohn der Familie.
Er hat in seinem Heimatdorf für sieben Jahre die Grundschule besucht.
Seine Familie lebt nach wie vor in seinem Heimatdorf in der Provinz Kunduz. Die Familie besitzt, gemeinsam mit seinem Onkel väterlicherseits, ein Grundstück in der Größe von 2000 m². Sein Vater war für die XXXX tätig, seine Mutter ist Hausfrau. Er hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Familie.
Er hat einen Onkel väterlicherseits, namens XXXX , welcher ein Lebensmittelgeschäft in der Provinz Kunduz, im Distrikt XXXX , besitzt. Er hat auch zwei Tanten und einen Onkel mütterlicherseits in Kunduz, im Distrikt XXXX , welche Hilfsarbeiter sind.
Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen jungen gesunden Mann, der arbeitsfähig und auch arbeitswillig ist, und dem eine grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben zuzumuten ist. Er wuchs mit seiner afghanischen Familie im Familienverband auf und wurde damit in Afghanistan sozialisiert.
Er stellte am 15.04.2016 als Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Dem Beschwerdeführer droht in seiner Herkunftsregion keine Verfolgung durch die Taliban, aufgrund der Tätigkeit seines Vaters bei der XXXX . Der Beschwerdeführer wurde von den Taliban auch nicht bedroht.
1.2.2. Dem Beschwerdeführer droht auch aufgrund des Aufenthaltes in Europa und der Rückkehr aus Europa keine physische oder psychische Gefahr in Afghanistan.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen ihm individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität.
1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit April 2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 15.04.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Er besuchte Deutschkurse und in seiner Freizeit spielt er Fußball, Volleyball und Kricket, beziehungsweise besucht er das Fitnessstudio.
In der Zeit vom 21.10.2016 bis 07.07.2017 besuchte er das Bildungsangebot XXXX . Die entsprechende Prüfung legte er am 27.06.2017 erfolgreich ab und erhielt das Zertifikat A1 des ÖIF.
Am 12.07.2017 nahm er an der Informationsveranstaltung „ XXXX “ der Caritas teil.
Am 11.04.2018 absolvierte er die Integrationsprüfung bestehend aus Inhalten der Sprachkompetenz A2 des Österreichischen Integrationsfonds.
In der Zeit vom 04.03.2019 bis 28.02.2020 besuchte er regelmäßig den Unterricht im Projekt XXXX , dabei legte er vier von sechs Prüfungen an der Prüfungsschule XXXX positiv ab.
In der Zeit vom 17.08.2020 bis 31.12.2020 und in der Zeit vom 01.01.2021 bis 19.05.2021 erhielt er vom AMS XXXX und Umgebung eine Beschäftigungsbewilligung (Branchenkontingent) für die berufliche Tätigkeit als Stallarbeiter bzw. als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter für eine Ganztagsbeschäftigung mit einem monatlichen Entgelt von € 1.434,00 brutto.
Am 19.05.2021 nahm er an der Integrationsprüfung auf B1-Niveau teil und bestand die Teile „Sprechen“ und „Werte- und Orientierungswissen“, aber nicht die Teile „Hören/Lesen“ und „Schreiben“.
Von 20.05.2021 bis 01.07.2021 bezog er Arbeitslosengeld.
Seit dem 01.07.2021 arbeitet er in der Pizzeria XXXX in XXXX , im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche, aufgrund einer Beschäftigungsbewilligung des AMS für die berufliche Tätigkeit als Küchengehilfe, für die Zeit von 23.06.2021 bis 22.06.2022, für eine Ganztagsbeschäftigung im Ausmaß von 40 Stunden pro Woche und mit einem monatlichen Entgelt von EUR 1.575,00 brutto. Er ist selbsterhaltungsfähig und lebt nicht mehr von der Grundversorgung.
Seit Mitte Oktober 2020 lebt er im Haus seiner Patin, XXXX . Sie kochen und putzen gemeinsam und feierten auch Weihnachten gemeinsam mit ihrer Familie. Des Weiteren hat er mehrere österreichische Freunde.
Er wird von seinen Vertrauenspersonen als bemüht, fleißig, zuverlässig, sorgfältig, mit einem guten und geduldigen Umgang mit Tieren, höflich, hilfsbereit, wissbegierig, ruhig, zielstrebig, ehrgeizig, ehrlich, gewissenhaft, verantwortungsbewusst, bescheiden, freundlich, offen, nett, sympathisch, beliebt, ambitioniert, lernwillig, liebenswert, verlässlich, selbstständig, rücksichtsvoll und engagiert beschrieben.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsdistrikt in der Provinz Kunduz aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Dem Beschwerdeführer steht als innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative die Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm, auch unter Berücksichtigung des fehlenden familiären und sozialen Netzwerkes in Mazar-e Sharif sowie der Folgen der aktuellen COVID-19-Pandemie, möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können. Die Gefahr in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten besteht sohin nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, weshalb ihm im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan kein Eingriff im Sinne des Art. 2 und Art. 3 EMRK in seine körperliche Unversehrtheit droht.
Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Er verfügt über eine siebenjährige Schuldbildung in Afghanistan und über Schulbildung in Österreich sowie über Berufserfahrung als Stallarbeiter und landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter in Österreich. Er kann anfänglich Unterstützung durch seinen Stamm XXXX und durch seine Familie, die in Afghanistan lebt, erhalten. Er ist in Afghanistan geboren und aufgewachsen, ihm sind die kulturellen und sozialen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut und er spricht einer der in Afghanistan gesprochenen Sprache (Paschtu) als Muttersprache. Die in Österreich erworbene Berufserfahrung wird er bei einem Leben in Mazar-e Sharif nutzen können, selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen, einer Arbeit nachgehen und sich selbst erhalten können.
Die COVID-19-Pandemie stellt für den Beschwerdeführer kein Hindernis dar. Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und hat keine spezifischen Vorerkrankungen, zählt deshalb nicht zu den spezifischen Risikogruppen betreffend COVID-19. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Der Beschwerdeführer kann Mazar-e Sharif von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Fassung vom 11.06.2021 (LIB)
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)
- Homepage der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 12.07.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 12.07.2021 (WHO)
- Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Taliban Drohbriefen vom 28.06.2016 (Staatendokumentation)
1.5.1 Allgemeine Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht.
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte.
Die Sicherheitslage im Jahr 2021
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung.
Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte. Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert.
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt. Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 %.
Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu.
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten.
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand. Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar.
Zivile Opfer
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013.
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen.
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht.
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe.
Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet.
High-Profile Angriffe (HPAs)
High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu.
1.5.2 Medizinische Versorgung
Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten.
Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren.
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden. Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt. Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene. Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material.
Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen.
Auswirkungen der Sicherheitslage auf die medizinische Versorgung
Die Sicherheitslage hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste. Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen werden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeiter weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wird. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt. Das direkte Anvisieren von Gesundheitseinrichtungen und Personal führt nicht nur zu unmittelbaren Todesfällen und Verletzungen, sondern zwingt viele Krankenhäuser dazu, lebenswichtige medizinische Leistungen auszusetzen oder ganz zu schließen.
Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bzw. Beschränkungen des Zuganges zu Gesundheitseinrichtungen setzen sich im Jahr 2021 fort. UNAMA verifizierte zwischen 1.1.2020 und 31.12.2020 90 Angriffe, welche die Gesundheitsversorgung beeinträchtigten. Ein Anstieg um 20% im Vergleich zu 2019. Diese Vorfälle umfassen sowohl direkte Angriffe oder Drohungen gegen Gesundheitseinrichtungen und Personal, als auch wahllose Angriffe, die zu zufälligen Schäden an Gesundheitseinrichtungen und geschütztem Personal führen. Ein Trend aus dem Jahr 2019 setzte sich 2020 fort, indem die Taliban eine Reihe von Gesundheitszentren bedrohten und medizinisches Personal entführten, um sie zu verschiedenen Handlungen zu zwingen, wie z. B. sich mit ihnen zu koordinieren, ihre Kämpfer medizinisch zu versorgen, Medikamente und Einrichtungen zu übergeben, Sondersteuern zu zahlen oder ihre Dienste an einen anderen Ort zu verlagern. Die Taliban bedrohten das Jahr 2020 hindurch Gesundheitszentren. So erzwangen die Taliban beispielsweise am 11.11.2020 in der Provinz Badakhshan die Schließung von 17 Gesundheitszentren in sechs Distrikten. In der Provinz Samangan sind seit dem 4.11.2020 22 Gesundheitseinrichtungen geschlossen geblieben, was die Bereitstellung von Gesundheits- und Ernährungsdiensten in der Provinz behindert.
COVID-19
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf., einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (WHO).
Die COVID-19-Pandemie hat sich negativ auf die Bereitstellung und Nutzung grundlegender Gesundheitsdienste in Afghanistan ausgewirkt, und zwar aufgrund von COVID-19-bedingten Bewegungseinschränkungen, dem Mangel an medizinischem Material und persönlicher Schutzausrüstung sowie der Abneigung der Gemeinschaft, Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Überweisungen ging von April bis Juni 2020 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019 um fast 25 Prozent zurück, während die Zahl der chirurgischen Eingriffe laut WHO um etwa 33 Prozent sank. Infolgedessen geht die WHO davon aus, dass die Sterblichkeit durch behandelbare und durch Impfung vermeidbare Gesundheitszustände im Jahr 2021 ansteigen könnte.
Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung.
Zugang zu medizinischen Versorgung
Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren 2020 bis zu drei Millionen Menschen durch die Schließung von Gesundheitseinrichtungen durch Konfliktparteien, vom Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdienstleistungen abgeschnitten, oft in den am stärksten gefährdeten, konfliktbetroffenen Gebieten. Dies auch im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie in Afghanistan, wo die in konfliktbetroffenen Gebieten lebende Bevölkerung eine geringere Wahrscheinlichkeit hatte, Tests und kritische, lebensrettende medizinische Behandlungen zu erhalten. Es ist damit zu rechnen, dass der Verlust von medizinischem Personal und die beschädigte medizinische Infrastruktur lang anhaltende Folgen für das Gesundheitssystem haben werden.
Zugang zur Behandlungsmöglichkeiten
Eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen, oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen. Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Es wird von schlechten hygienischen Bedingungen in öffentlichen Krankenhäusern berichtet und von Ärzten, die nur wenige Stunden im Krankenhaus anwesend sind, weil sie ihre eigenen privaten Praxen haben. Nach Daten aus dem Jahr 2017 waren 76 % der in Afghanistan getätigten Gesundheitsausgaben sogenannte "out-of-pocket"-Zahlungen der Patienten (WB n.d.b). Die Qualität und Kosten der Kliniken variiert stark, es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf.
Die Haupthindernisse für den Zugang zur Gesundheitsversorgung in Afghanistan sind demnach die hohen Behandlungskosten, der Mangel an Ärztinnen, die großen Entfernungen zu den Gesundheitseinrichtungen und eine unzureichende Anzahl an medizinischem Personal in den ländlichen Gebieten, Korruption und Abwesenheit des Gesundheitspersonals, sowie Sicherheitsgründe.
In privaten Krankenhäusern ist die Ausstattung besser, es gibt mehr medizinisches Personal und die Ärzte sind erfahrener als in öffentlichen Einrichtungen, wobei das Hauptproblem die mangelnde Zugänglichkeit für den armen Teil der Bevölkerung ist.
Viele Staatsangehörige - die es sich leisten können - gehen zur medizinischen Behandlung ins Ausland nach Pakistan oder in die Türkei - auch für kleinere Eingriffe. In Pakistan zum Beispiel ist dies zumindest für die Mittelschicht vergleichsweise einfach und erschwinglich.
Zugang zu Medikamenten
Sowohl die Quantität als auch die Qualität von essentiellen Medikamenten sind eine große Herausforderung für das afghanische Gesundheitssystem. Da es keine nationale Regulierungsbehörde gibt, sind Medikamente, Impfstoffe, biologische Mittel, Labormittel und medizinische Geräte nicht ordnungsgemäß reguliert, was die Gesetzgebung und die Durchsetzung von Gesetzen fast unmöglich macht. Die Funktion der Regulierungsbehörde ist auf verschiedene Regierungsstellen aufgeteilt, darunter die Generaldirektion für pharmazeutische Angelegenheiten, das Labor für Qualitätskontrolle und die Abteilung für Gesundheitsgesetzgebung. Traditionelle Medizin ist weit verbreitet, da sie weniger teuer und leichter zugänglich ist.
Medizinische Versorgungseinrichtungen in Mazar-e Sharif
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer; jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken; 20% dieser Gesundheitskliniken finanzieren sich selbst, während 80% öffentlich finanziert sind.
Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Anstelle des durch einen Brand zerstörten Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses. Balkh gehörte bei einer Erhebung von 2016/2017 zu den Provinzen mit dem höchsten Anteil an Frauen, welche einen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben.
1.5.3 Grundversorgung und Wirtschaft
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index. Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig.
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus. Eine Reihe von U.S.-Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020, aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht.
1.5.3.1. Armut und Lebensmittelunsicherheit
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden.
In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% in Afghanistan ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, sind es in urbanen Gebieten rund 41,6%.
Lebensmittelunsicherheit
Laut einer IPC-Analyse [Anm.: Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen] vom April 2021 hatten für den Zeitraum März bis Mai 2021 fast 11 Millionen Menschen in Afghanistan aufgrund von Konflikten, COVID-19, hohen Lebensmittelpreisen und grassierender Arbeitslosigkeit ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit (IPC-Phase 3 oder höher) zu erwarten. Zwischen Juni und November 2021 (Ernte- und Nacherntesaison) wird eine leichte Verbesserung der Ernährungssicherheit erwartet, wobei die Anzahl der Menschen in IPC-Phase 3 oder höher auf 9,5 Millionen sinkt, wobei 6,7 Millionen in IPC-Phase 3 (Krise) und 2,7 Millionen in der IPC-Phase 4 (Notfall) sein werden.
Die COVID-19-Krise führte kurzfristig zu einem deutlichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit und einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise. Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, wieder gesunken zu sein. Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht lagen die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 weiterhin über dem Durchschnitt, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel auf den Quellmärkten zurückzuführen ist, insbesondere für Weizen in Kasachstan. Auf nationaler Ebene waren die Preise für Weizenmehl in Afghanistan von November bis Dezember 2020 stabil, allerdings auf einem Niveau, das 11% über dem des letzten Jahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Die Preise der meisten Grundnahrungsmittel sind von März bis April 2021 auf den wichtigsten Märkten in Afghanistan leicht gesunken oder stabil geblieben.
Die afghanischen Grenzen sind alle offen, was den normalen Handel mit Lebensmitteln erleichtert. Insgesamt werden in den kommenden Monaten zwar keine signifikanten zusätzlichen negativen Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit erwartet, aber die anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind in Afghanistan immer noch sichtbar. Insbesondere wird erwartet, dass die unterdurchschnittliche Anzahl von Wanderarbeitern im Iran zu unterdurchschnittlichen Überweisungen für ländliche und städtische Haushalte beitragen wird.
Die Situation der Ernährungssicherheit hat sich im Vergleich zu den letzten drei Jahren und im Vergleich zu den Prognosen aus früheren Analysen relativ verbessert. Die Verbesserung ist auf die geringeren Auswirkungen von COVID-19 als ursprünglich prognostiziert und die Aufstockung der humanitären Nahrungsmittelhilfe als Reaktion auf die COVID-19-Krise zurückzuführen. Eine erhebliche Aufstockung der humanitären Hilfe seit dem letzten Quartal 2020 hat erheblich dazu beigetragen, die akute Ernährungsunsicherheit in der aktuellen Periode zu mildern, insbesondere in Provinzen, die in der vorherigen Analyse für die aktuelle Periode in Phase 4 prognostiziert wurden. Die Situation der Ernährungssicherheit ist jedoch nach wie vor besorgniserregend und wird sich in der mageren Jahreszeit 2021-2022 voraussichtlich weiter verschlechtern.
Die trockenere Witterung hat laut Feldberichten den Weizen in kritischen Blühstadien in tieferen Lagen beeinträchtigt, hauptsächlich in regengespeisten und flussabwärts bewässerten Gebieten. Die Wahrscheinlichkeit einer unterdurchschnittlichen Weizenproduktion ist in den regengespeisten Gebieten der nördlichen, westlichen und einigen nordöstlichen Provinzen höher. Seit Ende Mai 2021 hat die Weizenernte in den tiefer gelegenen Gebieten der östlichen, südlichen und nordöstlichen Provinzen begonnen. Gleichzeitig wurden intensive Konflikte in den südlichen, nordöstlichen und östlichen Provinzen gemeldet, die zu erheblichen Vertreibungen führten und den Zugang zu den Feldern während des Höhepunkts der Erntesaison behinderten.
1.5.3.2. Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten
Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen.
Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht.
Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken.
Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen.
Rückkehrende können bis zu zwei Wochen im IOM Empfangszentrum Spinzar Hotel unterkommen. Die Kosten dafür betragen 1.425 AFN pro Nacht. Viele Rückkehrer wohnen nach ihrer Ankunft übergangsweise in Teehäusern. Diese waren während des Lockdowns in Afghanistan im März 2020 vorübergehend geschlossen, sind jedoch aktuell wieder geöffnet.
1.5.3.3. Arbeitsmarkt
Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in "prekären Beschäftigungsverhältnissen", mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten sind Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten, auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt.
Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzte