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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des H S, vertreten durch Dr. Hans Georg Laimer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stubenbastei 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Oktober 2020, W155 2206933-1/7E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, stellte am 9. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er zusammengefasst mit einer Verfolgung durch die Taliban aufgrund der Tätigkeit seines Bruders für ein englisches Unternehmen begründete.
2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 30. August 2018 wurde der Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz vollinhaltlich abgewiesen, dem Revisionswerber kein Aufenthaltstitel gemäß §57 Asylgesetz 2005 erteilt, eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen, festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt.
3 Der dagegen erhobenen Beschwerde legte der Revisionswerber unter anderem eine Kopie des britischen Visums seines Bruders, ein behördliches Schreiben vom 3. Juni 2013, ein Urteil des Landesgerichts Nangarhar vom 5. Juli 2013 sowie ein Urteil eines Ältestenrats vom 26. Juni 2014 vor und führte dazu aus, dass das Haus der Familie des Revisionswerbers nach der Rückkehr des Bruders von seiner Arbeit mehrmals angegriffen und ein anderer Bruder des Revisionswerbers dabei getötet worden sei. Nach der Ausreise des Revisionswerbers sei auch der Vater bei der Verteidigung gegen einen derartigen Angriff verstorben. Die Angriffe gingen von Nachbarn mit einem Naheverhältnis zu den Taliban aus, die die beigelegten Urteile zu einem Grundstücksstreit nicht akzeptieren würden und aufgrund der Tätigkeit des Bruders für „die Engländer“ die gesamte Familie als „Ungläubige“ wahrnehmen würden. Obwohl sich die Familie an die Behörden vor Ort um Hilfe gewandt habe, hätten diese nichts für sie tun können. Das BFA habe Ermittlungstätigkeiten zur Tätigkeit des Bruders sowie zur Verfolgung durch die Nachbarn unterlassen.
4 Mit Schriftsatz vom 9. Juli 2020 brachte der Revisionswerber unter anderem vor, sein - dort namentlich genannter - Bruder habe von 2010 bis Ende 2014 für die britischen Truppen in Afghanistan bei einer näher genannten Einheit als Dolmetscher gearbeitet, aus Sicherheitsgründen habe der Bruder Zeit seines Aufenthalts in Afghanistan seinen genauen Arbeitgeber verschwiegen. Im Rahmen eines näher zitierten Aufnahmeprogrammes der britischen Regierung für afghanische Ortskräfte habe der Bruder ein Visum für Großbritannien bekommen und sich dort niedergelassen. Unter einem wurde die zeugenschaftliche Einvernahme des Bruders unter Angabe seiner genauen Meldeadresse in Großbritannien samt Telefonnummer und E-Mail-Adresse zum Beweis für dessen Tätigkeit für die britischen Streitkräfte beantragt. Dies würde weiters beweisen, dass der Bruder des Revisionswerbers nach den UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 unter die Risikogruppe der „Zivilisten, die mit den internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen“ und der Revisionswerber selbst unter die Risikogruppe der „Familienangehörigen von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen“ fielen.
5 Im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20. Juli 2020 wurde festgehalten, dass „wegen geklärter Sach- und Rechtslage [...] von der Vornahme weiterer Ermittlungen, insbesondere der Einvernahme der beantragten Zeugen (Bruder des BF) zu seiner beruflichen Tätigkeit Abstand genommen“ werde.
6 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies sodann die Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 30. Oktober 2020 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
7 Begründend führte das BVwG - soweit für das gegenständliche Verfahren wesentlich - aus, der Revisionswerber sei keiner konkreten und gezielt gegen seine Person gerichteten Verfolgung ausgesetzt gewesen, auch für den Fall seiner Rückkehr habe er keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft gemacht. Diesbezüglich stützte sich das BVwG in seiner Beweiswürdigung auf unterschiedliche Angaben im Verlauf des Verfahrens und mangelnde Details in der Erzählung der Übergriffe. Schließlich hielt das BVwG in seiner Beweiswürdigung abschließend fest:
„Lediglich der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es als notorische Tatsache gilt, dass sich Taliban gerade hochrangige Politiker oder Militärangehörige oder sonst in irgendeiner Weise exponierte Personen zum Ziel ihrer Verfolgung machen. Ausgehend davon, dass der Beschwerdeführer nicht in eine der genannten Risikogruppen fällt, sind somit keine Anhaltspunkte gegeben, weswegen gerade der Beschwerdeführer aufgrund der - nunmehr überdies mittlerweile beendeten beruflichen Tätigkeit seines Bruders für ein englisches Unternehmen - einer landesweiten Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt sein soll.“
8 Im Rahmen der Prüfung der Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten hielt das BVwG fest, dass dem Revisionswerber eine Rückkehr nach Nangarhar nicht möglich sei, jedoch stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat offen.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen vorbringt, das BVwG habe seine Pflicht zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts mehrfach verletzt. So habe das BVwG im Zusammenhang mit dem Vorbringen des Revisionswerbers, wonach sein Bruder für die britischen Streitkräfte gearbeitet habe, zu Unrecht von der beantragten Zeugeneinvernahme des Bruders abgesehen, die vorgelegten Dokumente aus Afghanistan nicht gewürdigt und die aktuellen Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 (UNHCR-Richtlinien) hinsichtlich des Risikoprofils des Revisionswerbers und seines Bruders entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht beachtet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.
12 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen (vgl. VwGH 10.8.2020, Ra 2018/19/0228, mwN).
13 Wie in der Revision, in der auch die Relevanz des Verfahrensfehlers aufgezeigt wird, zu Recht geltend gemacht wird, lagen diese Gründe, wonach von der beantragten Beweisaufnahme durch Einvernahme des Bruders hätte Abstand genommen werden dürfen, im vorliegenden Fall nicht vor. Vielmehr stellen sich die oben wiedergegebenen Überlegungen des BVwG als eine vorgreifende Beweiswürdigung dar, weitere Ausführungen zur unterbliebenen Beweisaufnahme finden sich in dem angefochtenen Erkenntnis nicht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf die freie Beweiswürdigung gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier iVm § 17 VwGVG) aber erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 3.12.2020, Ra 2020/20/0094 bis 0096, mwN).
14 Die Revision weist auch zu Recht darauf hin, dass das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Beachtung der UNHCR-Richtlinien abgewichen ist. Nach dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den UNHCR-Richtlinien aufgrund des einschlägigen Unionsrechts besondere Beachtung zu schenken. Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. VwGH 11.3.2020, Ra 2019/18/0443, mwN).
15 In den UNHCR-Richtlinien wird unter anderem ausgeführt, dass „Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen“ einem Risikoprofil unterliegen würden. Regierungsfeindliche Kräfte hätten Berichten zufolge Familienangehörige von Personen mit den angeführten Profilen als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. Insbesondere seien Verwandte, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführung, Gewalt und Tötung geworden (vgl. S. 49 und 54 der UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018).
16 Die Revision macht zu Recht geltend, dass sich das BVwG aufgrund der unterbliebenen Beweisaufnahme nicht nachvollziehbar und unzureichend damit auseinandergesetzt hat, ob dem Revisionswerber angesichts der vorgebrachten Tätigkeit seines Bruders als Dolmetscher für die britischen Streitkräfte eine Verfolgung durch die Taliban drohe; es fehlen auch jegliche Feststellungen dazu. Insbesondere hat sich das BVwG - entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach den UNHCR-Richtlinien besondere Beachtung beizumessen ist - nicht mit den entsprechenden Passagen dieses Berichtes auseinandergesetzt und sich begründungslos über den Beweisantrag des Revisionswerbers auf zeugenschaftlichen Einvernahme des Bruders einerseits und die vorgelegten Urkunden andererseits hinweggesetzt.
17 Auch die Alternativbegründung des BVwG, wonach dem Revisionswerber selbst im Fall einer Wahrunterstellung eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung stehe, steht in diesem Zusammenhang entgegen, dass sich das BVwG nicht mit den entsprechenden Ausführungen in den UNHCR-Richtlinien auseinandersetzte, wonach „angesichts des geografisch großen Wirkungsradius u.a. der Taliban für Personen, die durch solche Gruppen verfolgt werden, keine IFA existiert“.
18 Da das BVwG die beantragte Beweisaufnahme und die gebotene Auseinandersetzung mit den aktuellen UNHCR-Richtlinien fallbezogen unterließ, hat es sein Verfahren mit einem Verfahrensmangel belastet.
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.
20 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 28. Juli 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180523.L00Im RIS seit
03.09.2021Zuletzt aktualisiert am
03.09.2021