TE Vwgh Erkenntnis 2021/8/5 Ra 2021/18/0102

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Veröffentlicht am 05.08.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Jänner 2021, W252 2183644-1/30E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: K O, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis erkannte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) dem Mitbeteiligten, einem afghanischen Staatsangehörigen, aufgrund seines Antrags auf internationalen Schutz vom 11. Juli 2015 (im zweiten Rechtsgang nach einem teilaufhebenden Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Oktober 2020, Ra 2020/18/0284-11) den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

2        Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber könne aufgrund der volatilen Sicherheitslage nicht in seine Herkunftsprovinz (Kunduz) zurückkehren. Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan stehe ihm nicht zur Verfügung. Ihm sei daher subsidiärer Schutz zu gewähren.

3        Dagegen wendet sich die vorliegende Amtsrevision, die zur Zulässigkeit und in der Sache geltend macht, das BVwG habe nicht nachvollziehbar begründet, warum dem Revisionswerber in den afghanischen Städten Herat und/oder Mazar-e Sharif keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehen sollte. Die Feststellung des BVwG, die im Herkunftsstaat verbliebenen Familienangehörigen könnten den Mitbeteiligten nicht finanziell unterstützen, sei nicht nachvollziehbar, weil das BVwG auch festgestellt habe, dass der Bruder ihn vor seiner Flucht finanziell erhalten habe, die Familie mehrere Grundstücke in Afghanistan besitze, deren Bewirtschaftung den Lebensunterhalt sichere, und der Onkel ein Geschäft betreibe. Weshalb vor diesem Hintergrund keine finanzielle Unterstützung durch die Familie möglich sei, erschließe sich mangels nachvollziehbarer Begründung nicht. Bei der Feststellung, der Mitbeteiligte verfüge über nur geringe Arbeitserfahrung, lasse das BVwG die in Österreich erworbene Berufserfahrung als Lehrling für Metalltechnik und die dadurch erlangte Selbsterhaltungsfähigkeit außer Acht. Auch die Feststellung, der Mitbeteiligte sei im Entscheidungszeitpunkt weiterhin Analphabet, sei durch die Ermittlungsergebnisse nicht gedeckt. So habe das BVwG festgestellt, dass der Mitbeteiligte Deutschprüfungen der Niveaustufen A1 und A2 abgelegt habe und eine Lehre absolviere. Außerdem sei festgestellt worden, dass der Mitbeteiligte das Neue Testament gelesen habe. Diese Umstände ließen nicht darauf schließen, dass der Mitbeteiligte Analphabet sei. Die Annahme des BVwG, dass in den als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Städten Herat und Mazar-e Sharif Ausgangsbeschränkungen bestünden und somit der Zugang zu Arbeit und Unterkunft eingeschränkt sei, beruhe auf veralteten Länderberichten. Das BVwG hätte seinem Erkenntnis das zum Entscheidungszeitpunkt aktuelle Länderinformationsblatt vom 16. Dezember 2020 zugrunde legen müssen, aus dem sich ergebe, dass in den genannten Städten keine Ausgangsbeschränkungen bestünden und Unterkünfte, wie Hotels und Teehäuser, aktuell geöffnet seien. Die aufgezeigten Verfahrensmängel seien wesentlich, weil das BVwG die Unzumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative maßgeblich auf die fehlende finanzielle Unterstützung, die Analphabeteneigenschaft, die geringe Arbeitserfahrung und Schulbildung und die Lockdown-bedingten Schwierigkeiten beim Zugang zu Arbeit und Unterkunft gestützt habe. Wie aufgezeigt seien die diesbezüglichen Feststellungen des BVwG aber mit Begründungs- und Ermittlungsmängeln behaftet.

4        Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der die Zurück-, hilfsweise die Abweisung der Amtsrevision beantragt wird.

5        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6        Die Revision ist zulässig und begründet.

7        Im (teil-)aufhebenden Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Oktober 2020, Ra 2020/18/0284-11, im ersten Rechtsgang wurde beanstandet, dass sich das BVwG mit der COVID-19-Pandemie nur insoweit beschäftigt hatte, als es allgemein ausgeführt hatte, dass diese Viruserkrankung am häufigsten bei älteren Personen und Personen mit Vorerkrankungen zu schweren Krankheitsverläufen führe (Personengruppen, zu denen der Mitbeteiligte nicht gehöre) und deshalb im Falle des Mitbeteiligten keine reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK erkennbar sei. Bei dieser Beurteilung sei übersehen worden, dass auch die Frage der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative (konkret in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif) geprüft werden müsse und dabei nicht nur auf die Gefahr einer schweren Erkrankung des Mitbeteiligten Bedacht zu nehmen wäre, sondern auch die sonstigen Auswirkungen der Pandemie auf seine Rückkehrsituation (Versorgungslage, Unterkunft, Arbeitsmarkt) Berücksichtigung finden müssten. Diesbezügliche Feststellungen zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie waren dem damals in Prüfung gezogenen Erkenntnis des BVwG nicht zu entnehmen gewesen.

8        Ohne Durchführung einer weiteren Verhandlung erließ das BVwG im Folgenden das angefochtene Erkenntnis, in dem es festhielt, dem Mitbeteiligten sei eine Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner individuellen Umstände in Zusammenschau mit der durch die COVID-19-Pandemie bedingten wirtschaftlichen Situation und den damit für Rückkehrer verbundenen Einschränkungen in den Städten Mazar-e Sharif und Herat aktuell nicht zumutbar. Der Mitbeteiligte habe bis zu seiner Ausreise zwar in Afghanistan gelebt, jedoch nur ein Jahr die Schule besucht und sei Analphabet. Zudem verfüge er lediglich über geringe Arbeitserfahrung, weil er vor der Ausreise nur bei seinem Bruder mitgearbeitet habe. Er habe in Mazar-e Sharif und Herat keine unterstützungswilligen Verwandten. Es sei nicht davon auszugehen, dass die im Herkunftsstaat verbliebenen Familienangehörigen ihn maßgeblich finanziell unterstützen könnten. Bei Rückkehr werde er zu Beginn nur Gelegenheits- oder Hilfsarbeiten annehmen können. Durch die COVID-19 bedingten Lockdowns in den Städten Herat und Mazar-e Sharif sei es gerade für Gelegenheitsarbeiter besonders schwierig, Arbeit und Unterkunft zu finden. Dieser Umstand werde durch den Analphabetismus des Mitbeteiligten noch verstärkt. Beweiswürdigend führte das BVwG überdies aus, der Mitbeteiligte habe keine Erfahrung mit der Arbeitssuche und -aufnahme, zumal er bisher lediglich bei seinem Bruder mitgearbeitet habe. Auf ein soziales Netzwerk könne er nicht zurückgreifen, weil sein Vater bereits verstorben sei und die restliche Familie bei der verheirateten Schwester lebe. Hinzu komme die COVID-19-Pandemie, die es dem Mitbeteiligten schwerer mache, Arbeit und Unterkunft zu finden.

9        Dem BVwG ist zuzugestehen, dass es sich im fortgesetzten Verfahren mit der vom Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtsgang aufgeworfenen Frage, ob für den Mitbeteiligten in den Städten Herat und/oder Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht (vgl. dazu grundsätzlich VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001), grundsätzlich beschäftigt hat. Allerdings erfolgte diese Auseinandersetzung in einer Art und Weise, die das erzielte Verfahrensergebnis nicht decken kann. Zu Recht weist die Amtsrevision darauf hin, dass die Einschätzung, der Mitbeteiligte könne von seiner Familie keine Unterstützung erwarten, nicht näher und hinreichend begründet wurde. Die Überlegungen des BVwG, der Mitbeteiligte verfüge lediglich über eine einjährige Schulbildung und sei zudem Analphabet, lassen nicht erkennen, dass die weitere Ausbildung des Mitbeteiligten (in Österreich) bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt in irgendeiner Weise Beachtung gefunden hätte (vgl. dazu VwGH 18.11.2019, Ra 2019/18/0292). Welche Rückkehrsituation der Mitbeteiligte in Bezug auf die COVID-19-Pandemie und ihre Auswirkungen vorfinden würde, wurde vom BVwG durch keine zusätzlichen Länderfeststellungen, gestützt auf aktuelle Länderberichte, untermauert. Demgemäß ist aus der Begründung des Erkenntnisses auch nicht nachvollziehbar, weshalb das BVwG von besonderen Schwierigkeiten für den Mitbeteiligten bei der Arbeits- und Unterkunftsuche verursacht durch die COVID-19 bedingten Lockdowns in den Städten Herat und Mazar-e Sharif spricht.

10       Ausgehend davon liegen wesentliche Begründungsmängel des angefochtenen Erkenntnisses vor, weshalb es keinen Bestand haben kann.

11       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 5. August 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180102.L00

Im RIS seit

01.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

21.09.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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