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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §8 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 14. Oktober 2020 mündlich verkündete und am 10. November 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, I407 2163553-1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (Mitbeteiligter: O A, vertreten durch Kulac & Carli, Rechtsanwälte in 8230 Hartberg, Raimund-Obendrauf-Straße 9), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang, sohin insoweit, als dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt und die Spruchpunkte III. und IV. des verwaltungsbehördlichen Bescheides behoben worden sind, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein irakischer Staatsangehöriger aus Mossul, beantragte am 15. Mai 2015 internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 14. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA; Amtsrevisionswerberin) diesen Antrag zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III.) und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.).
3 Aufgrund der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten, die zuletzt nur mehr in Bezug auf die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte des verwaltungsbehördlichen Bescheides aufrecht erhalten wurde, erkannte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) dem Mitbeteiligten mit dem insoweit angefochtenen Erkenntnis den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung und behob die Spruchpunkte III. und IV. des verwaltungsbehördlichen Bescheides ersatzlos. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
4 Begründend stellte das BVwG fest, der Mitbeteiligte leide an „Central Diabetes insipidus“; es bestehe Verdacht auf Asthma, er sei jedoch arbeitsfähig. Im Folgenden traf es Länderfeststellungen zur Lage im Irak, insbesondere auch zur medizinischen Versorgung, die es - zusammengefasst - als „angespannt“ bezeichnete. In der rechtlichen Beurteilung führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte sei ein etwa 45-jähriger, chronisch kranker, jedoch arbeitsfähiger Mann, der stetig medizinischer Behandlung bedürfe. Er sei bereits im Irak medizinisch behandelt worden. Laut von ihm vorgelegten unbedenklichen medizinischen Unterlagen aus seiner Heimat bedürfe er der Behandlung im Ausland. Aus den Länderfeststellungen gehe hervor, dass sich die Versorgungs- und Sicherheitslage in Mossul zwar gebessert habe, jedoch sei auf die geschilderten individuellen Umstände des Mitbeteiligten Bedacht zu nehmen. Der Mitbeteiligte habe aufgrund seiner Erkrankung einen erhöhten medizinischen Behandlungsaufwand, welchen er ohne familiäre Unterstützung nicht ausreichend bewältigen könne. Es sei daher nicht ausgeschlossen, dass er bei Rückkehr in den Irak eine Verletzung seiner durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte erleiden werde. Deshalb sei ihm subsidiärer Schutz zu gewähren.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende Amtsrevision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe weder Feststellungen zu der vom Mitbeteiligten benötigten medizinischen Behandlung noch zum Zugang zu dieser im Irak getroffen. Die Annahme, dass der Mitbeteiligte den medizinischen Behandlungsaufwand nicht bewältigen könne, entbehre daher entsprechender Feststellungen. Außerdem lege das BVwG nicht dar, warum der Mitbeteiligte, der seit seinem sechsten Lebensjahr im Irak aufgrund seiner Zuckerkrankheit medizinisch behandelt worden sei, diese nun nicht mehr erhalten könne. Auch dass bzw. warum der Mitbeteiligte medizinischer Behandlung im Ausland bedürfte, begründe das BVwG nicht nachvollziehbar. Zu allen diesen Fragen hätte es Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis bedurft, die fehlen würden und die im Übrigen nur aufgrund eines (gemeint offenbar: medizinischen) Sachverständigengutachtens zu treffen gewesen wären.
6 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung in der er geltend machte, dass sein Gesundheitszustand eine engmaschige medizinische Betreuung erfordere und sich jederzeit schlagartig verschlechtern könne.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und begründet.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder suizidgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland (einer Abschiebung oder Überstellung) nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind.
10 Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. etwa VwGH 21.2.2017, Ra 2017/18/0008, 0009, unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien).
11 Die reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat kann auf dem Boden der nationalen Rechtslage - auch wenn diese Gefahr nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird - die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen (vgl. VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006).
12 Im gegenständlichen Fall gewährte das BVwG dem Mitbeteiligten wegen seiner chronischen Erkrankung subsidiären Schutz, ohne diese Entscheidung - wie die Amtsrevision zutreffend geltend macht - unter Bedachtnahme auf die soeben dargestellten rechtlichen Leitlinien aus der höchstgerichtlichen Rechtsprechung hinreichend zu begründen.
13 Dem angefochtenen Erkenntnis sind keine Feststellungen zu entnehmen, welche medizinische Behandlung der Mitbeteiligte aufgrund seiner Erkrankung benötigt, ob diese für ihn (wenn ja, unter welchen Bedingungen) im Irak erhältlich wäre und ob der Revisionswerber in Ermangelung einer allfälligen Behandlung in eine Lage geraten könnte, die im Sinne der zitierten Rechtsprechung die Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Ohne derartige Feststellungen, die auf der Grundlage nachvollziehbarer Beweise zu treffen wären, kann das vom BVwG erzielte Ergebnis nicht nachvollzogen werden.
14 Wenn das BVwG anführt, der Mitbeteiligte habe unbedenkliche medizinische Unterlagen aus der Heimat vorgelegt, wonach er einer Behandlung im Ausland bedürfe, ist Folgendes zu erwidern: Das BVwG scheint mit dieser Erwägung ausdrücken zu wollen, dass die vom Mitbeteiligten benötigte Behandlung im Irak nicht erhältlich ist. Um welche Behandlung es sich dabei handelt, bleibt jedoch vollkommen offen. Das BVwG legt auch nicht dar, auf welche konkreten Unterlagen es sich bei diesen Erwägungen bezieht und welchen genauen Inhalt diese Unterlagen haben. Sie finden sich auch nicht in den vorgelegten Akten.
15 Lediglich der Vollständigkeit halber sei außerdem angemerkt, dass die Zuerkennung von subsidiärem Schutz einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK bedarf und es nicht ausreicht, eine derartige Verletzung - wie das BVwG argumentiert - bloß nicht ausschließen zu können.
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher im Anfechtungsumfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 6. August 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180519.L00Im RIS seit
01.09.2021Zuletzt aktualisiert am
21.09.2021