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19/05 MenschenrechteNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des W M, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. November 2020, W107 2179808-1/25E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird insoweit, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet, zurückgewiesen.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, beantragte am 26. März 2016 - im Alter von 17 Jahren - internationalen Schutz und brachte vor, zusammen mit seiner Familie aus Angst vor den Taliban Afghanistan verlassen und seitdem in Pakistan gelebt zu haben.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag im zweiten Rechtsgang und nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 15. November 2017 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung gegen den Revisionswerber, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Begründend führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe keine konkret gegen seine Person gerichtete Verfolgung dargetan, eine Verfolgung aufgrund seines Aufenthalts in Europa sei nicht plausibel und eine Gruppenverfolgung aller Hazara liege nicht vor. Die Rückkehr in die Heimatprovinz der Familie (Ghazni) sei aufgrund der volatilen Sicherheitslage nicht möglich, jedoch sei dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif zumutbar. Die öffentlichen Interessen an der Außerlandesbringung würden die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich überwiegen.
4 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 18. Jänner 2021, E 4454/2020-7, die Behandlung der Beschwerde ablehnte und diese über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 3. Februar 2021, E 4454/2020-9, an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
5 Die nun erhobene außerordentliche Revision macht zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache geltend, das BVwG habe im Zusammenhang mit der Entscheidung über den subsidiären Schutz und die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative seine Begründungspflicht verletzt, habe die aktuelle Situation aufgrund der Covid-19-Pandemie und die dazu vom BVwG selbst getroffenen Feststellungen sowie die EASO-Richtlinien zu Afghanistan im Hinblick auf die notwendige Einzelfallprüfung außer Acht gelassen.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat - nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.
8 Zu I.:
9 Die Revision wendet sich formal zwar gegen das gesamte verwaltungsgerichtliche Erkenntnis, führt im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung von Asyl jedoch keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung an, welche eine Revision zulässig machen würden.
10 Die Revision war daher insoweit gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG zurückzuweisen.
11 Zu II.:
12 Zulässig und begründet ist die Revision in Bezug auf die Bekämpfung der Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden weiteren Spruchpunkte des angefochtenen Erkenntnisses.
13 Den EASO-Richtlinien für Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan, June 2019) zufolge kann eine innerstaatliche Fluchtalternative für Antragsteller, die außerhalb Afghanistans geboren wurden und/oder dort sehr lange Zeit gelebt haben, nicht zumutbar sein, wenn sie über kein unterstützendes Netzwerk verfügen, das ihnen dabei hilft, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die Richtlinien verweisen darauf, dass bei der Prüfung der Zumutbarkeit der persönliche Hintergrund der betroffenen Person, insbesondere deren Selbständigkeit, die vorhandene Ausbildung und allfällige Berufserfahrungen, ins Kalkül gezogen werden müssen (vgl. dazu etwa VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405). Den Richtlinien kann allerdings nicht entnommen werden, dass afghanischen Asylwerbern, die außerhalb ihres Herkunftsstaates geboren wurden, jedenfalls subsidiärer Schutz gewährt werden müsste. Es hat vielmehr stets eine Prüfung des Einzelfalls zu erfolgen (vgl. VwGH 22.7.2020, Ra 2020/18/0083).
Die Revision übersieht mit ihrem Vorbringen, das BVwG habe keine den Vorgaben dieser Rechtsprechung entsprechende Einzelfallprüfung vorgenommen und insbesondere zu Unrecht die Arbeitserfahrungen des Revisionswerbers, die er als Jugendlicher gesammelt habe, zugrunde gelegt, dass das BVwG neben diesem kritikwürdigen Aspekt auch die individuelle Situation des im Entscheidungszeitpunkt zumindest 20-jährigen, gesunden und unbescholtenen Revisionswerbers in seine Beurteilung einbezogen hat, die seine Entscheidung decken könnte. So hat es beachtet, dass der Revisionswerber im Alter von fünf Jahren im Familienverband nach Pakistan gezogen ist, ungeachtet dessen aber Kenntnisse von den kulturellen Gepflogenheiten in Afghanistan hat, mit einer Landessprache vertraut ist, in Pakistan die Schule besucht hat, und sowohl dort als auch nach seiner Ausreise selbstständig agiert hat. Dagegen bringt die Revision nichts Stichhaltiges vor.
14 Ungeachtet dessen erweist sich die Einschätzung des BVwG, dem Revisionswerber stehe in den afghanischen Städten Herat oder Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, aus folgenden Gründen als nicht nachvollziehbar:
15 Das BVwG trifft - neben allgemeinen Länderfeststellungen älteren Datums - Feststellungen zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, die auszugsweise wie folgt lauten (S. 9 ff des Erkenntnisses):
„Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
...
In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).
...
In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).
...
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, ‚social distancing‘ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).“
16 Diese Länderfeststellungen lassen insbesondere die pauschalen Schlussfolgerungen des BVwG, der Revisionswerber könne in Herat und Mazar-e Sharif für sein Auskommen als Tagelöhner oder mit Gelegenheitsarbeiten sorgen und es lägen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Gefährdung existentieller Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft vor, nicht ohne Weiteres zu. Auf seine eigenen Länderfeststellungen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit, der Arbeitsmöglichkeiten und zur Versorgung aufgrund der Covid-19-Pandemie geht das BVwG - wie die Revision zu Recht rügt - in dieser Begründung mit keinem Wort ein.
17 Das angefochtene Erkenntnis leidet daher, wie die Revision zutreffend geltend macht, an einem Begründungsmangel, der die nachprüfende Kontrolle der angefochtenen Entscheidung nicht zulässt.
18 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
19 Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 10. August 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180121.L01Im RIS seit
01.09.2021Zuletzt aktualisiert am
21.09.2021