Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. Z*****, vertreten durch Mag. E*****, als gesetzliche Erwachsenenvertreterin, diese vertreten durch Dr. Thomas Jappel, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1080 Wien, Josefstädter Straße 80, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. April 2021, GZ 7 Rs 1/21z-50, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] Strittig ist, ob die Klägerin Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 hat, weil ihr zielgerichtete Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung nicht mehr möglich sind oder ein gleichzuachtender Zustand vorliegt (§ 4 Abs 2 Stufe 7 Z 1 und Z 2 BPGG).
[2] 1. Voraussetzungen für die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7
[3] 1.1 Voraussetzung für die Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 7 ist, dass ein Pflegebedürftiger zu keinen willentlich gesteuerten Bewegungen in der Lage ist, die einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann (10 ObS 57/05p SSV-NF 19/47; 10 ObS 5/07v SSV-NF 21/16 je mwN; RIS-Justiz RS0106363 [T5, T7]).
[4] 1.2 Nicht notwendig ist, dass die zielgerichteten Bewegungen noch zur Vornahme der im Pflegegeldrecht maßgebenden Betreuungs- und Hilfsverrichtungen eingesetzt werden können (RS0106363 [T15]). Es muss sich aber im weitesten Sinn um Bewegungen handeln, die geeignet sind, die Pflege zu erleichtern oder den pflegerischen Aufwand – wenn auch geringfügig – zu mindern bzw die Betreuung des Betroffenen zu erleichtern (10 ObS 108/11x; RS0106363 [T22, T24]; vgl im Einzelnen die Darstellung bei Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 [2017] Rz 5.419 ff). Es genügt, wenn vom Pflegebedürftigen aktive Bewegungen ausgeführt werden können, durch die die Betreuung insgesamt etwas vereinfacht wird (10 ObS 114/07y = RS0106363 [T22]).
[5] 1.3 Bereits ein einziger dem Pflegebedürftigen noch möglicher Bewegungsablauf dieser Qualität schließt die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 aus (10 ObS 108/11x; 10 ObS 157/03s; RS0106363 [T12]). Daher besteht etwa schon dann kein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7, wenn ein Pflegebedürftiger Essen zielgerichtet zum Mund führen oder einen Schnabelbecher zum Mund heben und daraus trinken kann (vgl 10 ObS 108/11x).
[6] 2. Anwendung dieser Grundsätze auf den hier zu beurteilenden Fall
[7] 2.1 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Klägerin (bei der ein Zustandsbild nach einem Schlaganfall besteht) mit der rechten Hand die Betttriangel ergreifen und sich mit dem rechten Arm mit dem noch vorhandenen Muskeltonus ein wenig abstützen und so bei Lageveränderungen etwas mithelfen kann. Wenngleich die Klägerin bei der Einnahme von Mahlzeiten der permanenten Anwesenheit einer Pflegeperson bedarf, die sie zum Essen anleitet und (wegen einer Schluckstörung) zum Schlucken auffordert, ist die Klägerin noch in der Lage, mit der rechten Hand selbst zu essen, einen Becher zu ergreifen, diesen zu halten und daraus zu trinken (unter der Voraussetzung, dass man ihr den Becher nahe genug hinstellt und sie auffordert zu trinken).
[8] 2.2 Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Klägerin erfülle die Voraussetzungen für das Pflegegeld der Stufe 7 nicht, weil sie mit einer ihrer Extremitäten noch aktive Bewegungen ausführen kann, durch die die Betreuung insgesamt etwas vereinfacht bzw der pflegerische Aufwand etwas gemindert wird, hält sich im Rahmen der wiedergegebenen Rechtsprechung. Auch bei dementen Pflegebedürftigen ist entscheidend, ob zumindest eine der vier Extremitäten noch so sinnvoll und nutzbringend eingesetzt werden kann, dass eine Erleichterung der Pflege daraus erkennbar ist (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 [2017] Rz 5.425). Dass eine entscheidungsrelevante Erleichterung der Pflege vor allem deshalb zu bejahen ist, weil die Klägerin bei Lageveränderungen im Bett durch Abstützen mit dem rechten Arm etwas mithelfen kann, weiters gewisse funktionelle Handlungen mit der rechten Hand vornehmen kann, überschreitet den von der Rechtsprechung eröffneten Beurteilungsspielraum nicht.
[9] 3. Zum Vorbringen der Klägerin in der außerordentlichen Revision
[10] 3.1 Die von der Revisionswerberin gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde vom Obersten Gerichtshof geprüft und liegt nicht vor.
[11] 3.2 Sekundäre Feststellungsmängel sind nur dann gegeben, wenn Tatsachen fehlen, die für die rechtliche Beurteilung wesentlich sind und dies Umstände betrifft, die nach dem Vorbringen der Parteien und den Ergebnissen des Verfahrens zu prüfen waren (RS0053317). Werden zu einem bestimmten Thema (positive oder negative) Feststellungen ohnehin getroffen, mögen diese auch von den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers abweichen (hier etwa zu den der Klägerin mit der rechten Hand bzw dem rechten Arm noch möglichen Bewegungen), kann ein rechtlicher Feststellungsmangel nicht erfolgreich geltend gemacht werden. Die weiters ergänzend gewünschte Feststellung, es führe nicht zu einer Erleichterung der Pflege, wenn die Klägerin das rechte Bein kurz anheben kann, ist rechtlich ohne Bedeutung.
[12] 4. Die außerordentliche Revision der Klägerin ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO daher zurückzuweisen.
Textnummer
E132554European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00092.21H.0729.000Im RIS seit
02.09.2021Zuletzt aktualisiert am
02.09.2021