Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Mag. Manfred Sigl, Rechtsanwalt in Amstetten, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, wegen Krankengeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. März 2021, GZ 7 Rs 13/21i-21, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Der Kläger wurde am 10. 3. 2019 mit der Diagnose „Reaktion auf schwere Belastung und Anpassungsstörung“ arbeitsunfähig gemeldet. Die Beklagte gewährte dem Kläger Krankengeld bis zum 29. 4. 2020 (52 Wochen). Der Kläger war im Zeitraum von 10. 3. 2019 bis 29. 4. 2020 sowie von 30. 4. 2020 bis 29. 10. 2020 trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen imstande, eine Tätigkeit als Kellner (Restaurantfachmann) auszuüben.
[2] Mit Bescheid vom 29. 5. 2020 sprach die beklagte Österreichische Gesundheitskasse aus, dass der Kläger Anspruch auf Krankengeld für die Höchstdauer von 52 Wochen habe. Das Mehrbegehren auf Verlängerung der Höchstanspruchsdauer auf 78 Wochen lehnte sie ab, weil ein Wiedererlangen der Arbeitsfähigkeit bzw eine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess im Sinn des § 29 Abs 3 der Satzung der Beklagten bis zum Erreichen der 78. Woche ausgeschlossen sei.
[3] Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung von Krankengeld über die Höchstdauer von 52 Wochen hinaus für insgesamt 78 Wochen aufgrund des am 10. 3. 2019 eingetretenen Versicherungsfalls.
[4] Die Beklagte wandte im Verfahren ergänzend ein, dass der Kläger arbeitsfähig gewesen sei, sodass der Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit nicht vorgelegen sei. Schon aus diesem Grund komme eine Verlängerung des Krankengeldanspruchs auf 78 Wochen nicht in Frage, woran die rückblickend ungerechtfertigte Zuerkennung von Krankengeld nichts ändere.
[5] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Dem Kläger sei von der Beklagten Krankengeld zu Unrecht zuerkannt worden, weil er nie arbeitsunfähig infolge Krankheit gewesen sei. Da sich die objektiven Grundlagen für die Zuerkennung der Leistung nicht geändert hätten, stehe die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung ihrer „Entziehung“ entgegen.
[6] Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil infolge Berufung der Beklagten dahin ab, dass es das Klagebegehren abwies. Die Beklagte habe dem Kläger den Anspruch auf Krankengeld nicht entzogen. Dieser Anspruch sei mit dem Erreichen der gesetzlichen Höchstdauer von 52 Wochen vielmehr erloschen. Die Voraussetzungen des § 29 Abs 3 der Satzung der Beklagten für die Weitergewährung von Krankengeld bis zu 78 Wochen seien nicht erfüllt. Weder sei beim Kläger der Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit eingetreten noch sei im Beurteilungszeitpunkt das Erreichen der Arbeitsfähigkeit nach Ablauf dieser Zeitspanne zu erwarten gewesen.
[7] Mit seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:
Rechtliche Beurteilung
[8] Der Revisionswerber macht geltend, dass Rechtsprechung zur Frage der Reihung von Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit bei der Gewährung von Krankengeld über 52 Wochen hinaus fehle, wenn von vornherein die Voraussetzungen für die Gewährung von Krankengeld gefehlt haben. Dem Kläger sei Krankengeld von Anfang an zu Unrecht gewährt worden, sodass mangels Änderung der objektiven Grundlagen für die Zuerkennung dieses für die Gesamtdauer von 78 Wochen zu zahlen sei. Die Wiedereingliederung des Klägers in den Arbeitsprozess sei nach den Feststellungen nach 78 Wochen möglich.
[9] Dazu wurde erwogen:
[10] 1. Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs liegt dann keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung vor, wenn das Gesetz selbst eine klare und eindeutige Regelung trifft (RIS-Justiz RS0042656). Das ist hier in Bezug auf § 99 Abs 1, § 100 Abs 1 lit a, 139 Abs 1 und 2 ASVG und § 29 Abs 1 und 3 der – nach dem wechselseitigen Vorbringen unstrittig anzuwendenden – Satzung der beklagten Österreichischen Gesundheitskasse der Fall.
[11] 2.1 Gemäß § 99 Abs 1 ASVG ist die Leistung nur zu entziehen, sofern nicht der Anspruch darauf gemäß § 100 Abs 1 ASVG ohne weiteres Verfahren erlischt. Dies ist in § 100 Abs 1 lit a ASVG für den Anspruch auf eine laufende Leistung in der Krankenversicherung vorgesehen, wenn die Voraussetzungen für den Anspruch weggefallen sind (10 ObS 311/91). Dies ist beim Krankengeld etwa durch Zeitablauf der Fall (10 ObS 40/20k), oder wenn Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit nicht mehr vorliegt (§ 120 Abs 1 Z 2 ASVG, Atria in Sonntag, ASVG12 § 100 Rz 4; Schramm in SV-Komm [221. Lfg] § 100 Rz 4).
[12] 2.2 Der gesetzliche Anspruch auf Krankengeld erlischt – worauf das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat – nach Ablauf der Höchstdauer von 52 Wochen (§ 139 Abs 1 ASVG) ohne weiteres Verfahren. Schon aus diesem Grund kommt es auf die vom Revisionswerber für seinen Standpunkt ins Treffen geführten Rechtsprechung zur Entziehung einer Leistung gemäß § 99 ASVG (RS0083941; RS0106704) nicht an.
[13] 3.1 Durch die Satzung kann die Höchstdauer des Krankengeldanspruchs bis auf 78 Wochen erhöht werden (§ 139 Abs 2 ASVG). Die Satzungen der Träger der Sozialversicherung sind verfassungsrechtlich als Verordnung zu qualifizieren (RS0053701 [T2]).
[14] 3.2 § 29 Abs 3 der Satzung der Beklagten lautet auszugsweise (avsv Nr 34/2020, Unterstreichung durch den Senat):
„(3) Die Österreichische Gesundheitskasse leistet das Krankengeld bei ein und demselben Versicherungsfall im Einzelfall über die Dauer von 52 Wochen hinaus (Abs 1 und 2 sind anzuwenden) bis zu 78 Wochen, wenn aufgrund einer ärztlichen Begutachtung durch den medizinischen Dienst das Erreichen der Arbeitsfähigkeit des/der Versicherten bzw dessen/deren Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess innerhalb dieses Zeitraumes zu erwarten sein wird. … .“
[15] 3.3 § 29 Abs 3 der Satzung verweist ausdrücklich auf § 29 Abs 1 der Satzung. Diese Bestimmung lautet auszugsweise (Unterstreichung durch den Senat):
„(1) Die Österreichische Gesundheitskasse leistet bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit – ausgenommen für die nach § 122 Abs. 2 Z 2 und 3 ASVG Anspruchsberechtigten – bei ein und demselben Versicherungsfall Krankengeld unter Beachtung des Abs 2 bis zur Höchstdauer von 52 Wochen, … .“
[16] 3.4 Erste Voraussetzung für die Gewährung von Krankengeld über die gesetzlich vorgesehene Dauer von 52 Wochen hinaus ist daher auch im Anwendungsbereich der Satzung, wie sich aus dem Zusammenhalt deren zitierten Bestimmungen ergibt, das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit. An dieser Voraussetzung fehlt es jedoch im vorliegenden Fall, was der Revisionswerber selbst zugesteht. Auf den von ihm hervorgehobenen Umstand, dass seine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess nach 78 Wochen möglich sei, kommt es daher nicht an.
[17] 3.5 Eine Bindung, dass die Gewährung von Krankengeld für 52 Wochen jedenfalls auch einen Anspruch auf „Verlängerung“ für weitere 26 Wochen verschafft, ist der Satzung der beklagten Partei nicht zu entnehmen.
Textnummer
E132557European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00084.21G.0729.000Im RIS seit
02.09.2021Zuletzt aktualisiert am
02.09.2021