TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/6 W105 2152853-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.05.2021
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Entscheidungsdatum

06.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W105 2152853-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX (alias: XXXX ), geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.03.2017, Zl. 14-1049150901-161132894, nach Durchführung zweier mündlichen Verhandlungen am 19.05.2020 sowie am 04.08.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und §§ 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9 sowie 55 Abs. 1-3 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF), ein volljähriger Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 29.12.2014 nach schlepperunterstützter und illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung am 31.12.2014 gab der BF neben seinen Angaben zum Reiseweg im Wesentlichen an, der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören, sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islams zu bekennen, traditionell verheiratet zu sein, zehn Jahre eine Schule besucht und zuletzt als Soldat gearbeitet zu haben. Er habe Afghanistan vor etwas über einem Monat verlassen, da aufgrund seiner Tätigkeit beim afghanischen Staatssicherheitsdienst (NDS) und seiner Zusammenarbeit mit Ausländern von den Taliban bedroht worden sei. Er sei fast von einer Mine der Taliban getötet worden und habe auch schriftliche Drohungen von ihnen erhalten.

3. Am 25.03.2015 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), in welcher dem BF mitgeteilt wurde, dass beabsichtigt werde, den Antrag des BF zurückzuweisen und ihn nach Bulgarien auszuweisen. Der BF brachte medizinische Unterlagen betreffend Operationen an seinem Auge in Vorlage.

4. Mit Datum 28.04.2015 wurde eine gutachterliche Stellungnahme betreffend den psychischen Zustand des BF ins Verfahren eingebracht. Darin wird dem BF keine krankheitswertige Störung attestiert.

5. Mit Bescheid des BFA vom 11.05.2015 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen, da für dessen Prüfung Bulgarien zuständig sei. Die Abschiebung des BF nach Bulgarien wurde für zulässig erklärt.

Der Bescheid wurde nach Durchschreiten des Rechtsmittelweges rechtskräftig.

6. Am 17.08.2016 fand eine Erstbefragung nach dem AsylG aufgrund eines Folgeantrages des BF statt. Der BF gab an, dass seine alten Fluchtgründe aufrecht bleiben würden und vor ungefähr einem Jahr sein Bruder von den Taliban getötet worden sei. Seither habe der BF einen Drohbrief erhalten.

7. Im Rahmen einer niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 07.11.2016 brachte der BF ein Konvolut an medizinischen Unterlagen in Vorlage und gab im Wesentlichen Folgendes an: Er sei grundsätzlich gesund, er leide aber an psychischen Problemen und sehe am linken Auge nur mehr starke Lichtreize. Er nehme Medikamente und Augentropfen ein. Zudem habe er eine positive Hepatitis B-Probe abgegeben. Seine Familie lebe weiterhin in Afghanistan, es bestehe regelmäßiger Kontakt. Es gehe ihnen gut und zuletzt habe er mit ihnen vor zwei Monaten gesprochen.

Betreffend die Fluchtgründe brachte der BF ein Konvolut an Dokumenten in Vorlage und gab an, dass er einfacher Soldat gewesen sei und diese Tätigkeit vier Jahre lang ausgeübt habe. Weil er für den Staat gearbeitet habe, sei er vom Bezirkshauptmann der Taliban bedroht worden. In das Haus seiner Eltern sei ein Drohbrief geworfen worden und es sei zuvor auch zu mündlichen und telefonischen Drohungen gekommen. Etwa ein Jahr vor der Ausreise aus Afghanistan sei er bei der Explosion einer Landmine verletzt worden, deswegen habe er auch noch Probleme mit seinem linken Auge. In der Folge habe der BF seine Arbeit verloren.

8. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 16.03.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Des Weiteren wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde ausgeführt, dass für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung besteht (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde unter Darlegung näherer Details im Wesentlichen ausgeführt, dass zwar sowohl der Militärdienst des BF als auch die Verletzung durch eine Landmine festgestellt werden könne, eine asylrelevante Verfolgung des BF sei jedoch nicht ersichtlich. Bei der Minenexplosion habe es sich nicht um eine gezielt gegen den BF gerichtete Operation gehandelt, vielmehr sei es ein dienstlicher Vorfall gewesen, eine individuelle Verfolgung des BF könne daraus nicht abgeleitet werden. Auch sei eine aktuelle Verfolgung des BF wegen seiner Tätigkeit als Soldat auszuschließen, da er den militärischen Dienst seit der Explosion nicht mehr ausübe und er gekündigt worden sei. Somit sei die von den Taliban geäußerte Drohung erfüllt und auch habe der BF mehr als ein Jahr ohne weitere Drohungen seitens der Taliban in Afghanistan leben können.

9. Mit Schriftsatz seiner damaligen rechtsanwaltlichen Vertretung vom 04.04.2017 erhob der BF gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Begründend wurde zusammenfassend darauf verwiesen, dass sich der vorgelegte Drohbrief zwar auf die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses bezieht, dies sei jedoch im Kontext zu sehen, dass es nach der strengen Auslegung der islamischen Grundsätze der Taliban keine Vergebung gebe und folglich das Verhalten des BF - nämlich die Zusammenarbeit mit amerikanischen Einheiten - jedenfalls zu bestrafen sei. Da die belangte Behörde auch den Tod des Bruders des BF festgestellt habe, sei nicht nachvollziehbar, dass die Bedrohung des BF nicht mehr aktuell sein solle. Aufgrund seiner Tätigkeit für die afghanische Nationalarmee drohe dem BF im Fall einer Rückkehr asylrelevante Verfolgung seitens der Taliban, da ihm eine feindliche Einstellung gegenüber ihnen unterstellt werden würde. Auch stehe dem BF keine zumutbare, innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan offen, weshalb ihm Asyl zu gewähren sei.

10. Am 19.05.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht unter der Beiziehung eines Dolmetschers für Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher der BF und seine rechtliche Vertretung teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl blieb der Verhandlung fern.

Das Beschwerderechtsgespräch gestaltete sich wie folgt:

I. Zum aktuellen Zustand des BF:

R: Wie geht es Ihnen gesundheitlich (sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht [die Begriffe werden mit dem BF abgeklärt, sodass ihm diese geläufig sind]): Sind Sie insbesondere in ärztlicher Behandlung, befinden Sie sich in Therapie, nehmen Sie Medikamente ein?

BF: Ich stehe nach wie vor in ärztlicher Behandlung und nehme auch Medikamente ein. Genau gesagt nehme ich Tabletten gegen Hepatitis B und weiters auch Augentropfen.

II. Zum Verfahren vor dem BFA bzw. den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes:

R: Sie wurden bereits beim BFA bzw. vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Polizei) niederschriftlich einvernommen. Haben Sie dort immer die Wahrheit gesagt oder möchten Sie etwas richtig stellen?

BF: Ich habe die Wahrheit angegeben und halte alles aufrecht.

R: Wurden Ihnen die Niederschriften, die die Polizei im Rahmen der Erstbefragung und das BFA im Zuge Ihrer Einvernahme mit Ihnen aufgenommen haben, rückübersetzt?

BF: Nein, es wurde nicht rückübersetzt.

RI: Dem aufgenommenen Protokoll ist entnehmbar, dass es ihnen rückübersetzt wurde und wurde dies von Ihnen und den weiteren handelenden Personen mit Unterschrift bestätigt. Was sagen Sie dazu?

BF: Mir wurde nur die eine Seite rückübersetzt, wo meine Daten standen.

RI: Das war das Polizeiprotokoll und dies wurde Ihnen ebenso rückübersetzt.

BF: Mein D sagte am Ende, ich solle nur unterschreiben und die Einvernahme sei zu Ende.

RV: Der BF hat sich das Protokoll mittlerweile selbst durchgelesen und ist der Inhalt mit seiner Aussage übereinstimmend, bis auf ein Problem.

BF: Es gibt Verwandte und Freunde. Verwandte sind Familienangehörige, aber Freunde sind Freunde. Im Protokoll steht, dass ich in Kabul verschiedene Verwandte habe, Tatsache ist, dass ich in Kabul verschiedene Freunde habe.

Weiters steht, dass ich meinen Dienst gekündigt hätte. Das stimmt nicht. Es war eine Freistellung, aufgrund meines Krankenstandes. Mein Gehalt habe ich weiterhin bezogen.

RV legt vor, eine Mehrzahl an Unterlagen zu dem Sprachniveau, Referenzschreiben zur unentgeltlichen Tätigkeit in Österreich, sowie Kursbesuchsbestätigungen und medizinische Unterlagen.

III. Zur persönlichen Situation des BF:

a) in Österreich:

R: Leben Sie in Österreich alleine oder leben Sie mit jemandem zusammen? Wie ist Ihre aktuelle Wohnsituation? Leben Sie in einer Flüchtlingspension?

BF: Ich lebe privat in einer Wohnung.

R: Sprechen Sie auch schon ein wenig Deutsch? Welches Sprachniveau haben Sie? Besuchen Sie Sprachkurse oder sonstige Kurse, Schule, Vereine oder Universität?

BF: A2 wurde absolviert und ein weiterer Sprachkurs B1 läuft.

R: Habe Sie in Österreich familiäre Bindungen?

BF: Nein.

R: Wie sieht Ihr Kontakt zu Ihren Familienangehörigen in AFG aus?

BF: Ja, ich habe Familie. Ich habe mit meiner Frau und meinem Kind Kontakt.

R: Gehen Sie in Österreich einer Beschäftigung nach?

BF: Ich habe in der Diakonie gearbeitet früher.

R: Haben Sie in Österreich schon einmal Probleme mit der Polizei oder Staatsanwaltschaft gehabt?

BF: Nein.

R: Das Gericht kann sich auf Grund Ihrer Angaben nunmehr ein Bild über ihre privaten sowie familiären Bindungen in Österreich machen und erscheinen hierzu seitens des Gerichts keine weiteren Fragen offen. Wollen Sie sich noch weitergehend zu Ihren privaten und familiären Bindungen in Österreich bzw. ihrer Integration äußern?

BF: Nein. Das ist alles.

b) im Herkunftsstaat:

R: Im angefochtenen Bescheid des BFA wurde u.a. bereits festgestellt, dass Sie aus Afghanistan stammen. Geben Sie bitte nochmals an, welcher Volksgruppe und Religionsgemeinschaft Sie angehören? Welche Sprachen sprechen Sie?

BF: Ich bin Paschtune und Sunnit und spreche Paschtu und Dari. Ich habe eine 10-jährige Schulbildung genossen. Ich stamme aus der Provinz Laghman, Distrikt XXXX , Dorf XXXX .

R: Welchen Beruf haben Sie in Ihrem Heimatland ausgeübt und wo war das und wie lange?

BF: Bevor ich Soldat geworden bin, habe ich nur die Schule besucht.

R: Wer hat in Afghanistan für Ihren Lebensunterhalt gesorgt?

BF: Wir lebten von der Landwirtschaft.

R: Welche Verwandten haben Sie in Afghanistan und wo leben diese?

BF: Meine Familie lebt im Distrikt XXXX , das sind meine Eltern, meine zwei Schwestern. Ich hatte zwei Brüder, einer ist bereits verstorben, weiters noch meine Ehefrau und mein Sohn.

R: Was hat Ihre Flucht gekostet und wer hat die Flucht finanziert?

BF: Insgesamt 9000 USD, bezahlt hat die Reise mein Vater.

RI: Sie sind über eine Mehrzahl an islamischen Länder bereist. Warum sind Sie nicht dort geblieben?

BF: Mein Leben wäre auch in den Ländern in Gefahr. Mein Zielland war Österreich.

RI: Wäre es nicht nahelegend gewesen in eines der Nachbarländer sich niederlegen zu lassen?

BF: Ich bin nicht hergekommen, um Geld zu verdienen, sondern, weil mein Leben in Gefahr war.

R: Waren Sie in Ihrem Heimatland politisch tätig oder gehörten Sie einer politischen Partei an?

BF: Nein.

R: Wurden Sie in Ihrem Heimatland wegen Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit oder Ihrer Religion verfolgt?

BF: Nein.

R: Haben Sie sich in Afghanistan, jemals außerhalb Ihrer Heimatprovinz, zum Beispiel in Kabul-Stadt, Herat oder in Mazar-e Sharif gewohnt oder sich aufgehalten?

BF: Nein.

R: Wann genau sind Sie aus Ihrem Herkunftsstaat Afghanistan ausgereist?

BF: Ich glaube November 2014.

IV. Fluchtgründe des BF:

R: In welchen Alter sind Sie in das Militär eingetreten?

BF: Es war das Jahr 2007. Ich wusste damals nicht, wie alt ich war.

R: In welchen Alter sind Sie in die Schule gegangen?

BF: 6 Jahre alt.

R: Sind Sie unmittelbar nach dem Verlassen der Schule in die Armee eingetreten?

BF: Ja.

R: Wie lange haben Sie der Armee gedient?

BF: 4 Jahre.

R: Sie waren 4 Jahre in der Armee. Können Sie die Dienstgrade aufzählen?

BF: Ja. Beginnend von Satarman bis Marshal.

R: Welche 3 Kategorien von Soldaten gibt es in der Armee?

BF: Ich war nicht bei der afghanischen Nationalarmee dabei, sondern, bei der afghanischen nationalen Sicherheit.

R: Das ist Ihnen zumutbar, dass sie das wissen. Beschreiben Sie nun die Dienstgrade.

BF: Lomrai Bridman, 2. Bridman, Turan, Jagran, Dagarman, Dagarwal, Turanjanral, Sterjanral, Marshal.

R: Sind das Mannschaftsränge, Offiziersränge oder Generalränge?

BF: Militärränge.

R: Diese Ränge gibt es auch in der afghanischen Armee. Wissen Sie das nicht?

BF: Die Unteroffiziere gibt es in der Armee, nicht bei uns. Bei der nationalen Sicherheit gab es diese Ränge.

R: Welchen Rang hatten Sie zuletzt?

BF: Soldat.

R: Jetzt haben Sie für afghanische Verhältnisse eine gute Schulbildung. Wieso sind Sie nach 4 Jahren nur einfacher Soldat?

BF: Ich habe mich für das Soldatensein sehr interessiert.

R: Aufgrund der Schulbildung wäre es naheliegend, dass Sie einen mittleren oder höheren militärischen Rang erreichen.

BF: Weil ich verletzt war, deshalb konnte ich nicht.

R: Wann sind Sie verletzt worden in den 4 Jahren?

BF: Am Ende.

R: Wie lange hat Ihre Ausbildung gedauert?

BF: Am Anfang hatte ich einen Monat eine Militärausbildung. Im Jahr 2012 hatte ich auch eine einmonatige Militärausbildung, vom 3. Monat bis 4. Monat 2012.

R: Wo waren Sie stationiert?

BF: XXXX .

R: Wie hat die Kaserne geheißen?

BF: Präsidium von der nationalen Sicherheit.

R: Erklären Sie mir was die nationale Sicherheitsarmee ist?

BF: Ich habe im Präsidium Dienst geleistet. Unsere Division (BF nennt das Wort Division selbst in dieser Form auf Deutsch. Nach der Rückübersetzung gab der BF an, dass er das Wort so nannte, weil in der letzten Einvernahme seine Einheit mit Division protokolliert wurde. Mit Division meint er „Qeta“) hat 06 geheißen.

R: Welche Waffengattung war das?

BF: Bodentruppen.

R: Was war konkret Ihre Tätigkeit in den 4 Jahren?

BF: Ich war immer einsatzbereit. Wenn uns eine Aufgabe gegeben wurde, sind wir hingegangen.

R: Können Sie Ihre Tätigkeit beschreiben?

BF: Wie gesagt, ich war einsatzbereit. Dann bekamen wir eine Aufgabe, z.B. wir sind dort hingefahren, wo es eine Operation gab und wir haben an der Seite der ANA, der Polizei und der NATO Truppe gegen die Taliban gekämpft.

R: Welche NATO Truppen waren dort eingesetzt?

BF: Es waren verschiedene. Wir hatten mit NATO Truppen nicht viel zu tun gehabt, nur bei Operationen habe ich sie gesehen.

R: Woher wussten Sie, dass es NATO Truppen sind?

BF: Weil sie mit uns Dienst geleistet haben. Also Amerikaner, ich habe auch die Ausbildung von ihnen erhalten.

R: Welche Ausbildung haben Sie von den Amerikanern erhalten.

BF: Wie man eine Waffe verwendet.

R: Welche Waffen?

BF: Kalaschnikow.

R: Was hatten die Amerikaner für Waffen?

BF: Die Amerikaner hatten eigene Waffen, aber trainiert haben sie mit Kalaschnikow, Raketen, Pika und Dah Shaka, das ist eine automatische Waffe, eine russische Waffe.

R: Ich möchte Ihnen nun vorhalten, dass Sie als einfacher Soldat ohne exponiert gewesen u sein, jedenfalls landesweit nicht maßgeblich-wahrscheinlich Verfolgung befürchten müssen. Insbesondere nicht einer der Garnisonsstädte der Armee in Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif. Wenn Sie tatsächlich bei der militärischen Einheit waren. Müssten Sie eine Fülle von Information liefern können, die wir auch überprüfen können. Vor diesem Hintergrund bleiben Sie bei Ihrer Aussage?

BF: Ich bleibe dabei, ich kenne meinen Vorgesetzten, meinen Kommandanten und kann sie auch nennen.

R: Warum sollten Sie als einfacher Soldat dieser Armeeinheit ohne besondere Exponiertheit landesweit verfolgt werden?

BF: Die Taliban nehmen so etwas sehr ernst, auch wenn man einfacher Soldat bei der Armee ist oder beim Militär, dann töten sie einem. Die Taliban haben auch ein starkes Netzwerk. Ich war beim Geheimdienst und die Taliban nehmen das ernst.

R: Wie viele Personen, Soldaten und Militärpersonen waren in Ihrer Einheit?

BF: Wir waren 60 Uniformierte und mehrere in Zivil.

R: Beschreiben Sie möglich detailliert, nachvollziehbar und lebendig Ihre spezifische Tätigkeit.

BF: Wir sind in der Früh aufgestanden, wir hatten eine Laufstunde. Nachdem Frühstück waren wir einsatzbereit. Wir wurden dort, wo eine Explosion war hingeschickt oder wo es eine Militäroperation zur Unterstützung geschickt.

R: Was haben Sie persönlich gemacht?

BF: Wir haben alle das gleiche getan, wir sind aufgestanden, laufen gegangen und waren einsatzbereit.

R: Beschreiben Sie ein Ereignis, was Ihnen im Gedächtnis geblieben ist.

BF: Wenn ich in meiner Einheit war, hatten wir Training und im Einsatz kämpften wir.

R wiederholt die Frage.

BF: Ich habe sowohl gute, als auch schlechte Erinnerungen. Eine gute Erinnerung war, als wir irgendwo in einem Dorf im Einsatz waren, kamen die dortigen Menschen und Kinder zu uns, freuten sich uns zu sehen. Wir nahmen auch immer Hefte und Stifte mit und verschenkten den Kindern im Dorf. Sie freuten sich.

R: Erzählen Sie mir über ihre militärische Tätigkeit.

BF: Eines Tages, als ich mit meinen Kollegen am Weg zum Präsidium war, wurden wir angegriffen. Bei diesem Angriff kamen zwei meiner Kollegen, auch meine guten ‚Freunde ums Leben.

R: Beschreiben Sie genau, was sich ab abgespielt hat.

BF: Eines Tages haben wir den Auftrag erhalten, einen XXXX in XXXX festzunehmen. Wir waren später am Nachmittag dort, aber haben ihn nicht gefunden. In der gleichen Nacht haben die Amerikaner dort eine Operation durchgeführt und bei diesem töteten sie den XXXX . Am nächsten Tag hat die Bevölkerung die Leiche von in den Provinzzentrum gebracht und demonstriert. Dieser Vorfall war im Jahr 2009, denke ich. Wir haben gegen 10 Uhr Vormittag den Auftrag erhalten in XXXX zu kontrollieren und Menschen zu durchsuchen. XXXX war ein großer Anführer der Taliban.

R: Sie haben vor der Erstbehörde einen anderen Talibanführer erwähnt, können Sie sich erinnern?

BF: Den, den ich dort genannte habe, wurde ich bedroht.

R: Wie heißt der?

BF: XXXX . Es war Kommisionsleiter der Taliban, ein anderer namens XXXX .

R: Sie haben im Erstverfahren auch einen amerikanischen Stützpunkt erwähnt?

BF: XXXX (phonetisch).

R: Wurden nur Sie bedroht oder andere aus Ihrer Einheit?

BF: Ich persönlich wurde bedroht, ob andere bedroht wurden, weiß ich nicht. Ich habe meinem Kommandanten schon alles erzählt. Er hat dann mit seinem Vorgesetzten gesprochen. Sie sagten mir, ich solle mir keine Sorgen machen.

R: Sie waren 4 Jahre beim Militär. Wenn Sie erst Ende 2014 weggegangen sind, müssten Sie 2010 zum Militär gekommen sein. Das passt formal gesehen nicht zusammen, dass Sie von einem militärischen Vorfall von 2009 berichten.

BF: Ich wurde im Jahr 06.06.2012 verletzt, danach war ich nicht im Dienst, sondern freigestellt.

R: In welchem Zeitraum waren Sie beim Militär?

BF: Von 2007 oder 2008 bis ich verletzt wurde, also 06.06.2012 war ich im Dienst.

R: Wann hat erstmalig die Bedrohung stattgefunden?

BF: Nachdem ich verletzt wurde und XXXX und XXXX davon erfuhren, dass ich verletzt wurde und nicht gestorben bin, haben sie angefangen mich zu bedrohen, da bekam ich den Drohbrief.

R: Den ersten Drohbrief haben Sie also frühestens im Jahr 2012 erhalten?

BF: Ja.

R: Warum haben Sie vor dem BFA angegeben, dass die das erste Schreiben oder Warnung eineinhalb Jahre nach Beginn Ihrer Tätigkeit bereits erfolgt ist? Können Sie das erklären?

BF: Ja, auch damals wurde ich bedroht, damals war ich gesund.

R: Ich habe sie nach der ersten Bedrohung gefragt.

BF: Damals habe ich meinem Kommandanten über die Bedrohung erzählt.

R: Ich fragte Sie nach der ersten Bedrohung. Sie wurde in einer Miene verletzt, ist das richtig?

BF: Ja.

R: Sie haben vor der Erstbehörde befragt nach einer Bedrohung vor dem BFA angegeben: „das war ca. 4 Monate vor Mienenexplosionen, als ein Brief in unser Haus geworfen wurde“. Was sagen Sie dazu?

BF: Damals habe ich meinem Kommandanten davon berichtet.

R: Hat es vor diesem Ereignis auch schon Ereignisse gegeben?

BF: Ja, auch davor wurde ich bedroht. Sie sprachen mit meinem Vater im Dorf.

R: Erzählen Sie darüber.

BF: Sie sagten meinem Vater, dass wenn sein Sohn seinen Dienst nicht beendet, wir ihn schlachten würden.

R: Schildern Sie die Rahmenumstände näher.

BF: XXXX sagten das meinem Vater persönlich in unserem Dorf in der Moschee.. Telefonisch wurde ich bedroht.

R: Können Sie sich erinnern, was man Ihrem Vater wörtlich gesagt hat?

BF: Ja, mein Vater hat mir das so gesagt.

R: Vor der Erstbehörde haben Sie das anders gesagt, das ist eigentlich etwas Anderes ohne eine Aufforderung aufzuhören.

BF: Ich habe ganz genau wie heute, auch dort erzählt, dass wenn ich nicht aufhöre, sie mich schlachten würden.

R: Können Sie konkret angeben, wann diese Warnungen bzw. Bedrohungen angefangen haben?

BF: Nachdem ich verletzt wurde.

R: Verletzt waren Sie aber nach 4 Jahre tätig.

BF: Auch während meines Dienstes wurde ich bedroht und ich habe das nicht ernst genommen. Gewarnt wurde schon bevor ich verletzt wurde.

R: Wann haben die Warnungen begonnen?

BF: Das war nach meiner Verletzung im Jahr 2012.

Die Verhandlung wird unterbrochen um 10:41 Uhr.

R: Zurück zu den Warnungen oder Bedrohungen. Können Sie chronologisch berichten, wer wann, wo in welcher Weise bedroht wurde?

BF: Die Warnungen begannen ca. eineinhalb nach meinem Dienstbeginn. Nach meiner Verletzung im Jahr 2012 wurden die Bedrohungen heftiger. Da wurde ich schriftlich bedroht.

R: In welcher Weise wurden die Bedrohungen heftiger?

BF: Sie wollten nicht, dass ich am Leben bleibe, sie versuchten mich umzubringen.

R: Das ist nicht schlüssig, da sie bereits zu Ihrem Vater gegangen sind und angekündigt haben, dass sie Sie schlachten wollen würden? Da besteht keine Steigerung mehr.

BF: Sie wurden von der Anzahl mehr.

R: Wenn ich das richtig verstehe… Wurden Sie zumindest über 4 Jahre hinweg, eineinhalb Jahre hat die Bedrohung begonnen, dann bleiben noch zweieinhalb Jahre und dann wurden Sie verletzt. Hat es während dieser Zeit, nach der ersten Bedrohung bis zu Ihrer Ausreise irgendeinen persönlichen Vorfall gegeben?

BF: Ja, ich wurde telefonisch bedroht.

R: Nein, ich meine persönlich.

BF: Nein, ich bin denen nicht begegnet.

R: Ich halte Ihnen also vor, sie haben sich viereinhalb Jahre nach der ersten Bedrohung nach einer Unzahl von Warnungen gänzlich unbehelligt in einem Ort aufgehalten, wo die Taliban aktiv ist. Dann wurden Sie 4 ½ Jahre aufgehalten

BF: Nein, nein, nein, ich war nicht zu Hause ich hielt mich an verschiedenen Orten auf. Ich lebte in Kabul oder XXXX .

R: Ich habe Sie gefragt, ob Sie in Kabul waren, sie haben dies verneint.

BF: In Mazar oder Herat habe ich nicht gelebt, aber in Kabul gab es das Krankenhaus und ich hatte Termine.

R: Glauben Sie tatsächlich, dass es währen dieser 4 ½ Jahren ein massives Verfolgungsrisiko für Sie gegeben hat. Dann hätten Sie viel früher das Land verlassen?

BF: Ich war verletzt, ich konnte nicht reisen oder gehen.

R: Würden Sie selber sagen, dass Sie aufgrund Ihrer beruflichen Position oder Tätigkeit für die Taliban von einer gewissen höheren wichtig gewesen sind?

BF: Ja, für die Taliban war ich schon wichtig.

R: In wie fern?

BF: Weil ich Soldat beim Geheimdienst war und Geheimdienst ist für die Taliban sehr wichtig.

R: Hatten Sie innerhalb des Geheimdienstes eine besondere Bedeutung?

BF: Ich war sehr beliebt.

R: Worin bestand konkret Ihre Geheimdiensttätigkeit?

BF: Ich war Soldat dort.

R: Hatten Sie irgendwelche Spezialkenntnisse, die ein normaler Armeeangehöriger nicht hat?

BF: Ja, ich hatte Informationen, das hab ich bei meiner letzten Einvernahme dem D gesagt, er hat es nicht übersetzt.

R: Wieso hätte das der D nicht übersetzten sollen?

BF: Mir wurden meine Protokolle auch nicht rückübersetzt.

R: Sie haben selbstausgeführt, während dieser 4 Jahre Tätigkeit nur einfacher Soldat zu sein. Üblicherweise verfügen die einfachen Soldaten über keinerlei Spezialkenntnisse, sondern sind sie reine Befehlsempfänger. Worin liegt ein Risiko?

BF: Für die Taliban war ich wichtig, kein einfacher Soldat, weil ich bei der nationalen Sicherheit arbeitete.

R: Hat es Ihrer Kenntnis nach während dieser 4 Jahre Tätigkeit Vorfälle oder Bedrohungen anderer einfacher Soldaten Ihrer Einheit gegeben?

BF: Ja, es gab mehrere Bedrohungen.

R: Hat es Vorfälle gegeben?

BF: Viele wurden auch getötet, das habe ich gesehen.

R: Berichten Sie über so etwas.

BF: Sowohl Uniformierte, als auch in Zivil wurden aus unserem Präsidium getötet.

R: Wurden diese Männer in Ausübung Ihrer Tätigkeit getötet? Wie bei den Mienenexplosionen.

BF: Manche wurden auf dem Weg zum Dorf getötet, weil die Taliban davon erfuhren, dort wo sie erwischt wurden, wurden sie getötet.

R: Während dieser 4 Jahre, haben Sie sich bei Ihrer Familie sicher auch aufgehalten?

BF: Nein.

R: 4 Jahre haben Sie Ihren Vater nicht gesehen?

BF: Ich bin zum Provinzzentrum gefahren und ihn dort getroffen, aber nicht im Dorf.

R: Sind Sie während der gesamten Zeit Ihres Aufenthaltes, wurden Sie da nie persönlich behelligt?

BF: Als ich verletzt wurde, habe ich meinem Vater einen Ort genannt, er ist dorthin gekommen und wir trafen uns.

R: Auf welche Weise haben Sie sich zu diesen Orten hinbegeben?

BF: Mit dem Taxi.

R: Haben Sie bis zur Ihrer Ausreise noch das Geld vom Militär erhalten?

BF: Ja, ich ging auch ins Krankenhaus, das war von der nationalen Sicherheit. Das Krankenhaus hieß XXXX in Kabul.

R: Wie lange haben Sie sich in Kabul in diesem Krankenhaus aufgehalten?

BF: Unterschiedlich, wenn ich mehr Schmerzen hatte, blieb ich 2 Wochen, manchmal 1 Woche, manchmal 3 Tage.

R: Hatten Sie während des Aufenthaltes in Kabul nicht die Angst von den Taliban erwischt zu werden?

BF: Ja.

R: Was hat den Anlass gebildet, dass Sie sich beschlossen haben AFG zu verlassen?

BF: Mein Leben war in Gefahr. Ich wurde mit dem Tod bedroht und beschloss, das Land zu verlassen.

R: Haben Sie sich bewusst für einen Dienst bei dieser Spezialeinrichtung beworben?

BF: Ja, freiwillig.

R: Erklären Sie mir das, Sie sind 6 Jahre dort aufhältig, wieso sind Sie dann weggegangen? Sie hätten auch in der Landwirtschaft arbeiten können?

BF: Nach meiner Verletzung habe ich ca. 2 Jahre versteckt gelebt, da und dort.

R: Was war der konkrete Anlass, dass Sie sich selbst gesagt haben, dass Sie jetzt AFG verlassen müssen?

BF: Wegen diesen Morddrohungen. Ich bin zu dem Punkt gekommen, das Land zu verlassen, will ich mich fragte, wie lange ich noch versteckt leben muss.

R: Wer kümmert sich um Ihre Frau und Ihr Kind?

BF: Mein Vater, sie wohnen bei ihm.

R: Haben Sie keine Angst um Ihre Familie. Hier wird immer wieder berichtet, dass besonders unter Paschtunen, wenn eine Person verfolgt wird, die ganze Familie zur Rechenschaft gezogen wird?

BF: Ich habe Angst, ich mache mir viele Sorgen.

R: Ist diese Angst begründet?

BF: Mein Sohn ist zu Hause und besucht keine Schule. Sie meinten, wenn sie mich nicht erwischen, würden sie meinen Sohn mitnehmen.

R: Die Taliban hätte 5 ½ Jahre Zeit gehabt gegen Ihre Familie etwas zu unternehmen. Gab es Vorfälle?

BF: Meine Familie ist bedroht. Nein, es war niemand bei uns zu Hause, aber sie wurden bedroht. In das Haus sind sie nicht hineingegangen.

R: Schätzen Sie das Risiko für Ihre Person für den Fall einer Rückkehr sehr hoch ein?

BF: Sobald ich in AFG bin, werde ich getötet.

R: Wir werden dem Amtssachverständigen mit Ihrer Sache befassen und er möge in einer weiteren Beschwerdeverhandlung sachkundige Aussagen über eine Risikogeneigtheit treffen.

R: Können Sie angeben, wo Sie sich zur Rekrutierung gemeldet haben?

BF: Dort im Präsidium in XXXX habe ich mich angemeldet. Ich bin dort persönlich hingegangen. Nachdem meine Daten dort aufgenommen wurden, wurde ich für ca. 1 Monat zum Militärtraining nach XXXX geschickt. Das gehört zu Kabul.

R: Dann waren Sie eine längere Zeit in Kabul?

BF: Wegen dem Training.

R: Auf welcher Weise haben Sie sich zum Training hinbegeben?

BF: Mit anderen Soldaten in einem Auto.

R: In einem LKW?

BF: Mit Autos der Marke XXXX , Militärfahrzeuge.

R gibt RV die Gelegenheit, Fragen zu stellen.

RV: Keine weiteren Fragen.

BF: Ja.

R: Die Dolmetscherin wird Ihnen jetzt die gesamte Verhandlungsschrift rückübersetzen. Bitte passen Sie gut auf, ob alle Ihre Angaben korrekt protokolliert wurden. Sollten Sie einen Fehler bemerken oder sonst einen Einwand haben, sagen Sie das bitte.

BF: Ich bitte um eine Rückübersetzung.

Die vorläufige Fassung der bisherigen Niederschrift wird durch die D dem BF rückübersetzt.

Keine Einwendungen.

Ende der Befragung.

11. Am 04.08.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung eines Dolmetschers eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher der BF, seine rechtliche Vertretung und der als Sachverständige bestellte XXXX teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl blieb der Verhandlung fern.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung stellte der Sachverständige Fragen zum Leben des BF in Afghanistan und zu seinen Fluchtgründen.

12. Mit 24.12.2020 legte der Sachverständige Dr. Sarajuddin Rasuly sein Gutachten zum Fall des BF und der aktuellen politischen Lage in Afghanistan vor.

13. Am 09.02.2021 langte eine Stellungnahme der rechtsanwaltlichen Vertretung des BF zum Sachverständigengutachten beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF stellte nach illegaler Einreise nach Österreich am 29.12.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Er wurde XXXX in der Provinz Laghman in Afghanistan geboren, er ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Seine Frau und sein Sohn leben mit den Eltern des BF sowie seinen Geschwistern im Distrikt XXXX in der Provinz Laghman.

Der BF absolvierte im Herkunftsstaat eine zehnjährige Schulbildung und arbeitete anschließend vier Jahre als Soldat für den nationalen Sicherheitsdienst Afghanistans NDS. Er war in XXXX stationiert, hatte keinen (Unter)Offiziersstatus und war nicht Teil einer Spezialeinheit. Nachdem der BF bei einer Minenexplosion im Jahr 2012 verletzt wurde, wurde sein Dienstverhältnis beendet und er war nicht mehr erwerbstätig.

Der BF ist grundsätzlich gesund und arbeitsfähig. Er verletzte sich durch eine explodierte Mine in Afghanistan und zog sich insbesondere eine Verletzung des linken Auges zu. Sein Auge wurde sowohl in Indien als auch in Österreich operativ behandelt, er nimmt weiterhin Augentropfen. Der BF leidet zudem an chronischer Hepatitis B, weswegen er Zeffix-Tabletten einnimmt. Organische oder sonstige Schäden aufgrund von Hepatitis B gehen aus den Unterlagen nicht hervor. Von ärztlicher Seite werden halbjährliche Kontrollen betreffend die Viruslast empfohlen. Sonstige Krankheitsbilder oder Gebrechen konnten nicht festgestellt werden.

Im Hinblick auf die Pandemie zum Corona-Virus SARS-CoV2 (COVID-19) ist festzuhalten, dass der BF als junger Mann trotz seiner Hepatitis B-Erkrankung nicht unter die Risikogruppe der älteren Personen bzw. der Personen mit einschlägigen Vorerkrankungen fällt und in der Folge daher keiner maßgeblichen Gefahr durch die Pandemie ausgesetzt ist.

1.2. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF hat keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich.

Er ist strafrechtlich unbescholten, besuchte in Österreich mehrere Deutschkurse und kann ein Sprachzertifikat des Niveaus A2 vorweisen. Er ist ehrenamtlich aktiv, unter anderem bei der örtlichen Pfarre, der Caritas sowie der Diakonie und spielt Volleyball in seiner Freizeit. Auch nahm er an Kursen des ÖIF teil. Dass sich der BF in Österreich ein besonders schützenswertes Privatleben aufgebaut hat, kann nicht erkannt werden.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Nicht festgestellt werden kann, dass der BF jemals von den Taliban konkret und/oder persönlich von den Taliban bedroht wurde. Nicht festgestellt werden kann, dass der Bruder des BF von den Taliban getötet wurde.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Laghman ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Dem BF steht aber eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in einer der großen Städte Afghanistans - konkret Mazar-e Sharif - zur Verfügung; diesbezüglich wird auch auf die nachfolgenden Ausführungen im Rahmen der rechtlichen Beurteilung (unten II.3.2.2.) verwiesen.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Seine Existenz könnte er - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Die Erwerbsfähigkeit des BF ist nicht eingeschränkt und er kann eine in Afghanistan überdurchschnittliche (zehnjährige) Schulbildung sowie Berufserfahrung vorweisen.

Er ist auch in der Lage, in den genannten Städten eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF hat zunächst auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der BF kann Mazar-e Sharif von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.

Afghanischen Staatsangehörigen, die aus Europa zurückkehren, droht in Afghanistan allein aufgrund ihres Aufenthalts außerhalb Afghanistans keine psychische und/oder physische Gewalt.

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es mit Stand 28.04.2021, 610.733 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen und 9.903 Todesfälle; in Afghanistan wurden bislang 59.576 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 2.618 diesbezügliche Todesfälle bestätigt wurden.

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf. Der BF ist nicht Angehöriger dieser Risikogruppe. Umgekehrt ist er als junger Mann selbst bei einer Infektion keiner erhöhten Wahrscheinlichkeit eines Ausbruches einer schweren Erkrankung ausgesetzt.

1.5. Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat Afghanistan:

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Es ist geplant die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020) waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Millionen (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020, TN 11.5.2020).

Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (HRW 13.1.2021).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die "innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 5.1.2021 sei in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft worden, sagte das Verteidigungsministerium in Kabul (Ruttig 12.1.2021; vgl. TN 9.1.2021).

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner "schwierig", sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.1.2020; vgl. DZ 29.1.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.1.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.1.2020; vgl. BBC 23.1.2021).

Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.2.2021b.; vgl. AP 23.2.2021).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Pers

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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