TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/14 W204 2195509-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.05.2021
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Entscheidungsdatum

14.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W204 2195509-1/13E
W204 2195512-1/14E
W204 2195490-1/8E
W204 2217928-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde des Y XXXX K XXXX , geb. am XXXX 1993, StA Afghanistan, vertreten durch Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt in 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde der T XXXX S XXXX , geb. am XXXX 1998, StA Afghanistan, vertreten durch Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt in 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

3.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde des XXXX K XXXX B XXXX geb. am XXXX 2016, StA Afghanistan, vertreten durch die Mutter T XXXX S XXXX , diese vertreten durch Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt in 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde des XXXX K XXXX B XXXX , geb. am XXXX 2019, StA Afghanistan, vertreten durch die Mutter T XXXX S XXXX , diese vertreten durch Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt in 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.03.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Beschwerdeführer 1.) und 2.) (im Folgenden: BF1 und BF2), afghanische Staatsbürger, reisten in das Bundesgebiet ein und stellten am 08.06.2016 Anträge auf internationalen Schutz.

I.2. Am selben Tag wurden sie durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Niederösterreich niederschriftlich erstbefragt.

Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF1 aus, er habe Afghanistan verlassen müssen, weil die Taliban einen seiner Brüder und seinen Vater getötet hätten.

Die BF2 gab an, es seien zwei Brüder des BF1 und dessen Vater getötet worden. Außerdem hätten die Taliban den BF1 aufgefordert, am Jihad teilzunehmen.

I.3. Nachdem der Beschwerdeführer zu 3.) (im Folgenden: BF3) im Bundesgebiet geboren worden war, stellten der BF1 und die BF2 am 18.01.2017 als Vertreter für diesen einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.3. Am 28.03.2018 wurden der BF1 und die BF2 von der zur Entscheidung berufenen Organwalterin des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari unter anderem zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer Identität, ihren Lebensumständen in Afghanistan, ihren Familienangehörigen und ihren Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gab der BF1 an, sein Bruder sei von den Taliban umgebracht worden, weswegen er innerhalb Afghanistans umgezogen sei. Dort habe er seine Frau, die BF2, geheiratet, obwohl sie bereits jemand anderem versprochen gewesen sei.

Die BF2 gab zu ihren Fluchtgründen an, ein von ihr namentlich Genannter habe um ihre Hand angehalten, was ihr Vater aber abgelehnt habe. Als sie dann den BF1 geheiratet habe, seien ihr Vater und der BF1 bedroht worden.

Für den BF3 verwiesen beide auf ihre eigenen Fluchtgründe und machten für diesen keine eigenen Fluchtgründe geltend.

I.4. Mit den im Rubrum zu 1.) bis 3.) genannten Bescheiden, den BF am 17.04.2018 zugestellt, wurden die Anträge der BF1 bis BF3 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkte II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den BF nicht erteilt, Rückkehrentscheidungen wurden erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkte III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte IV.).

Begründend führte das BFA aus, das Vorbringen der BF sei nicht glaubhaft. Der Status eines Asylberechtigten könne daher nicht gewährt werden. Eine Rückkehr sei den BF auch möglich und zumutbar, sodass ihnen der Status des subsidiär Schutzberechtigten ebenfalls nicht zuerkannt werden könne. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, weil die Voraussetzungen nicht vorlägen. Letztlich hätten auch keine Gründe festgestellt werden können, wonach bei einer Rückkehr der BF gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK verstoßen werde, weswegen auch eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

I.5. Mit Verfahrensanordnungen vom 13.04.2018 wurde den BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.6. Gegen die unter I.4. genannten Bescheide richtet sich die gemeinsam ausgeführte Beschwerde der BF1 bis BF3 vom 11.05.2018, in der beantragt wurde, den BF den Status des Asylberechtigten, in eventu jenes des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, jedenfalls die Rückkehrentscheidungen aufzuheben, in eventu die Bescheide zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen sowie eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen.

Begründend werde auf das bisher Vorgebrachte verwiesen, das entgegen der Ansicht des BFA glaubhaft sei. Unabhängig davon lasse die Sicherheits- und Versorgungslage eine Rückkehr der BF nicht zu, sodass ihnen jedenfalls der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen sei.

I.7. Die Beschwerde und die Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 16.05.2018 vorgelegt, wobei das BFA beantragte, die Beschwerde abzuweisen.

I.8. Nach der Geburt des Beschwerdeführers zu 4.) (im Folgenden: BF4) und Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz am 22.02.2019 wurden der BF1 und die BF2 hierzu am 12.03.2019 einvernommen. In dieser Einvernahme verwiesen der BF1 und die BF2 auf ihre Fluchtgründe und machten für den BF4 keine eigenen Fluchtgründe geltend.

I.9. Am 13.03.2019 erging der zu 4.) genannte Bescheid, mit dem über den Antrag des BF4 gleichlautend wie über jenen seiner Familienangehörigen abgesprochen wurde.

I.10. Am 19.04.2019 erhob der BF4 dagegen Beschwerde. Er beantragte und führte aus wie zuvor seine Familienmitglieder. Zusätzlich wurde auf die aktuelle Sicherheitslage Bezug genommen, die eine Rückkehr für Familien mit mehreren minderjährigen Kindern jedenfalls ausschließe. Der Akt des BF4 langte am 25.04.2019 im Bundesverwaltungsgericht ein.

I.11. Am 04.07.2019 zeigte der im Spruch genannte Vertreter seine Bevollmächtigung an.

I.12. Am 05.02.2020 legte das BFA einen Abschlussbericht vor, wonach der BF1 der fahrlässigen Körperverletzung zum Nachteil des BF4 verdächtig sei.

I.13. Am 19.11.2020 übermittelte das BFA einen Antrag des BF1 auf Änderung der Personendaten.

I.14. Am 09.02.2021 legten die BF Integrationsunterlagen vor.

I.15. Am 12.02.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die BF und ihre Rechtsvertretung teilnahmen. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurden die BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu ihrer Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, ihren Familienangehörigen, ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.

I.16. Am 22.02.2021 legte der BF1 eine Arbeitsplatzzusage vor.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend die BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-        Befragung der BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 12.02.2021;

-        Einsicht in die im Rahmen des Verfahrens vorgelegten Unterlagen und Stellungnahmen;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;

-        Einsicht in das Strafregister, in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.

II. Feststellungen:

II.1. Zu den BF:

Die BF führen den jeweiligen im Rubrum genannten Namen und die dortigen Geburtsdaten. Ihre Identität kann nicht festgestellt werden. Sie sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und sind sunnitische Muslime. Ihre Muttersprache ist Dari. Der BF1 und die BF2 beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift. Der BF1 spricht außerdem Usbekisch.

Der BF1 ist im Distrikt K XXXX in der Provinz Kunduz geboren und aufgewachsen. Wenn die Sicherheitslage es erforderte, lebte der BF1 mit seiner Familie in der Provinz Takhar, aus der die Mutter des BF1 stammt, in T XXXX in C XXXX H XXXX Z XXXX Im Heimatdorf in der Provinz Kunduz lebte die Familie des BF1 in ihrem Eigentumshaus. Die Familie war dort auch Eigentümerin von Grundstücken. In der Provinz Takhar lebte die Familie des BF1 in einem Mietshaus. Im Jahr 1388 (=2009/10) lebte der BF1 in Kabul Stadt. Der BF1 hat keine Schule besucht, wurde jedoch von seiner älteren Schwester unterrichtet. Er arbeitete seit seiner frühen Kindheit als Bäcker unter anderem in Kunduz Stadt, im Zentrum der Provinz K XXXX , in Takhar und in Kabul. Teilweise war der BF1 angestellt, teilweise betrieb er mit einem Partner eine eigene Bäckerei. Durch seine Arbeit war der BF1 in der Lage, seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten und Ersparnisse beiseite zu legen, die er unter anderem zur Begleichung der Schlepperkosten heranzog.

Die BF2 ist in der Provinz Takhar in der XXXX stadt T XXXX im Stadtteil M XXXX S XXXX H XXXX geboren und aufgewachsen. Der Stadtteil wie auch die dortige Moschee sind nach dem Vater der BF2 benannt, der dort zum Ortsältesten gewählt wurde. Die Familie hatte ein Eigentumshaus, weitere Häuser und Grundstücke in der Provinz. Der Vater der BF2 führte außerdem ein sehr großes Geschäft für Autoersatzteile. Der Vater der BF2 war sehr wohlhabend. Er hatte viele Angestellte, die sein Geschäft geführt und die Grundstücke bewirtschaftet haben. Die BF2 hat wie ihre Geschwister die Schule besucht.

Die Wohnorte der BF in Takhar waren zu Fuß ungefähr vier bis zehn Minuten voneinander entfernt.

Der BF1 und die BF2 haben am 01.09.1394 (=22.11.2015) in Takhar geheiratet. Der BF3 und der BF4 sind deren im Bundesgebiet geborenen Söhne. Sie sprechen und verstehen altersgemäß Dari.

Die BF sind nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Alle BF sind gesund. Sie leiden weder an chronischen oder akuten Krankheiten noch an anderen Leiden oder Gebrechen. Sie sind nicht in Therapie und nehmen keine Medikamente ein. Der BF1 und die BF2 sind arbeitsfähig.

II.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

Weder der Vater noch die Brüder des BF1 wurden von den Taliban aufgrund einer persönlichen Feindschaft ermordet.

Die BF2 war vor ihrer Heirat mit dem BF1 keinem anderen Mann versprochen. Weder die BF noch deren Familien wurden deswegen in Afghanistan bedroht.

Die BF2 hat an mehreren Deutschkursen teilgenommen. Zuletzt besuchte sie einen Deutschkurs A1 Teil 2. Sie versteht und spricht kaum Deutsch. Die BF2 hat bisher nicht gearbeitet und war auch kein Mitglied in einem Verein.

Die BF2 verbringt einen normalen Tag damit, dass sie nach dem Aufstehen den BF3 für den Kindergarten fertig macht, während der BF1 das Frühstück vorbereitet. Vormittags kümmert sich die BF2 um den Haushalt und die Vorbereitung des Mittagessens, bis ihr Mann den BF3 wieder vom Kindergarten abgeholt hat. Gelegentlich geht sie alleine, manchmal auch in Begleitung ihres Mannes einkaufen. Am Nachmittag geht sie öfters mit den Kindern spazieren. Manchmal geht sie auch alleine spazieren.

Die BF2 hat während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise verinnerlicht, die für sie zu einem bedeutenden Bestandteil ihrer Identität wurde und aufgrund derer sie einer Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre, wenn sie diese auch in Afghanistan auslebte.

Den BF droht bei einer Neuansiedlung in Afghanistan keine konkret gegen sie gerichtete, individuelle physische oder psychische Gewalt.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen den BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Der BF3 und der BF4 haben ihren Lebensmittelpunkt bei ihren Eltern, die in der Lage sind, die minderjährigen BF zu schützen. Sie werden altersgerecht in Afghanistan eine Schule besuchen können. Falls ihnen der Schulbesuch verweigert werden sollte, beruht diese Verweigerung nicht auf Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

II.3. Zum (Privat-)Leben der BF in Österreich:

Der BF1 und die BF2 reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und halten sich zumindest seit dem 08.06.2016 durchgehend in Österreich auf. Sie sind nach ihren Anträgen auf internationalen Schutz vom selben Tag in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig. Der BF3 und der BF4 halten sich jeweils seit ihrer Geburt durchgehend in Österreich auf. Im Familienverfahren und aufgrund ihrer Anträge auf internationalen Schutz sind auch sie aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig in Österreich aufhältig.

Der BF1 besuchte mehrere Deutschkurse bis zum Niveau A2. Er bestand die Prüfung auf dem Niveau A1.

Der BF1 arbeitete seit Juli 2016 regelmäßig in seinen Wohngemeinden im Bereich des Bauhofs, wofür er teils Anerkennungsbeträge erhielt. Von Juli bis November 2018 war er ehrenamtlich in einem Sozialmarkt tätig. Seit 20.01.2021 verrichtet er bei einem Sozialhilfeverband im Rahmen der Freibetragsgrenze gemeinnützige Tätigkeiten im Küchendienst. Zuvor verrichtete er seit Juli 2020 gemeinnützige Tätigkeiten (Unterstützung Gartenarbeit) in einem Alten- und Pflegeheim im Ausmaß von 22 Stunden pro Monat. Ebenso beschäftigt er sich ehrenamtlich in seiner Unterkunft. Zwischen dem 08.04.2020 und 16.05.2020 war der BF als Erntehelfer beschäftigt. Dafür erhielt er netto insgesamt € XXXX . Ab Mai 2021 hat der BF1 eine Arbeitsplatzzusage.

Der BF3 besucht den Kindergarten. Der BF4 ist zu Hause. Innerhalb der Familie wird ausschließlich auf Dari kommuniziert. Aufgrund der afghanischen Nachbarschaft der Familie und dem Umstand, dass sich die Familie ansonsten nicht in die österreichische Gesellschaft integrierte, versteht und spricht, soweit letzteres in seinem Alter möglich ist, der BF4 nur Dari.

Die BF sind strafrechtlich unbescholten. Sie beziehen Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.

II.4. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:

Der Vater des BF1 ist verstorben. Seine Mutter, zwei Brüder und zwei Schwestern leben in der Provinz Takhar am früheren Wohnort des BF1. Eine Schwester ist verheiratet. Ein weiterer Bruder des BF1 lebt in der Türkei. Der Aufenthaltsort eines weiteren verheirateten Bruders ist dem BF1 unbekannt. Der in der Türkei lebende Bruder arbeitet. Ebenso arbeiten seine volljährigen, in Afghanistan lebenden Brüder. In der Provinz Kunduz verfügt die Familie noch über landwirtschaftliche Grundstücke, die derzeit aufgrund der dortigen Sicherheitslage brachliegen. In Takhar hat die Familie landwirtschaftliche Grundstücke angemietet und lässt diese durch Angestellte bestellen. Die Erträge daraus fließen der Familie zu.

Der Vater, die Mutter sowie fünf Brüder und zwei Halbbrüder der BF2 leben in Afghanistan in der Provinz Takhar am früheren Wohnort der BF2. Ebenso leben dort zwei ältere und eine jüngere Schwester der BF2. Die älteren Schwestern haben Lehramt studiert und arbeiten als Lehrerinnen. Die jüngere Schwester hat die Schule ebenfalls bereits abgeschlossen. Weitere (Halb-)Schwestern der BF2 leben ebenfalls in Afghanistan. Eine davon lebt in Kabul. Die Schwager der BF2 arbeiten ebenfalls, zwei arbeiten als Wachleute. Die Familie verfügt im Heimatort nach wie vor über ein hohes Ansehen sowie die landwirtschaftlich genutzten Grundstücke, Häuser und das große Geschäft für Autoersatzteile. Die Familie der BF2 ist für afghanische Verhältnisse überdurchschnittlich reich.

In Afghanistan leben weiters ein Onkel väterlicherseits, zwei Onkel mütterlicherseits und drei Tanten mütterlicherseits der BF2.

Sowohl der BF1 als auch die BF2 haben Kontakt zu ihren Familien.

Die BF können bei einer Ansiedlung in Afghanistan von ihren Angehörigen umfassend finanziell und organisatorisch unterstützt werden. Die Angehörigen sind unterstützungsfähig und –willig. Sie haben die BF auch bisher unterstützt. Ebenfalls können die BF Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Die BF sind anpassungsfähig und der BF1 und die BF2 können einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Bei einer Rückkehr an ihren letzten Wohnort droht den BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit. Das Dorf ist für sie sicher erreichbar. Die BF könnten bei einer Rückkehr dorthin in einem Haus der Familie wohnen. Der BF1 wäre dort in der Lage, wieder als Bäcker zu arbeiten und dadurch den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu verdienen. Er könnte auch im Unternehmen seines Schwiegervaters mitarbeiten. Die BF wären dort in der Lage, grundlegende Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, zu befriedigen, ohne in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Sie können dabei von ihrer Familie unterstützt werden.

Den BF wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Kabul, Herat Stadt oder Mazar-e Sharif kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen. Die Städte sind über den Luftweg sicher erreichbar.

Die BF können bei einer Rückkehr nach und Ansiedlung in Afghanistan auch in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat von ihren Angehörigen finanziell in außergewöhnlich hohem Ausmaß sowie organisatorisch unterstützt werden. Sie können auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und den vom BF1 angesparten Betrag für ihre Rückkehr nutzen. Die BF können mithilfe ihrer Verwandten in Afghanistan auch bereits aus dem Bundesgebiet eine Unterkunft organisieren. In Kabul können sie vorübergehend bei der Schwester der BF2 leben. In Herat und Mazar-e Sharif können sie sich mithilfe der finanziellen Unterstützung ihrer Familienangehörigen eine Wohnung oder ein Haus mieten. Dadurch stehen den BF mit der Ankunft eine sofortige Unterkunft, grundlegende Versorgung (Trinkwasser, sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung) und die notwendigen Lebensgrundlagen zur Verfügung. Dem BF1 ist es durch seine Kontakte am Arbeitsmarkt und seine Berufserfahrung möglich, sich am jeweiligen Arbeitsmarkt (wieder) einzugliedern und einen Beruf auszuüben. Bereits bisher war er in der Lage, in verschiedenen Orten und Städten als Bäcker zu arbeiten. Auch die BF2 könnte, so sie dies wollte, durch ihre eigene Arbeitstätigkeit, allenfalls auch von zu Hause aus, zum Familieneinkommen beitragen.

Die BF sind in ihrem letzten Wohnort, in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif keiner realen Gefahr des Todes oder der Folter beziehungsweise der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe ausgesetzt. Sie wären aufgrund der bloßen Anwesenheit wegen der dortigen jeweiligen Lage keiner integritäts- oder lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt. Die BF wären im Stande, aus Eigenem für ein ausreichendes Einkommen zur Sicherung ihrer Grundbedürfnisse zu sorgen. Sie können grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Es wäre den BF möglich, ein Leben wie ihre Landsleute zu führen. Hinzu kommt, dass sie mit einer außerordentlich hohen Unterstützung ihrer Familienmitglieder rechnen dürfen. Die minderjährigen BF haben ihren Lebensmittelpunkt in der Familie. Ihnen droht keine reale Gefahr einer Gewalt durch die Familie oder in der Schule. Sie werden von ihrer Familie beschützt werden.

II.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020 (LIB);

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR);

-        UNHCR: Afghanistan, Compilation of Country of Origin Information (COI) Relevant for Assessing the Availability of an Internal Flight, Relocation or Protection Alternative (IFA/IRA/IPA) to Kabul, December 2019;

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019);

-        EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO 2020);

-        EASO Country Guidance 2020 vom 29.01.2021

-        EASO Bericht Afghanistan Networks (EASO Netzwerke);

-        EASO: Afghanistan - Key-socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020) (EASO Indikatoren);

-        EASO: Afghanistan - Security Situation (September 2020) (EASO Security);

-        EASO: Afghanistan - State Structure and Security Forces (August 2020) (EASO State);

-        EASO: Afghanistan - Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs) (August 2020) (EASO AGEs);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat) und

-        Ecoi.net-Themedossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Sharif (ecoi).

II.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktszentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten (LIB, Kapitel 5). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B). Zwischen 01.03.2019 und 30.06.2020 wurden 15.287 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, wovon 573 Vorfälle sich gegen Zivilisten richteten (EASO Security, 1.3.). Während des ersten Viertels 2020 blieb der Konflikt in Afghanistan einer der tödlichsten der Welt für Zivilisten. Zwischen 01.01.2020 und 30.06.2020 dokumentierte UNAMA 3.458 zivile Vorfälle, inkludierend 1.282 Tote und 2.176 Verletzten. Das stellt einen Rückgang von 13% zur Vorjahresperiode dar. Dieser allgemeine Rückgang ist auf einen Rückgang von Luftschlägen und einer Reduzierung der IS Aktivitäten zurückzuführen (EASO Security, 1.4.1.). Zwischen 01.01.2020 und 30.09.2020 wurden von UNAMA 5.939 zivile Opfer gezählt, das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang um 13% und den niedrigsten Wert seit 2012. Im gesamten Jahr 2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 7).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus. High-Profile Angriffe (HPAs) ereigneten sich insbesondere in der Hauptstadtregion (LIB, Kapitel 5). Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant (LIB, Kapitel 5).

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 4).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet, wobei die afghanische Regierung daran weder beteiligt war noch von ihr unterzeichnet wurde. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen ist von der Einhaltung der Taliban an ihren Teil der Abmachung abhängig. Die Taliban haben im Abkommen unter anderem zugesichert, terroristischen Gruppierungen keine Zuflucht zu gewähren und innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (LIB, Kapitel 4).

Die Taliban haben jedoch die politische Krise aufgrund der Präsidentschaftswahl als Vorwand genutzt, den Einstieg in die Verhandlungen hinauszuzögern. Außerdem werfen sie der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung nicht einzuhalten und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4). Diese Angriffe der Taliban richten sich gegen die ANDSF und nicht gegen internationale Kräfte (EASO Security, 1.3.). Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat allerdings trotzdem nicht nachgelassen (LIB, Kapitel 4).

II.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant (LIB, Kapitel 22).

Einer Prognose der Weltbank vom Juli 2020 zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 als Folge der COVID-19-Maßnahmen zwischen 5,5 und 7,4 % schrumpfen, was die Armut verschlimmern und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen werde. Schon 2019 ist das absolute BIP trotz Bevölkerungswachstums das zweite Jahr in Folge gesunken. Seit 2013 ist auch das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf stark zurückgegangen, von rund 660 auf 540 US-Dollar im Jahr 2019 (EASO Indikatoren, Kapitel 2.1.1.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (LIB, Kapitel 22).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tägliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 22).

Die Lage am afghanischen Arbeitsmarkt, der vom Agrarsektor dominiert wird, bleibt angespannt und die Arbeitslosigkeit hoch. Es treten viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, der nicht in der Lage ist, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, allerdings beratende Unterstützung, die auch Rückkehrende in Anspruch nehmen können (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020 Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5). In den ländlichen Gebieten leben bis zu 60% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze, in den urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel 22).

Afghanistan ist weit von einem Wohlfahrtsstaat entfernt. Afghanen rechnen auch nicht mit staatlicher Unterstützung. Die fehlende staatliche Unterstützung wird von verschiedenen Netzwerken ersetzt und kompensiert (LIB, Kapitel 22).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungssicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. Im ersten Halbjahr 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die COVID-19-Krise führte zu einem deutlichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit und einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise. Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, wieder gesunken zu sein (LIB, Kapitel 3).

Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO Indikatoren, Kapitel 2.4.1.).

Zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts durch COVID-19 gibt es keine offiziellen Regierungsstatistiken, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat. Die afghanische Regierung warnt vor einer Steigerung der Arbeitslosigkeit um 40%. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen habe in einer Befragung bis Juli 2020 84% angegeben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Fall einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten, bei einer vierwöchigen Quarantäne steigt diese Zahl auf 98%. Insgesamt ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen negativ betroffen sind. Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (LIB, Kapitel 3).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. 2019 waren 10,2 Millionen von Lebensmittelunsicherheit betroffen, während 11,3 Millionen humanitäre Hilfe benötigen (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der Finanzsektor in Afghanistan entwickelt sich und es gibt mittlerweile mehrere Banken. Auch ist es relativ einfach, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem kann über das sogenannte Hawala-System Geld einfach und kostengünstig weltweit transferiert werden (LIB, Kapitel 22).

II.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.1.; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Staatsbürger zur Verfügung zu stellen. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Voraussetzung dafür ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis oder Tazkira. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist allerdings sichergestellt, weniger dagegen auf der Ebene von Distrikten und Dörfern. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Das ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB, Kapitel 23).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 23).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sowie auch spezialisierte Kliniken sind grundsätzlich verfügbar. Außerdem werden sie als in der afghanischen Gesellschaft als schutzbedürftig betrachtet und werden als Teil der Familie gepflegt (LIB, Kapitel 23.1).

II.5.3.1. COVID-19

Der erste offizielle Fall in Afghanistan wurde Ende Februar 2020 festgestellt. Nach einer Umfrage des afghanischen Gesundheitsministeriums hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Bevölkerung unabhängig von etwaigen Ausgangsbeschränkungen dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel 3).

Durch die COVID-19-Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. 53% der Bevölkerung haben nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten (LIB, Kapitel 3).

II.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 18).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlich politischen Einfluss im Land. In Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 18.2.)

II.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 17).

II.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 12).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

II.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 20).

Nach Schließung einiger Grenzübergänge aufgrund der COVID-19 Pandemie sind nunmehr alle Grenzübergänge wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen. Auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Ebenso verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führ zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3).

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. In Kabul ist die Fluktuation aufgrund verschiedener Faktoren größer, was oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht, dass man seine Nachbarn nicht mehr kenne (LIB, Kapitel 20).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 20.1).

II.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 5).

Taliban:

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und –pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt. Sie bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (LIB, Kapitel 5).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 5).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug geschätzt etwa 40.000-85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf 100.000 ansteigt. (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami bekannt ist. Diese Gruppe ist gegen den US-Taliban Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (LIB, Kapitel 5).

Laut dem unabhängigen Afghanistan-Experten Borhan Osman rekrutieren die Taliban in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos, in Madrasas und ethnisch paschtunisch ausgebildet sind. Die Rekrutierung erfolgt normalerweise über die Militärkommission der Gruppe und den Einsatz in Moscheen sowie über persönliche Netzwerke und Familien von Kämpfern, von denen viele motiviert sind, „die westlichen Institutionen und Werte, die die afghanische Regierung ihren Verbündeten abgenommen hat, zutiefst zu verabscheuen“. Anstatt Gehälter zu zahlen, übernehmen die Taliban die Kosten (EASO AGEs, 2.4.). Die Taliban Kämpfer werden von einem Bericht in zwei Kategorien eingeteilt. Einerseits professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (LIB, Kapitel 5).

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 5).

Islamischer Staat (IS/Daesh) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Der IS bezeichnet sich in Afghanistan selbst als Khorosan Zweig des IS. Eine Verbindung mit dem IS im Irak und in Syrien ist aber nicht erwiesen Die Stärke des ISKP variiert zwischen 2.500 und 4.000, bzw. 4.500 und 5.000 Kämpfern (LIB, Kapitel 5).

Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. In letzter Zeit geriet der ISKP unter großem Druck und verlor auch seine Hochburg in Ostafghanistan. Er soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKO hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfern reduziert (LIB, Kapitel 5).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Verlust des Territoriums ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 5).

Der ISKP ist mit den Taliban verfeindet und betrachtet diese als Abtrünnige. Während die Taliban ihre Angriffe auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Kapitel 5).

Al-Qaida:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 5).

II.5.9 Provinzen und Städte

II.5.9.1. Herkunftsprovinz Takhar

Takhar liegt im Nordosten Afghanistans und grenzt im Norden an Tadschikistan. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.093.092 Personen geschätzt. Zwei Drittel der Bevölkerung sind Tadschiken, ein Viertel Usbeken, weiters leben in der Provinz Paschtunen, Hazara, Gujari, Paschai und Araber. Eine Verbindungsstraße führt von Kunduz durch die Provinz Takhar (Distrikte Kalafgan, Taloqan und Bangi) nach Badakshan. Die Taliban betreiben Kontrollpunkte entlang der Strecke (LIB, Kapitel 5.31).

Takhar zählt zu den volatilen Provinzen. Der Großteil der Distrikte ist zwischen Aufständischen und Regierungstruppen umkämpft beziehungsweise unter Kontrolle der Taliban. Sechs Distrikte waren umkämpft, vier wurden von den Taliban kontrolliert, sieben sind unter Regierungskontrolle. Die Taliban heben in der Provinz Steuern von Landwirten und Wirtschaftstreibenden ein. Die Taliban griffen auch die Provinzhauptstadt an. Der Angriff konnte jedoch abgewehrt werden. Neben den Taliban sind auch andere islamistische Gruppierung in der Provinz aktiv, unter anderem auch Zellen des IS. Für das Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 240 zivile Opfer (88 Tote und 152 Verletzte). Das entspricht einer Steigerung von 25% gegenüber 2019. Hauptursachen für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 5.31.; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 3.3.).

In der Provinz Takhar kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 3.3.).

II.5.9.2. Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 5.5).

Balkh zählte zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert. Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, auch wenn sich im Jahr 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge ereignet haben. Diese fanden meist in der Nähe der Blauen Moschee statt. Ziel der Anschläge sind Sicherheitskräfte, es fallen ihnen jedoch auch Zivilisten zum Opfer. Im Jahr 2020 gab es 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) (LIB, Kapitel 5.5). Balkh zählt zwar nach wie vor zu einer Provinz, in der die Taliban eine kleinere Präsenz als im übrigen Nordens Afghanistans haben, allerdings hat sich ihr Einfluss im Jahr 2019 vergrößert (EASO Security, 2.5.2.).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

Im Jahr 2020 zählte die Provinz nach Angaben des UN Generalsekretärs zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (LIB, Kapitel 5.5.). Das Konfliktmuster im Distrikt Mazar-e Sharif, zu dem auch die Provinzhauptstadt gehört, unterschied sich vom allgemeinen Muster in der Provinz Balkh und in den verschiedenen Distrikten. Auch Mazar-e Sharif war einer der Bezirke in der Provinz Balkh, in denen eine geringere Anzahl von Vorfällen gemeldet wurde (EASO Security, 2.5.3.1.).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt sowie im Distrikt Marmul findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO 2019, Kapitel Guidance note

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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