Entscheidungsdatum
06.07.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W175 2192027-1/39E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. NEUMANN über die Beschwerde von XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.02.2018, ZI: 1094375703-151746798, nach Durchführung mündlicher Verhandlungen am 15.04.2019 und 23.01.2020 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides wird gemäß
§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt 2. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 06.07.2022 erteilt.
IV. Die Spruchpunkte 3. bis 6. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF) reiste unrechtmäßig nach Österreich ein und stellte am 15.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 11.11.2015 fand die Erstbefragung des BF durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Hierbei gab der BF an, er sei afghanischer Staatsangehöriger und stamme aus der Provinz Maidan Wardak. Er sei am 12.10.1999 geboren und sei schiitischer Hazara. Er habe elf Jahre lang die Schule besucht und zuletzt als Zeichner und Goldschmied gearbeitet. Er habe seit seinem fünften Lebensjahr im Iran gelebt. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab er an, er habe sich in ein iranisches Mädchen verliebt. Der Vater des Mädchens habe ihn mit einem Messer verletzt und habe ihn töten wollen. Sein Onkel habe Angst um das Leben des BF gehabt und ihm geholfen, zu flüchten. Auch könne er nicht nach Afghanistan zurück, da sein Vater dort politisch aktiv sei und deshalb Probleme mit den Taliban habe. Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben.
Dem BF wurde das Protokoll der Befragung rückübersetzt, er gab an, keine Verständigungsprobleme gehabt zu haben und bestätigte dies mit seiner Unterschrift.
3. Ein aufgrund von Zweifeln an der tatsächlichen Minderjährigkeit des BF in Auftrag gegebenes Gutachten zur Altersfeststellung ergab die Minderjährigkeit des BF im Zeitpunkt der Antragstellung; das spätmöglichst angenommene Geburtsdatum wurde diesem Verfahren zugrunde gelegt.
4. Im Zuge der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 06.09.2017 gab der BF an, er denke, an Verfolgungswahn zu leiden und Epilepsie zu haben. Aufgrund einer OP würden sich Metallstifte in seinem Unterarm befinden und habe er Narben unterhalb seiner Achselhöhle. Er habe seit seinem fünften Lebensjahr im Iran gelebt. Seine Familie sei rund zwei Jahre nach der Ausreise des BF aus Afghanistan auch in den Iran geflüchtet. Er habe vier Schwestern und zwei Brüder. Da die Familie so viele Kinder gehabt habe, habe sein Vater den Onkel aus dem Iran um Hilfe gebeten. Sein Onkel habe den BF adoptiert und in den Iran mitgenommen. Er habe sich legal im Iran aufgehalten und elf Jahre lang die Schule besucht. Er habe Figuren vergoldet und versilbert und Porträtzeichnungen angefertigt. Er habe keinen Kontakt nach Afghanistan. Seine Verwandten würden im Iran leben. Der Onkel und der Vater würden eine Metallfirma im Iran haben und die wirtschaftliche Situation der Familie sei sehr gut. Betreffend den Fluchtgrund der Familie aus Afghanistan führte der BF aus, diesen nur aus den Erzählungen seiner Familie zu kennen. Der Vater sowie der Onkel seien Mitglieder der Hezbe Wahdat Partei gewesen; diese seien gegen die Taliban gewesen. Ein hohes Mitglied der Partei sei von den Taliban getötet worden und hätten der Vater und der Onkel auch Probleme mit anderen Parteimitgliedern gehabt. Weshalb die Familie in den Iran geflüchtet sei, wisse der BF nicht genau; seine Familie habe von Taliban und Kutschi erzählt. Auf der Flucht in den Iran sei die Familie von den Taliban aufgehalten worden. Der BF habe mit seinem Onkel, welcher sich als sein Vater ausgegeben habe, weiterreisen dürfen. Seine Eltern und Geschwister seien noch zwei Jahre in Afghanistan geblieben und der Vater habe aus Angst mit den Taliban zusammengearbeitet. Die Familie sei auch jedes Jahr von den Kutschi angegriffen worden. Auch sei der Cousin des BF vor rund vier Jahren nach Afghanistan zurückgekehrt und sei in Kabul durch eine Bombe unterhalb seines Autos getötet worden. Der Cousin sei entdeckt worden, da er eine Tazkira beantragt habe. Auch der BF müsse bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Tazkira beantragen und werde dann ebenfalls getötet werden. Auch seine religiösen Ansichten könnten ein Problem für ihn werden; er könne sich als Mensch nicht verstellen.
Im Iran sei der BF der einzige der Familie gewesen, der Probleme gehabt habe. Er habe sich in ein iranisches Mädchen verliebt. Deren Vater hätte dies nicht gewollt und sei der BF von deren Vater und dessen Bekannten geschlagen und mit einem Messer verletzt worden.
In Österreich spiele er in einem Verein Fußball, mache mit seiner Vertrauensperson Urlaub, gehe schwimmen, laufen und wandern. Auch lerne er Deutsch. Der BF legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.
Dem BF wurde das Protokoll der Befragung rückübersetzt, er gab an, keine Verständigungsprobleme gehabt zu haben und bestätigte dies mit seiner Unterschrift.
5. Am 18.09.2017 langte eine Stellungnahme des BF ein, in welcher im Wesentlichen das Fluchtvorbringen wiederholt wurde.
6. Am 26.09.2017 legte der BF seine iranische Identitätskarte, Kalligraphien des Vaters, ein Foto, welches seinen Onkel und den Anführer der Hezbe Wahdat zeige, einen Bericht über den Kutschi Konflikt, Integrationsunterlagen, eine Schulbesuchsbestätigung und eine Arztterminbestätigung vor.
7. Am 25.10.2017 wurde der BF einer ärztlichen Untersuchung unterzogen, um seine berichteten Verletzungen und die daraus resultierenden Narben medizinisch abzuklären. Im diesbezüglichen Sachverständigengutachten wurde ausgeführt, dass die Narben des BF als Folge von Messerverletzungen entstanden sein könnten. Die Narben am Unterarm seien mit der berichteten OP nach einer Unterarmfraktur vereinbar.
8. Am 03.11.2017 übermittelte der BF einen ärztlichen Befund mit der Diagnose: Verdacht auf Epilepsie mit Krampfanfällen.
9. Am 30.11.2017 wurde ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten erstellt, da der BF vorbrachte, an Verfolgungswahn und Epilepsie zu leiden. Im Gutachten wurde ausgeführt, dass eine psychische Erkrankung nicht diagnostiziert werden könne. Auch liege eine posttraumatische Belastungsstörung mit einer erhöhten Suizidgefahr oder die Gefahr einer lebensbedrohlichen Verschlechterung im Falle der Ausweisung nicht vor. Epilepsie habe bisher nicht sicher diagnostiziert werden können. Eine medikamentöse Behandlung sei nicht erforderlich.
10. Am 23.01.2018 langten weitere Integrationsunterlagen und Unterstützungsschreiben ein.
11. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahren wies das BFA mit gegenständlichem Bescheid vom 06.02.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt 1.) und den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1
Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt 2.). Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt 3.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz (FPG) erlassen (Spruchpunkt 4.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt 5.). Die Frist für die freiwillige Ausreise des BF betrage gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt 6.).
In der Bescheidbegründung traf die Erstbehörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Die Ausreisegründe des BF (Bedrohung durch Taliban und Kutschi-Nomaden) seien prinzipiell glaubhaft, jedoch nicht mehr aktuell. Der BF habe aus nachvollziehbaren Gründen seine Herkunftsprovinz verlassen. Dem BF würde eine innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul oder Mazar-e Sharif zu Verfügung stehen.
12. Mit Schreiben vom 07.03.2018 brachte der BF das Rechtsmittel der Beschwerde ein, mit dem der Bescheid vollinhaltlich angefochten wurde.
Der BF sei Schiit und Hazara. Er sei nicht besonders religiös. Im Falle einer Rückkehr sei der BF gezwungen, wieder in die Moschee zu gehen, um nicht als Ungläubiger angesehen zu werden. Dadurch würde der BF auch Angriffen aufgrund seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit ausgesetzt sein. Überdies habe der BF seit seinem fünften Lebensjahr im Iran gelebt und sei seine ganze Familie im Iran aufhältig. Da das BFA am Aufenthalt der Familie des BF im Iran zweifle, schließe der BF seiner Beschwerde Fotos seiner Familie an, aus denen deutlich ersichtlich sei, dass sich diese im Iran aufhalten würden. Auch die Zweifel des BFA, dass der BF keine Kontakte nach Afghanistan pflege, seien durch die Vorlage des Handys des BF in der Einvernahme vor dem BFA ausgeräumt worden. Im diesbezüglichen Einvernahmeprotokoll sei auch ausdrücklich festgehalten worden, dass im Handy des BF keine afghanischen Kontakte ersichtlich seien. Betreffend die finanzielle Situation der Familie des BF wurde ausgeführt, dass der Vater zwischenzeitlich sein Unternehmen aufgeben hätte und seither arbeitslos sei. Seine Familie könne den BF daher nicht finanziell unterstützen.
Der Beschwerde waren unter anderem der EASO Country Guidance Afghanistan aus Dezember 2017, Fotos der Familie des BF und weitere Berichte zur Lage in Afghanistan angeschlossen.
13. Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 29.06.2018 (inkl. des Updates vom 26.03.2019), die UNHCR Guidelines zu Afghanistan von 30.08.2018, die EASO-Country Guidance Notes zu Afghanistan vom Juni 2018, der EASO Bericht zu Netzwerken in Afghanistan aus Jänner 2018, der ACCORD-Bericht vom 07.12.2018 zur Lage in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, der Landinfo-Bericht zu Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban, vom 29.06.2017, der Landinfo-Bericht zu Afghanistan: Die Einschüchterungskampagne der Taliban sowie das BFA Dossier zur Stammes- und Clanstruktur, 07/2016 wurden durch das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme am 02.04.2019 in das Verfahren eingebracht.
14. Die rechtliche Vertretung beantragte die Fristverlängerung für die Stellungnahme der ins Verfahren eingebrachten Länderberichte.
15. Am 15.04.2019 wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführt, zu der der BF in Begleitung seines gewillkürten Vertreters erschien.
Der BF gab an, seiner Muttersprache sei Dari, er sei afghanischer Staatsangehöriger, Hazara und Schiit. Er habe am 29.04.2019 eine OP, bei welcher die Metallstifte in seinem Unterarm entfernt werden würden. Er nehme derzeit keine Medikamente ein. Seine Familie sei im Iran aufhältig; zu dieser habe er Kontakt. Der BF wiederholte seine Fluchtgründe. Das Haus der Familie in der Herkunftsprovinz des BF sei von den Kutschi zerstört worden. Der BF brachte die Gruppenverfolgung der schiitischen Hazara in Afghanistan vor. Weiters gab er an, seine Religion überhaupt nicht auszuüben; er habe sich schon im Iran nicht mehr an die religiösen Vorschriften gehalten. Der Vater sei beim Ausreiseversuch aus Afghanistan von den Taliban aufgehalten worden. Er habe den Taliban Informationen über die Hezbe Wahdat gegeben und sei dann geflüchtet. Durch die Weitergabe dieser Informationen sei sein Vater dann auch von Mitgliedern der Partei als Spion bezeichnet worden. Sein Vater werde daher sowohl von den Taliban als auch von den Mitgliedern seiner ehemaligen Partei verfolgt.
In Österreich führe er eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin. Er habe keine Kinder. Er gehe zur Schule und habe ein Startstipendium. Der BF legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor. Er habe vor Kurzem auch eine selbstständige Erwerbstätigkeit als Portraitzeichner angemeldet und schon Aufträge erhalten.
Das Bundesverwaltungsgericht brachte die Anfragebeantwortung zum Konflikt der Kutschis mit den Hazara vom 15.09.2019 sowie die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 20.04.2018 von ehemaligen Mitgliedern der Hezbe Wahdat in das Verfahren ein.
Die Verhandlung wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.
16. Am 29.04.2019 und 13.05.2019 langten die Stellungnahmen des BF zur Niederschrift der mündlichen Verhandlung und den darin eingebrachten Länderberichten ein. Darin wurde unter anderem vorgebracht, dass der BF tiefgreifend verwestlicht sei. Der BF legte Auszüge aus dem Gutachten von XXXX vom 28.03.2018 sowie die Aktualisierung des Gutachtens von XXXX vom 15.05.2017 vor.
17. Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 29.06.2018 (inkl. des Updates vom 04.06.2019) und die EASO-Country Guidance Notes zu Afghanistan vom Juni 2019 wurden dem BF im Rahmen des Parteiengehörs am 22.07.2019 übermittelt.
18. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 19.09.2019 wurde die gegenständliche Rechtssache der nun zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.
19. Mit Benachrichtigung von der Beendigung des Strafverfahrens wurde durch das Landesgericht mitgeteilt, dass der BF mit Urteil vom 10.09.2019 von der Anklage wegen §§ 15, 84 Abs. 4 StGB freigesprochen worden sei.
20. In seinem vorbereitendem Schriftsatz vom 17.01.2020 betreffend die anberaumte mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht führte der BF aus, dass er in Österreich herausragend integriert sei. Die zeugenschaftliche Einvernahme seiner Freundin wurde beantragt. Er habe von Juli bis August 2019 ein Praktikum an der Technischen Universität Wien absolviert. Überdies sei ihm im August 2020 eine Praktikumsstelle im Bereich XXXX in Aussicht gestellt worden. Der BF besuche die dritte Schulstufe der Fachrichtung XXXX einer HTBLA. Überdies erziele er Einkünfte aus seiner Nebenbeschäftigung als selbstständiger Zeichner. Diesbezüglichen Bestätigungen wurden vorgelegt. Auf die EASO Country Guidance betreffend die Rückkehr von Personen, die lange im Ausland gelebt haben, wurde verwiesen. Der BF sei im Alter von rund vier Jahren in den Iran gereist und sei seitdem nicht mehr in Afghanistan gewesen. Er verfüge in Afghanistan über kein Unterstützungsnetzwerk. Auf den Global Peace Index 2019 betreffend die Situation in Afghanistan wurde verwiesen.
21. Am 23.01.2020 wurde erneut eine mündliche Verhandlung vor Bundesverwaltungsgericht durchgeführt, zu der der BF in Begleitung seines gewillkürten Vertreters erschien. Die Freundin des BF wurde zeugenschaftlich einvernommen. Der BF gab an, Hazara und Schiit zu sein. Er habe eine österreichische Freundin und sei kinderlos. Der BF sei im Alter von rund fünf Jahren zu seinem Onkel in den Iran gegangen. Nach zwei Jahren sei die Familie des BF in den Iran nachgekommen. Der BF sei bis zu seiner Ausreise im August 2015 immer im Iran gewesen. Dort sei er mit der Familie eines Mädchens in Konflikt gekommen. Er sei attackiert und mit einem Messer verletzt worden. Seine Familie habe Angst um den BF gehabt und den BF nach Europa geschickt. In Afghanistan habe er keine Schule besucht. Im Iran habe er bis zur elften Klasse eine Volksschule, Haupt/Mittelschule und ein Gymnasium besucht. Er habe in der Eisenverarbeitungsfirma seiner Onkel und seines Vaters ab und zu mitgeholfen. Er habe ebenfalls in einer Kunsthandwerks-Firma, die sich mit Vergolden und Versilbern beschäftigt habe, mitgearbeitet. Seine Familie sei im Iran aufhältig. Er habe regelmäßig telefonischen Kontakt zu ihnen. Der BF sprach in der mündlichen Verhandlung ausgezeichnet Deutsch. Die Verhandlung konnte zum Großteil in Deutsch abgewickelt werden. Der BF gab weiters an, er habe in Österreich einen Deutsch-Einstufungstest auf Niveau C1 gemacht und besuche eine HTL mit der Fachrichtung XXXX , welche er nächstes Jahr abschließen werde. Danach wolle er eine Arbeit suchen, Erfahrung im XXXX sammeln und studieren. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan kenne er dort niemanden. Sein Cousin sei vor rund sechs Jahren nach Afghanistan zurückgekehrt, habe dort Probleme aufgrund der Verwandtschaft zur Familie des BF bekommen und sei bei einer Fahrzeugexplosion getötet worden. Man wisse nicht genau, wie es passiert sei, jedoch würden einige Personen behaupten, dass der Cousin wegen der Parteizugehörigkeit des Vaters des BF getötet worden sei. Der BF kenne die Fluchtgründe seiner Familie aus Afghanistan nur aus Erzählungen. Sein Vater sei in einer Partei tätig gewesen, die Probleme mit einer anderen Partei gehabt habe. Die Kutschi-Taliban hätten diese Parteien attackiert, die höchsten Personen getötet und das ganze Dorf zerstört. Eines der vorgelegten Fotos würde das zerstörte Haus des Vaters des BF zeigen. Überdies sei der BF verwestlicht. Er habe den Großteil seiner Jugend hier verbracht, habe eine europäische Familie und eine christliche Freundin. Er sei überdies künstlerisch tätig. Kunst auszuüben sei in Afghanistan nicht so einfach.
22. Mit Schriftsatz vom 02.04.2020 verwies der BF auf einen Beitrag XXXX vom 27.03.2020 zur aktuellen Situation in Afghanistan betreffend die COVID-19 Pandemie.
23. Mit Schreiben vom 11.03.2020 brachte der BF eine Bestätigung des Studentenwohnheims in Vorlage, wonach er und seine Freundin nunmehr ein Doppelzimmer bewohnen würden.
24. Am 25.06.2020 legte der BF einen Vertrag betreffend ein bezahltes Pflichtpraktikum vom 20.07.2020 bis 21.08.2020 vor.
25. Mit Schreiben vom 10.09.2020 legte der BF eine Arbeitsbestätigung über sein absolviertes Pflichtpraktikum, das Jahreszeugnis der dritten Klasse der HTL mit der Fachrichtung XXXX und eine Bestätigung seines sozialen Engagements im Rahmen des START-Stipendienprogrammes vor.
26. Ein Verfahren gegen den BF wegen § 15 StGB § 84 Abs. 4 StGB; § 15 StGB § 83 Abs.1 StGB und § 107 Abs. 1 StGB wurde vom Landesgericht Salzburg am 18.05.2021 gemäß § 201 StPO vorläufig eingestellt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der bei Antragstellung minderjährige und mittlerweile volljährige BF ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem, ledig und kinderlos. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht zudem Farsi, Englisch und Deutsch.
Der BF wurde in der Provinz Maidan Wardak geboren und wuchs dort mit seiner Familie (Eltern, vier Schwestern und zwei Brüder) auf. Im Alter von rund fünf Jahren zog der BF zu seinem Onkel väterlicherseits und dessen Familie in den Iran. Die Eltern und Geschwister des BF reisten rund zwei Jahren danach in den Iran.
Der BF besuchte elf Jahre lang eine Grundschule, Haupt- beziehungsweise Mittelschule und ein Gymnasium im Iran, er lernte dort Lesen und Schreiben. Der BF besuchte im Iran einen Zeichenkurs, hat jedoch keine Berufsausbildung abgeschlossen. Er arbeitete im Iran als Zeichner, in einer Fabrik, welche Gegenstände vergoldete und versilberte sowie in der Eisenverarbeitungsfirma seines Vaters und seiner Onkel.
Die Familie des BF ist weiterhin im Iran aufhältig. Der BF hat regelmäßigen Kontakt zu seinen Angehörigen im Iran. Er verfügt über keine Familienangehörigen in Afghanistan, zu welchen Kontakt besteht.
Der Vater und zwei Onkel des BF betrieben im Iran eine Eisenverarbeitungsfirma, diese wurde zwischenzeitlich aufgelöst. Die Familie des BF im Iran kann ihn derzeit nicht nachhaltig finanziell unterstützen.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Er ist gesund.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
1.2.1. Die Fluchtgründe seiner Familie aus Afghanistan kennt der BF nur aus Erzählungen. Das dargelegte Fluchtvorbringen war nicht glaubhaft. Es ist auch nicht glaubhaft, dass der BF wegen der Fluchtgründe seiner Eltern einer aktuellen Verfolgungsgefahr in Afghanistan ausgesetzt wäre, da der Zeitpunkt, zu dem der BF bzw. seine Familie Afghanistan verlassen haben, bereits beinahe 20 bzw. mehr als 15 Jahre her ist.
Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch infolge drohender Lebensgefahr verlassen.
Der BF gab an, den Iran aufgrund einer außerehelichen Beziehung zu einem Mädchen beziehungsweise aufgrund der Verfolgung durch die Familie des Mädchens verlassen zu haben.
Der BF ist derzeit nicht religiös und feiert keine religiösen Feste. Ihm droht aufgrund der Tatsache, dass er keine religiösen Riten ausübt, in Afghanistan bei einer Ansiedelung in einer Großstadt keine physische oder psychische Gewalt. Der BF hat keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet werden würde. Es droht ihm in Afghanistan aufgrund eines auch nur unterstellten Abfalles vom islamischen Glauben keine Gefahr der physischen oder psychischen Gewalt. Er ist nicht vom Islam abgefallen und er ist immer noch schiitischer Moslem. Er tritt auch nicht spezifisch gegen den Islam oder gar religionsfeindlich auf. Der BF geht aktiv keiner (neuen) religiösen Überzeugung nach.
Ebenso wenig droht ihm Verfolgung, Gewalt oder Diskriminierung von erheblicher Intensität aufgrund seiner Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit oder einer (ihm unterstellten) politischen Gesinnung.
Der BF ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der BF hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim BF vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist und die ihn in Afghanistan exponieren würde.
Er wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwo Probleme. Er war nie politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.
1.2.2. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität.
Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Der BF ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.
1.3. Zum (Privat)Leben des BF in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Oktober 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 15.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der BF konnte sich in der mündlichen Verhandlung auf Deutsch sehr gut verständlich machen, besuchte Deutschkurse und hat Deutschprüfungen abgelegt. Er hat den Einstufungstest auf Niveau C1 absolviert.
Der BF lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage.
Er leistet regelmäßig freiwillige Tätigkeiten. Der BF absolvierte in Österreich den Pflichtschulabschluss und besuchte ein Gymnasium für Berufstätige. Er ist seit dem Schuljahr 2017/2018 Schüler an einer HTL im Fachbereich XXXX und hat diverse Pflichtpraktika absolviert. Er nahm an diversen Workshops teil und ist Mitglied in einem Fußballverein.
Der BF konnte sich in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufbauen und legte ein Konvolut an Unterstützungsschreiben vor. Er verfügt jedoch weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen in Österreich.
Gegen den BF wurde am 31.03.2021 ein Betretungsverbot gemäß § 38a SPG für das Studentenwohnheim, in welchem er wohnhaft war, ausgesprochen. Ein Verfahren gegen den BF wegen § 15 StGB § 84 Abs. 4 StGB; § 15 StGB § 83 Abs.1 StGB und § 107 Abs. 1 StGB wurde vom Landesgericht Salzburg am 18.05.2021 gemäß § 201 StPO vorläufig eingestellt.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Dem BF könnte bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz Maidan Wardak aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Dem BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- beziehungsweise Schutzalternative in Afghanistan nicht zur Verfügung.
Dem BF ist eine Rückkehr und (Neu-)Ansiedlung in Afghanistans aufgrund seiner individuellen Umstände in Zusammenschau mit den COVID-19 Pandemie bedingten wirtschaftlichen Situation und den damit für Rückkehrer verbundenen Einschränkungen in den Städten Mazar-e Sharif und Herat aktuell nicht zumutbar.
Der BF lebte seit seinem fünften Lebensjahr bis zu seiner Ausreise im Iran, hat nie auf sich alleine gestellt in Afghanistan gelebt, den wesentlichen Teil seines Lebens außerhalb Afghanistan verbracht und verfügt in Afghanistan über kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung er sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Er hat insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat keine unterstützungswilligen Verwandten. Der BF kam als Minderjähriger nach Österreich.
Im Falle einer Rückkehr wird der BF zu Beginn nur Gelegenheits- oder Hilfsarbeiten annehmen können. Durch die COVID-19 bedingten Lock-Downs in den Städten Herat und Mazar-e Sharif ist es gerade für Gelegenheitsarbeiter besonders schwierig, Arbeit und Unterkunft zu finden. Die Nahrungsmittelpreise sind in den letzten Monaten massiv gestiegen.
Aufgrund der oben dargelegten individuellen Umstände kann nicht davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan insbesondere bei einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 02.04.2021
1.3.1.1. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).
Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).
- 8 -
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).
[…]
1.3.1.1.1. Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf 4.459.463 Personen (NSIA 1.6.2020).
Kabul-Stadt - Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5504.434. Personen für den Zeitraum 2020-21 (NSIA 1.6.2020). Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten, und Schätzungen reichen von 3,5 Millionen bis zu möglichen 6,5 Millionen Einwohnern (AAN 19.3.2019; vgl. IGC 13.2.2020). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile - auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) - zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ Kabul o.D.; vgl. NPS Kabul o.D.).
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).
Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020).
Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als "eine der gefährlichsten Straßen der Welt" gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).
Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a).
In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 1.7.2020) und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle stehend (LWJ o.D.), dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, USDOD 1.7.2020, NYTM 26.3.2020, HRW 12.5.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März (USDOD 1.7.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 2.11.2020; vgl. AJ 2.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020) für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 2.11.2020, GN 2.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.6.2020; vgl. AP 16.6.2020, HRW 12.5.2020) , wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.6.2020, vgl. HRW 12.5.2020). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).
Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.1.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.6.2020; vgl LI 22.1.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020).
Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Village liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. GN 15.7.2020) und der von hohen Mauern umgeben ist (GN 15.7.2020).
Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßenkriminalität in Kabul ein Problem (AVA 1.2020; vgl. ArN 11.1.2020, AAN 11.2.2020, AAN 21.2.2020, TN 4.10.2020, TN 17.10.2020, TN 21.10.2020, EASO 9.2020). Im vergangenen Jahr [Anm.: 2020] wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (ArN 11.1.2020; vgl. TN 24.7.2020). Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, dass er auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorgehen werde (TN 17.10.2020; vgl. AN 17.10.2020, TN 21.10.2020). Die Regierung kündigte einen Sicherheitsplan mit der Bezeichnung "Security Charter" an, um das Sicherheitspersonal in die Gewährleistung der Sicherheit Kabuls und anderer Großstädte des Landes zu integrieren. Als Teil dieses Plans wies Präsident Ghani die Sicherheitsbehörden an, gegen schwere Verbrechen in der Stadt vorzugehen (TN 21.10.2020; vgl. TN 17.10.2020, AN 17.10.2020).
Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Command - Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 1.7.2020). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei geschaffen, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).
Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 27.9.2020; vgl. GW 14.7.2020, EASO 9.2020, UNOCHA 3.2.2020). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018; vgl. TN 27.9.2020). Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen (TN 27.9.2020). Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet (TN 15.7.2020).
Es wird berichtet, dass der Islamische Staat (ISKP) in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen (UNGASC 27.5.2020; vgl. EASO 9.2020). Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staats zu stören (LI 22.1.2020; vgl. UNGASC 4.2.2020, EASO 9.2020), zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben (UNAMA 2.2020; vgl. LI 22.1.2020, WP 9.2.2020, EASO 9.2020). UNAMA schrieb 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) im Jahr 2020 in Afghanistan dem ISKP zu, ein Rückgang von 45% im Vergleich zu 2019. Die überwiegende Mehrheit der zivilen Opfer von ISIL-KP wurde jedoch durch Selbstmordattentate und heftige Schusswechsel in Kabul und Jalalabad verursacht (UNAMA 2.2021).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen (UNAMA 2.2021).
Während des zweiten Quartals 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen (NYTM 25.6.2020; vgl. UNGASC 17.6.2020, RY 30.6.2020, EASO 9.2020). Im letzten Quartal 2020 stieg die Gewalt weiter an und war weit höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres (SIGAR 30.1.2021). In Kabul wurden in den ersten Wochen des Jahres 2021 mehrere Anschläge mit kleinen "sticky bombs" verübt, die unter Fahrzeugen angebracht und ferngesteuert oder mit Zeitzündern gezündet wurden. Die Gruppe "Islamischer Staat" (ISKP) hat die Verantwortung für einige der Anschläge übernommen, während die afghanische Regierung einige den Taliban zuschreibt (RFE/RL 23.2.2021).
Selbstmordanschläge (BAMF 11.1.2021; NYTM 29.10.2020a; NYTM 29.10.2020c; HRW 26.10.2020; RFE/RL 29.4.2020; REU 29.4.2020) und IEDs (RFE/RL 23.2.2021; BBC 22.12.2020; WP 26.2.2020; AJ 22.8.2020; NYTM 29.10.2020c; TN 4.10.2020; KP 4.6.2020) finden statt und es wurde von gezielten Tötungen (RFE/RL 23.2.2021; BAMF 11.1.2021; BBC 22.12.2020; BBC 15.12.2020; NYTM 26.3.2020; AT 22.8.2020; TN 21.10.2020; NYTM 5.11.2020) und Angriffen auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte (RFE/RL 23.2.2021; BAMF 18.1.2021; BAMF 11.1.2021; NYTM 29.10.2020b; GN 11.2.2020; TN 22.6.2020; TN 8.7.2020; TN 6.7.2020; UNAMA 6.2020; TN 6.6.2020) sowohl in Kabul-Stadt wie auch in den Distrikten der Provinz berichtet. Es gibt Berichte über Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen (UNOCHA 29.1.2020; NYTM 27.2.2020)
Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind (NYTM 16.1.2019; vgl. UNGASC 27.5.2020; USDOD 1.7.2020). Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde (KP 4.6.2020) ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen (TN 6.5.2020; KP 6.5.2020; RFE/RL 11.5.2020; TN 11.5.2020) und kriminelle Banden (KP 18.5.2020) sowie Luftschläge (EASO 9.2020) durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen (TN 11.5.2020; KP 12.2.2020; BBC 11.5.2020; TN 11.5.2020; PAJ 26.6.2020) sowie zwei IS-Mitglieder verhaften, die angeblich Angriffe auf ein Krankenhaus und ein Medienunternehmen planten (TN 7.7.2020b).
1.3.1.1.2. Balkh
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA Balkh 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Balkh 2019).
Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif (NSIA 1.6.2020). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) (PAJ Balkh o.D.; vgl. NPS Balkh o.D.) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (AAN 8.7.2020).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 5.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vgl. TD 5.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA 4.7.2018).
Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen (STDOK 21.7.2020). In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari (AAN 23.5.2020), Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher (STDOK 21.7.2020; vgl. TN 20.12.2019).
In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (Kam Air Balkh o.D.; STDOK 25.3.2019).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert (KP 10.2.2020, STDOK 21.7.2020), da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen (KP 10.2.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen (STDOK 21.7.2020). Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari umkämpft waren (LWJ o.D.). Im Jahr 2020 gehörte Balkh zu den konfliktreichsten Provinzen des Landes (UNGASC 9.12.2020, UNGASC 17.6.2020, UNGASC 17.3.2020; vgl. LWJ 10.3.2020) und in der Hauptstadt und den Distrikten kommt es weiterhin zu sicherheitsrelevanten Vorfällen (ACCORD 27.1.2021, KP 3.3.2021).
Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen (STDOK 21.7.2020). Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften (NYT 16.12.2019, REU 14.3.2019).
Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) "Shaheen" Corps (USDOD 1.7.2020, TN 22.4.2018), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Das Hauptquartier des 209. Afghan National Army (ANA) "Shaheen" Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Die meisten Soldaten der deutschen Bundeswehr sind in Camp Marmal stationiert (SP 7.4.2019). Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (USDOD 1.7.2020).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate) (UNAMA 2.2021). Ungeachtet der Friedensgespäche finden weiterhin sicherheitsrelevante Vorfälle in der Hauptstadt und den Distrikten statt (KP 3.3.2021, ACCORD 27.1.2021)
Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im Jahr 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (UNGASC 9.12.2020, UNGASC 17.6.2020, UNGASC 17.3.2020; vgl. LWJ 10.3.2020) und auch im September 2020 galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Talibanangriffen im Land (BAMF 14.9.2020). Es kommt zu direkten Kämpfen (KP 3.3.2021, UNOCHA 23.9.2020, AJ 1.5.2020, DH 8.4.2020) und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren (UNOCHA 23.7.2020, REU 1.5.2020, UNOCHA 26.2.2020) oder Sicherheitsposten (ANI 6.3.2021, NYTM 1.10.2020, NYTM 28.8.2020, AnA 18.3.2020, XI 7.1.2020). Die Regierungskräfte führen Räumungsoperationen durch (KP 3.3.2021, AN 25.6.2020, MENAFN 24.3.2020, AA 18.3.2020, XI 25.1.2020).
Ebenso wurde von IED-Explosionen, beispielsweise durch Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 28.8.2020), aber auch an Fahrzeugen befestigten Sprengkörpern (vehicle-borne IEDs, VBIEDs) (TN 25.8.2020, RFE/RL 25.8.2020; vgl. NYTM 28.8.2020) sowie Selbstmordanschlägen berichtet (TN 25.8.2020, RFE/RL 25.8.2020, RFE/RL 19.9.2020). Auch in Mazar-e Sharif kam es wiederholt zu IED-Anschlägen (ACCORD 27.1.2021, NYTM 1.10.2020, AN 19.9.2020, TN 1.7.2020, AP 14.1.2020, TN 4.1.2020) sowie Angriffen auf bzw. die Tötung von Sicherheitskräften (KP 3.3.2021, ANI 6.3.2021, ACCORD 27.1.2021, BAMF 18.1.2021; vgl. PAJ 12.1.2021, AT 12.1.2021). Zudem wird von der Entführung (TN 13.3.2021, DH 8.4.2020) und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (KP 3.3.2021, ACCORD 27.1.2021, NYTM 1.10.2020, DH 8.4.2020).
1.3.1.1.3 Herat
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA Herat 4.2014). Herat ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Enjil, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun, Zendahjan und die „temporären“ Distrikte Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar, Kozeor), Zawol und Zerko (NSIA 1.6.2020; IEC Herat 2019), die aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch) nicht erteilt hat (AAN 16.8.2018). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (NSIA 1.6.2020). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ Herat o.D.).
Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Herat im Zeitraum 2020-21 auf 2,140.662 Personen, davon 574.276 in der Provinzhauptstadt (NSIA 1.6.2020). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ Herat o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. STDOK 13.6.2019).
Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017, LCA 4.7.2018). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Straßen verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (LCA 4.7.2018), wo sich einer der größten Trockenhäfen Afghanistans befindet (KN 7.7.2020). Die Schaffung einer weiteren Zollgrenze zum Iran ist im Distrikt Ghoryan geplant (TN 11.9.2020). Eine Eisenbahnverbindung zwischen der Stadt Herat und dem Iran, die die Grenze an diesem Punkt überqueren wird, ist derzeit im Bau (1TV 28.10.2020, TN 11.9.2020). Auf der Strecke Herat-Islam-Qala wurde über Tötungen und Entführungen berichtet (UNAMA 7.2020, KN 7.7.2020; vgl. PAJ 6.2.2020) sowie über Sprengfallen am Straßenrand (KN 7.7.2020; vgl. PAJ 6.2.2020), auch auf der Ring Road in Richtung Kandahar (TN 10.10.2020). Darüber hinaus gibt es Berichte über illegale Zolleinhebungen durch Aufständische sowie Polizeibeamte entlang der Strecke Herat-Kandahar (HOA 12.1.2020, PAJ 4.1.2020; vgl. NYT 1.11.2020). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (STDOK 25.11.2020; cf. Kam Air Herat o.D.).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte, wie z.B. Shindand, als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, kam es in Herat-Stadt in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte (AAN 21.4.2020; vgl. OA 20.7.2020). Darüber hinaus fanden im Juli und September 2020 (UNAMA 10.2020) sowie Oktober 2019 Angriffe statt, die sich gegen Schiiten richteten (AAN 21.4.2020). Bezüglich krimineller Handlungen wurde beispielsweise über bewaffnete Raubüberfälle und Entführungen berichtet (OA 20.7.2020, AAN 21.4.2020, AN 2.1.2020).
Je weiter man sich von der Stadt Herat (die im Januar 2019 als "sehr sicher" galt) und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban (STDOK 13.6.2019). Pushtkoh und Zerko befanden sich im Februar 2020 einem Bericht zufolge vollständig in der Hand der Taliban (AAN 28.2.2020), während die Kontrolle der Regierung in Obe auf das Distriktzentrum beschränkt ist (AAN 8.4.2020, AAN 20.12.2019). In Shindand befindet sich angeblich das "Taliban-Hauptquartier" von Herat (AAN 20.12.2019). Dem Long War Journal (LWJ) zufolge kontrollierten die Taliban Ende November 2020 jedoch keinen Distrikt von Herat vollständig. Mehrere Distrikte wie Adraskan, Ghoryan, Gulran, Kushk, Kushk-i-Kuhna, Obe und Shindand sind umstritten, während die Distrikte um die Stadt Herat unter der Kontrolle der Regierung stehen (LWJ o.D.; vgl. STDOK 13.6.2019).
-Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (SaS 2.11.2018; vgl. RUSI 16.3.2016). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab (SaS 2.11.2018). Die Rasoul-Gruppe, die mit der stillschweigenden Unterstützung der afghanischen Regierung operiert hat, kämpft mit Stand Jänner 2020 weiterhin gegen die Hauptfraktion der Taliban in Herat, auch wenn die Zusammenstöße zwischen den beiden Gruppen laut einer Quelle innerhalb der Rasoul-Fraktion nicht mehr so häufig und heftig sind wie in den vergangenen Jahren. Etwa 15 Kämpfer der Gruppe sind Anfang 2020 bei einem Drohnenangriff der USA gemeinsam mit ihrem regionalen Führer getötet worden (SaS 9.1.2020; vgl. UNSC 27.5.2020).
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