Kopf
Das Oberlandesgericht Innsbruck hat durch den Senatspräsidenten Dr. Werus als Vorsitzenden sowie den Richter Mag. Friedrich und die Richterin Dr. Klammer als weitere Senatsmitglieder in der Strafsache gegen Y***** wegen § 27 Abs 1 SMG über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Feldkirch gegen den Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch vom 23.10.2020 zu 27 HR 289/20x (81 BAZ 469/20g-6 der Staatsanwaltschaft Feldkirch) in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:
Spruch
Der Beschwerde wird n i c h t Folge gegeben.
RECHTSMITTELBELEHRUNG:
Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu (§ 89 Abs 6 StPO).
Begründung:
Text
Die Staatsanwaltschaft Feldkirch führt gegen Y*****, geb am *****, ein Ermittlungsverfahren „wegen § 27 Abs 1 SMG“, nachdem ihn L***** im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung als Cannabisdealer bezeichnet hatte.
Im Anlassbericht vom 15.9.2020 regte die Polizeiinspektion ***** eine Hausdurchsuchung in der Wohnung des Beschuldigten an. Am 17.9.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft ***** beim Landesgericht ***** die Bewilligung einer Durchsuchungsanordnung gemäß § 119 Abs 1 StPO und die „Bestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers für den jugendlichen Beschuldigten mit dem Ersuchen, die Zustellungen vorerst zu unterlassen bzw durch die Staatsanwaltschaft vornehmen zu lassen“. Die Haft- und Rechtsschutzrichterin bewilligte am 22.9.2020 die Durchsuchungsanordnung, wies jedoch die Staatsanwaltschaft darauf hin, dass dem Antrag auf amtswegige Bestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers vorerst nicht nachgekommen werde, weil die gesetzlichen Voraussetzungen dafür aus folgenden, hier wörtlich wiedergegebenen Gründen nicht vorlägen:
„Bei notwendiger Verteidigung im Sinne des § 39 Abs 1 Z 2 JGG ist zunächst nach § 39 Abs 4 JGG vorzugehen (Ladung des Beschuldigten und des gesetzlichen Vertreters zur Vernehmung mit der Aufforderung durch Kriminalpolizei oder StA, entweder einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Verfahrenshilfe zu beantragen; erst wenn kein Verteidiger bevollmächtigt wird, ist vom Gericht nach Abs 2 leg cit vorzugehen („wenn für die Verteidigung nicht anderweitig gesorgt ist“). Derzeit könnte nicht einmal beurteilt werden, ob dem Beschuldigten ein Amtsverteidiger oder amtswegig ein Verfahrenshilfeverteidiger bestellt werden müsste, da zu seinen finanziellen Verhältnissen nichts bekannt ist. Es wird (nach Durchführung der Hausdurchsuchung) um entsprechende Mitteilung ersucht, ob eine Verteidiger-Bevollmächtigung erfolgte oder der Antrag der StA aufrecht erhalten wird.“
Die Staatsanwaltschaft übermittelte den Akt am 16.10.2020 der Haft- und Rechtsschutzrichterin mit dem neuerlichen Antrag, über die beantragte Bestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu entscheiden. Dies begründete die Staatsanwaltschaft wie folgt:
Die Einschätzung des Gerichtes […] wird nicht geteilt, zumal der Fall der notwendigen Verteidigung nach § 39 Abs 1 Z 2 JGG bereits mit dem Zeitpunkt eintritt, in dem nach Einlangen eines Berichts weitere Ermittlungen in Auftrag gegeben oder durchgeführt werden. Dass für die Verteidigung im vorliegenden Fall nicht anderweitig gesorgt ist, ist offenkundig, ebenso wie der Umstand, dass der jugendliche Beschuldigte nicht vor einer angeordneten Hausdurchsuchung mit entsprechenden Aufforderungen geladen werden kann. Dementsprechend ist ihm amtswegig ein (Verfahrenshilfe-)Verteidiger beizugeben.
Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss wies die Haft- und Rechtsschutzrichterin diesen Antrag ab. Im Rahmen der Begründung legte sie § 39 JGG und die Erläuterungen zum Ministerialentwurf des Strafprozess- und Jugendstrafrechtsänderungsgesetzes 2019 dar und führte weiter aus:
Die hier heranzuziehenden Regelungen des § 39 JGG lassen eine Auslegung in mehrerlei Hinsicht zu. Nach Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 leg cit müsste aufgrund der Tatsache, dass für die Verteidigung des Jugendlichen derzeit nicht anderwertig gesorgt ist - er ist gegenständlich über das Ermittlungsverfahren noch nicht in Kenntnis gesetzt und er bzw seine gesetzlichen Vertreter werden sich voraussichtlich nicht bereits präventiv generell um eine Verteidigung gekümmert haben - sofort ein Amtsverteidiger bzw ein Verfahrenshelfer bestellt werden, wurden doch in einem Ermittlungsverfahren wegen eines Vergehens aufgrund eines Berichts (§ 100 StPO - stellt nicht nur auf einen Abschlussbericht ab) weitere Ermittlungen in Auftrag gegeben.
Nach Ansicht des Gerichts muss jedoch zuvor gemäß § 39 Abs 4 JGG der jugendliche Beschuldigte und dessen gesetzliche Vertreter mit der Aufforderung zur Vernehmung geladen werden, binnen angemessener Frist einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu beantragen. Wenn kein Verteidiger bevollmächtigt würde, hätte die Kriminalpolizei der Staatsanwaltschaft darüber zu berichten (§ 100 StPO). Die Staatsanwaltschaft hätte die Akten dem Gericht zu übermitteln, das sodann nach Abs 2 leg cit vorzugehen hätte. Dies ist hier nicht geschehen, sondern wurde der Akt unverzüglich seitens der Staatsanwaltschaft dem Gericht mit bezughabendem Antrag übermittelt.
Ein solches Vorgehen nach Abs 4 leg cit ist hier schon deshalb zudem angezeigt, um die Frage, ob dem Beschuldigten nun ein Amtsverteidiger oder ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben werden muss, abschließend beurteilen zu können, was in dem Stadium, in dem sich gegenständliches Ermittlungsverfahren befindet, nicht möglich ist, weil zu den Vermögensverhältnissen des Beschuldigten keinerlei Feststellungen getroffen werden können. Darüber hinaus würde die sofortige amtswegige Bestellung eines Verteidigers dem jugendlichen Beschuldigten bzw. dessen gesetzlichen Vertretern die in Abs 4 leg cit normierte Möglichkeit und das Recht nehmen, selbst einen Verteidiger zu wählen.
Der Antrag ist aus diesem Grund abzuweisen.
In beiden Fällen gilt es jedoch der Vollständigkeit halber die Frage der praktischen Umsetzung eines oben skizzierten Vorgehens zu bedenken. Insbesondere ist fraglich, wie, an wen und vor allem wann die Zustellung des Beschlusses bzw des zu erlassenden Bescheids der Rechtsanwaltskammer erfolgen kann.
Mit Zweifeln ist auch eine Ladung iSd Abs 4 leg cit verbunden, führen doch beide Vorgehensweisen zu einer Gefahr der Vereitelung des angestrebten Ermittlungserfolgs, weil jeglicher Kenntnis des Beschuldigten von dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren diese Gefahr immanent wäre.
Im Übrigen ist darauf Bedacht nehmen, dass nach § 39 Abs 1 Z 1 selbst im gesamten Verfahren wegen eines Verbrechens (§ 17 Abs 1 StGB) ein jugendlicher Beschuldigter erst ab dem Zeitpunkt, zu dem er über das gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren, den Tatverdacht und seine Rechte zu informieren ist (§ 50 Abs 1 StPO), durch einen Verteidiger vertreten sein muss. Geht man in diesem Zusammenhang von der Intention des Gesetzgebers aus, dem jugendlichen Beschuldigten aufgrund der Schwere des Tatverdachts (Verbrechen) möglichst früh im Verfahren einen Verteidiger beizugeben, erscheint es nicht plausibel, in einem Ermittlungsverfahren wegen eines Vergehens den Zeitpunkt der notwendigen Verteidigung unter Umständen vor jenen zu setzen, der in einem Ermittlungsverfahren wegen eines Verbrechens ausschlaggebend ist. Dies erschließt sich auch aus den Erläuterungen zum Strafprozess- und Jugendstrafrechtsänderungsgesetz 2019, wonach in Jugendstrafverfahren wegen eines Verbrechens (§ 39 Abs 1 Z 3 JGG) ein Verteidiger schon bei der ersten polizeilichen Vernehmung anwesend sein muss.
Das Gericht vertritt daher zusätzlich die in den Erläuterungen zum Strafprozess- und Jugendstrafrechtsänderungsgesetz 2019 dargestellte Auffassung, wonach der in § 39 Abs 1 Z 2 JGG normierte Fall der notwendigen Verteidigung erst dann vorliegt, wenn in einem Ermittlungsverfahren nach Einlangen eines Abschlussberichts weitere Ermittlungen in Auftrag gegeben oder durchgeführt werden. Warum dies letztlich im Gesetz in dieser Form nicht Eingang gefunden hat, lässt sich nicht eruieren.
Vergessen werden darf in diesem Zusammenhang nicht das in § 121 Abs 2 StPO normierte Recht des Betroffenen, bei einer Durchsuchung nach § 117 Z 2 StPO selbst anwesend zu sein, sowie einer solchen eine Person seines Vertrauens zuzuziehen, sodass nach Ansicht des Gerichts das Wohl und die Interessen des jugendlichen Beschuldigten ausreichend gewahrt wären.
Da hier also Ermittlungen aufgrund eines Anlassberichts - und nicht aufgrund eines Abschlussberichts - angeordnet wurden, würde nach der Auffassung des Gerichts der Fall der notwendigen Verteidigung des § 39 Abs 1 Z 2 JGG nicht vorliegen.
Jedenfalls aber ist der Antrag - wie dargestellt - aufgrund des Unterbleibens eines Vorgehens nach § 39 Abs 4 JGG abzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft begehrt mit ihrer rechtzeitigen Beschwerde die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers für den jugendlichen Beschuldigten nach Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, in eventu solle dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung aufgetragen werden.
Zur Begründung führte die Staatsanwaltschaft aus:
[…] Anküpfend zunächst am letztgenannten Argument des Erstgerichtes ist der Hinweis auf den Gesetzeswortlaut, der die einschränkende Auslegung des Gerichtes schlicht nicht zu decken vermag, ausreichend: § 39 Abs 1 Z 2 JGG nimmt Bezug auf „weitere Ermittlungen“ nach Einlangen „eines Berichts (§ 100 StPO)“; eine Einschränkung auf einen Abschlussbericht kann nicht zulässig sein. Es liegt daher im vorliegenden ein Fall einer notwendigen Verteidigung iS des § 39 Abs 1 Z 2 JGG vor, zumal für die Verteidigung des jugendlichen Beschuldigten, der - bis zum Zeitpunkt der Antragstellung und in einem Fall wie dem vorliegenden wünschenswerterweise auch bis zum Vollzug der angeordneten Hausdurchsuchung - noch keine Kenntnis von den gegen ihn geführten Ermittlungen hat(te), nicht anderweitig gesorgt ist, ist ihm daher amtswegig ein Verteidiger beizugeben. Den „nicht feststellbaren Vermögensverhältnissen“ des Beschuldigten hätte das Gericht einerseits mit amtswegigen Erhebungen, etwa durch Einsichtnahme in das Urteil des Bezirksgerichts ***** vom *****, begegnen können. Eine solche Einsichtnahme hätte ergeben, dass der Beschuldigte im Jänner dieses Jahres kein Vermögen und ein nur geringes Einkommen als Lehrling hatte; von gröberen Änderungen dieser Verhältnisse seither ist nicht auszugehen. Im vorliegenden Fall wurde eine Hausdurchsuchung bei einem jugendlichen Beschuldigten aufgrund eines Vergehens angeordnet und gerichtlich bewilligt. Nach dem Gesetzeswortlaut besteht ab diesem Zeitpunkt auch notwendige Verteidigung. Eine Aufforderung iS des § 39 Abs 4 JGG an den Beschuldigten bzw dessen gesetzliche Vertreter zu richten wäre bei diesem Verfahrens-/Ermittlungsstand kontraproduktiv. Es wäre daher bei dieser Ausgangslage nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft angezeigt, einem jugendlichen Beschuldigten – bei dem wohl regelmäßig vom Vorliegen der Voraussetzungen für die Verfahrenshilfe auszugehen sein wird – wie beantragt zugleich mit der Bewilligung der entsprechenden Anordnung einen Verfahrenshilfeverteidiger zu bestellen, sodass der jugendliche Beschuldigte bei Durchführung der Hausdurchsuchung bereits durch einen Anwalt vertreten ist und auch im Anschluss daran eine Beschuldigtenvernehmung durchführbar ist. Sollte sich in weiterer Folge ergeben, dass ein Einkommen bzw Vermögenswerte vorliegen, die die Gewährung von Verfahrenshilfe nicht zulassen, ist eine Änderung in eine Amtsverteidigung vorzunehmen. Dem Recht, selbst einen Verteidiger zu wählen, stünde eine solche Vorgehensweise ohnehin zu keinem Zeitpunkt entgegen; dieses bleibt dem jugendlichen Beschuldigten und seinem gesetzlichen Vertreter stets unbenommen.
Rechtliche Beurteilung
Die Beschwerde, zu der sich die Oberstaatsanwaltschaft einer Stellungnahme enthielt, dringt nicht durch.
§ 39 Abs 1 JGG in der seit 1.6.2020 geltenden Fassung regelt die notwendige Verteidigung und lautet wie folgt:
(1) In folgenden Fällen muss ein jugendlicher Beschuldigter durch einen Verteidiger vertreten sein:
-
im gesamten Verfahren wegen eines Verbrechens (§ 17 Abs 1 StGB) ab dem Zeitpunkt, zu dem er über das gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren, den Tatverdacht und seine Rechte zu informieren ist (§ 50 Abs 1 StPO),
-
in Verfahren wegen eines Vergehens, wenn in einem Ermittlungsverfahren nach Einlangen eines Berichts (§ 100 StPO) weitere Ermittlungen in Auftrag gegeben oder durchgeführt werden,
-
bei einer Gegenüberstellung (§ 163 StPO),
-
in der Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit,
-
für das Rechtsmittelverfahren auf Grund einer Anmeldung einer Berufung oder einer Nichtigkeitsbeschwerde.
(2) Wenn für seine Verteidigung in den Fällen des Abs 1 nicht anderweitig gesorgt ist, ist dem jugendlichen Beschuldigten von Amts wegen ein Verteidiger beizugeben, dessen Kosten er zu tragen hat (Amtsverteidiger - § 61 Abs 3 zweiter Satz StPO); würde die Verpflichtung zur Zahlung der Verteidigungskosten sein Fortkommen erschweren oder liegen die Voraussetzungen des § 61 Abs 2 erster Satz StPO vor, muss dem jugendlichen Beschuldigten von Amts wegen ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben werden.
(3) Sofern der jugendliche Beschuldigte nach der Festnahme oder nach der Vorführung zur sofortigen Vernehmung nicht einen frei gewählten Verteidiger beizieht, ist ihm unverzüglich die Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft (§ 59 Abs 4 StPO) zu ermöglichen, auf welches Recht er nicht verzichten kann. Verweigert der jugendliche Beschuldigte diese Beiziehung, so hat die Kriminalpolizei den Verteidiger in Bereitschaft beizuziehen. Die Kosten der Beiziehung und der Beiziehung zu der nach § 174 Abs 1 StPO durchzuführenden Vernehmung hat der jugendliche Beschuldigte unter den Voraussetzungen des Abs 2 nicht zu tragen.
(4) Liegen in einem Ermittlungsverfahren die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung vor, so hat die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft den jugendlichen Beschuldigten und dessen gesetzlichen Vertreter mit der Aufforderung zur Vernehmung zu laden, binnen angemessener Frist einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu beantragen. Wird kein Verteidiger bevollmächtigt, so hat die Kriminalpolizei der Staatsanwaltschaft darüber zu berichten (§ 100 StPO). Die Staatsanwaltschaft hat die Akten dem Gericht zu übermitteln, das nach Abs 2 vorzugehen hat.
(5) Überschreitet der Jugendliche im Laufe des Verfahrens das achtzehnte Lebensjahr, bleibt die Beigebung eines Verteidigers aufrecht.
Der Beschwerde ist einzuräumen, dass zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 39 Abs 1 Z 2 JGG bereits erfüllt waren. Im Sinne dieser Bestimmung wurden hier nämlich „nach Einlangen eines Berichts (§ 100 StPO) weitere Ermittlungen in Auftrag gegeben“. Die im angefochtenen Beschluss vertretene einschränkende Auslegung, wonach dies lediglich nach einem Abschlussbericht zutreffe, lässt sich mit dem Wortlaut des § 39 Abs 1 Z 2 JGG nicht vereinbaren. Der verglichen mit dem Gesetzestext noch anders lautende Ministerialentwurf ist keine geeignete Grundlage der einschränkenden Auslegung. Gegen diese spricht auch der im Gesetzeswortlaut enthaltene Verweis auf § 100 StPO, weil dort nicht bloß Abschlussberichte, sondern auch Anfalls-, Anlass- und Zwischenberichte ausdrücklich erwähnt werden.
Die notwendige Verteidigung bedeutet aber nicht, dass entgegen § 39 Abs 4 erster Satz JGG, also ohne jede Einbindung des Beschuldigten und seines gesetzlichen Vertreters, sofort amtswegig ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben werden müsste. Vielmehr muss grundsätzlich das aus Art 6 Abs 3 lit c EMRK abgeleitete Recht auf eigene Wahl des Verteidigers im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten beachtet werden (vgl Soyer/Schumann in WK [2017] StPO § 61 Rz 14).
Auch für Jugendstrafsachen gilt zufolge § 31 JGG subsidiär die StPO. Nach ihrem - ebenfalls seit 1.6.2020 geltenden - § 62 Abs 2a hat die Bestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers nicht etwa sofort, sondern „unverzüglich, jedenfalls aber vor der nächstfolgenden Vernehmung des Beschuldigten, Tatrekonstruktion (§ 149 Abs 1 Z 2, § 150) oder Gegenüberstellung (§ 163 StPO), zu der der Beschuldigte beigezogen wird, zu erfolgen“. Dass schon vor einer Durchsuchung (§ 119 StPO) die notwendige Verteidigung jedenfalls durch Beigebung eines Verteidigers umzusetzen sei, verlangt hingegen weder § 39 JGG noch § 62 Abs 2a StPO.
Dieses Auslegungsergebnis des Beschwerdegerichtes erscheint im Hinblick auf eine sonst sehr leicht mögliche Gefährdung des Ermittlungserfolges auch sachgerecht.
Der Antrag der Staatsanwaltschaft hätte zurückgewiesen werden können, weil die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers in § 61 Abs 2 StPO nur auf Antrag des Beschuldigten oder - unter näher definierten Voraussetzungen - von Amts wegen vorgesehen ist. Auch betreffend Jugendliche normiert § 39 Abs 4 zweiter Satz JGG eine Aktenübermittlungspflicht, aber kein Antragsrecht der Staatsanwaltschaft zur Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers ohne vorherige Einbindung des Beschuldigten und seines gesetzlichen Vertreters.
Im Ergebnis zu Recht hat es jedenfalls die Haft- und Rechtsschutzrichterin abgelehnt, sofort und ohne die in § 39 Abs 4 erster Satz JGG vorgeschriebene Einbindung des Beschuldigten und seines gesetzlichen Vertreters einen Verfahrenshilfeverteidiger beizugeben.
Daher war der Beschwerde der Staatsanwaltschaft nicht Folge zu geben.
Oberlandesgericht Innsbruck, Abteilung 6
Innsbruck, am 1. Dezember 2020
Dr. Ernst Werus, Senatspräsident
Textnummer
EI0100088European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OLG0819:2020:0060BS00277.20S.1201.000Im RIS seit
23.08.2021Zuletzt aktualisiert am
23.08.2021