Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch die Poduschka Anwaltsgesellschaft mbH, Linz, gegen die beklagten Parteien 1. A***** GmbH, *****, sowie 2. V***** AG, *****, Deutschland, vertreten durch die Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH, Salzburg, wegen 4.740 EUR sowie Feststellung (Streitwert 2.000 EUR), über die Revisionsrekurse der klagenden Partei sowie der beklagten Parteien gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien als Rekursgericht vom 12. März 2021, GZ 1 R 61/21y-18, mit dem der Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 4. Februar 2021, GZ 17 C 2/21z-11, zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Dem Revisionsrekurs der klagenden Partei wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung über den Rekurs unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Kosten des Rekursverfahrens.
II. Der Revisionsrekurs der beklagten Parteien wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.
Text
Begründung:
[1] Der Kläger begehrt – gestützt auf (arglistige) Irreführung, Gewährleistung sowie Schadenersatz – die teilweise (Rück-)Erstattung des für einen bei der Erstbeklagten erworbenen und von der Zweitbeklagten hergestellten PKW bezahlten Kaufpreises, weil dieser eine den Schadstoffausstoß manipulierende, verbotene „Abschalteinrichtung“ aufweise.
[2] Das Erstgericht unterbrach das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über den vom Obersten Gerichtshof zu 10 C 44/19x gestellten Antrag auf Vorabentscheidung.
[3] Das Rekursgericht wies den dagegen erhobenen Rekurs des Klägers als unzulässig zurück, weil gegen einen Vorlagebeschluss eines nicht letztinstanzlichen Gerichts zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH kein Rechtsmittel zulässig sei und gleiches für eine aufgrund eines bereits anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens unterbliebene Vorlage – für den dieses Verfahren unterbrechenden Beschluss – gelten müsse. Davon abweichende höchstgerichtliche Entscheidungen, in denen der Oberste Gerichtshof von einer Anfechtbarkeit des Beschlusses, mit dem ein Verfahren im Hinblick auf ein bereits anhängiges Vorabentscheidungsverfahren unterbrochen wurde, ausging, seien in ihrer Begründung nicht überzeugend. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil das Rekursgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen sei.
[4] Der Revisionsrekurs des Klägers ist aus dem genannten Grund zulässig und berechtigt.
[5] Der Revisionsrekurs der Beklagten ist mangels Beschwer nicht zulässig.
[6] I. Zum Revisionsrekurs des Klägers:
Rechtliche Beurteilung
[7] 1. Nach ständiger Judikatur ist es aufgrund der allgemeinen (erga omnes) Wirkung von Vorabentscheidungen des EuGH prozessökonomisch (wenngleich nicht zwingend; vgl RIS-Justiz RS0114648), ein Verfahren, in dem sich Auslegungsfragen zum Gemeinschaftsrecht stellen, die bereits Gegenstand eines anhängigen Vorabentscheidungsersuchens sind, im Hinblick auf dieses Vorabentscheidungsverfahren – gemäß § 190 ZPO (vgl Kohlegger in Fasching/Konecny³ Anh zu § 190 ZPO Rz 259; 4 Ob 71/16v) – zu unterbrechen (RS0110583).
[8] 2. Gemäß § 192 Abs 2 ZPO können nach den §§ 187 bis 191 ZPO erlassene Anordnungen, soweit sie keine Unterbrechung des Verfahrens verfügen, durch ein Rechtsmittel nicht angefochten werden. Unterbrechungsbeschlüsse des Prozessgerichts sind somit grundsätzlich anfechtbar (vgl Höllwerth in Fasching/Konecny³ § 190 ZPO Rz 91 und § 192 ZPO Rz 22; Ziehensack in Höllwerth/Ziehensack § 190 ZPO Rz 8 sowie § 192 ZPO Rz 4). Ausnahmen bestehen nur insoweit, als die Anfechtbarkeit eines Unterbrechungsbeschlusses in bestimmten Fällen gesetzlich ausgeschlossen oder eine Unterbrechung zwingend angeordnet ist (vgl Höllwerth aaO § 192 ZPO Rz 22; Ziehensack aaO § 192 ZPO Rz 4; siehe auch RS0037110).
[9] 3. Warum ein – auch hier zu beurteilender – Beschluss, mit dem das Verfahren im Hinblick auf ein bereits eingeleitetes Vorabentscheidungsverfahren unterbrochen wird, entgegen der allgemeinen Bestimmung des § 192 Abs 2 ZPO unanfechtbar sein soll, ist nicht ersichtlich und widerspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl 4 Ob 71/16v; 7 Ob 239/18z; 4 Ob 35/20f).
[10] 4. Nach der tragenden Begründung des Rekursgerichts für seine von der bestehenden Judikatur abweichende Rechtsansicht soll sich die Unanfechtbarkeit des Unterbrechungsbeschlusses daraus ergeben, dass nach ständiger Rechtsprechung auch Beschlüsse, mit denen ein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet wurde, unanfechtbar sind. Für das aufgrund einer Verfahrensunterbrechung unterbliebene (eigene) Vorabentscheidungsersuchen könne nichts anderes gelten, als für den im Verfahren gefassten Vorlagebeschluss.
[11] 5. Der Oberste Gerichtshof setzte sich bereits in den zu 4 Ob 71/16v, 7 Ob 239/18z und 4 Ob 35/20f ergangenen – jeweils die Frage der Anfechtbarkeit der Unterbrechung des Verfahrens wegen eines anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens betreffenden – Entscheidungen mit der Rechtsprechung zur Unanfechtbarkeit von Vorabentscheidungsersuchen auseinander und hob hervor, dass sich die Unzulässigkeit eines dagegen erhobenen Rechtsmittels daraus ergebe, dass die auf Art 257 AEUV beruhende Befugnis jedes Gerichts zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nicht durch nationale Verfahrensregeln eingeschränkt werden dürfe. Daraus könne jedoch nicht abgeleitet werden, dass auch die Unterbrechung wegen eines von einem anderen Gericht gestellten Vorabentscheidungsersuchens unanfechtbar wäre. Dem schließt sich der erkennende Senat an.
[12] 6. Die Unanfechtbarkeit eines im Zusammenhang mit einem – bereits anhängigen oder gleichzeitig eingeleiteten – Vorabentscheidungsverfahren gefassten Unterbrechungsbeschlusses ergibt sich entgegen der Ansicht des Rekursgerichts schon deshalb nicht aus der von der Rechtsprechung angenommenen Unanfechtbarkeit des Vorabentscheidungsersuchens, weil das primäre Argument für dessen Unanfechtbarkeit in der europarechtlich unzulässigen Bindung des vorlegenden Gerichts durch das Rechtsmittelgericht besteht (vgl 4 Ob 71/16v). Unterbrechungsbeschlüsse sind aber – wie ausgeführt – gemäß § 192 Abs 2 ZPO grundsätzlich anfechtbar, also auch dann, wenn sie im Zusammenhang mit der Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens stehen, zumal § 90a GOG nur eine Sachentscheidung vor der Entscheidung des EuGH ausschließt und offen lässt, ob das Verfahren (vorerst) – etwa im Hinblick auf andere strittige Punkte – weitergeführt wird. Aus der Unanfechtbarkeit des Vorabentscheidungsersuchens ergibt sich daher keine Unanfechtbarkeit des mit dem Vorlageersuchen „verbundenen“ – im Ermessen des Prozessgerichts stehenden – Unterbrechungsbeschlusses und umso weniger jene einer im Hinblick auf ein bereits anhängiges Vorabentscheidungsverfahren erfolgten Unterbrechung.
[13] 7. Wenn es das Rekursgericht als wenig prozessökonomisch ansieht, dass das Prozessgericht im Fall einer Aufhebung seines Unterbrechungsbeschlusses selbst ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen stellt, obwohl die zu beurteilende europarechtliche Frage bereits Gegenstand eines anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens ist, so ist dem zwar zumindest für den Regelfall zuzustimmen, doch ist nach dem bisher Gesagten nicht zu erkennen, welche Bedeutung ein (weiteres) Ersuchen an den EuGH für die Unterbrechungsfrage haben sollte. Zudem betrifft die Zweckmäßigkeit der Unterbrechung die inhaltliche Beurteilung des Unterbrechungsbeschlusses (vgl RS0036765); ihr Fehlen macht das Rechtsmittel nicht unzulässig.
[14] 8. Dem Revisionsrekurs ist somit Folge zu geben, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung über den Rekurs des Klägers unter Abstandnahme vom angezogenen Zurückweisungsgrund aufzutragen.
[15] 9. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
[16] II. Zum Revisionsrekurs der Beklagten:
[17] 1. Die für jedes Rechtsmittel erforderliche Beschwer liegt vor, wenn der Rechtsmittelwerber in seinem Rechtsschutzbegehren durch die angefochtene Entscheidung beeinträchtigt wird, er also ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RS0041746). Sie ist (formell) zu verneinen, wenn ein Rechtsmittel der anderen Partei – hier der Rekurs des Klägers – zurückgewiesen wurde (vgl RS0041746 [T8]; RS0041868 [T9]). Eine (vermeintliche) Beschwer im Kostenpunkt kann ein Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof nicht eröffnen (vgl RS0002495 [T65]; RS0002396). Der Revisionsrekurs der Beklagten ist daher mangels Rechtsschutzinteresses zurückzuweisen.
[18] 2. Der Kläger hat nicht auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels der Beklagten hingewiesen. Seine Revisionsrekursbeantwortung war daher nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig und ist deshalb nicht zu vergüten (vgl RS0035979 [T7, T14]).
Textnummer
E132488European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0010OB00129.21H.0721.000Im RIS seit
24.08.2021Zuletzt aktualisiert am
19.11.2021