TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/29 W229 2170275-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.03.2021
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Entscheidungsdatum

29.03.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W229 2170275-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Elisabeth WUTZL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.08.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 02.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Bei seiner Erstbefragung am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er sei am XXXX in Baghlan, Afghanistan geboren. Seine Muttersprache sei Farsi, er sei Hazara und Moslem. Er sei Analphabet und habe keine Ausbildung. Er sei traditionell verheiratet und habe zwei Töchter und zwei Söhne.

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, er habe in Afghanistan im Sicherheitsbereich für die Amerikaner gearbeitet. In seiner Region haben die Amerikaner Afghanistan verlassen und die Taliban haben daraufhin die Kontrolle übernommen. Aufgrund seiner Tätigkeit für die Amerikaner haben die Taliban den Beschwerdeführer umbringen wollen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan sei sein Leben in Gefahr, da ihn die Taliban töten wollen.

2. Im weiteren Verfahrensverlauf gab der Beschwerdeführer in seiner niederschriftlichen Einvernahme im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 12.07.2017 an, dass seine Muttersprache Dari und Farsi sei. Die Ehefrau des Beschwerdeführers und ihre Kinder leben beim Schwiegervater des Beschwerdeführers, er habe Kontakt mit ihnen. Der Beschwerdeführer sei Landwirt gewesen, das Land habe ihm gehört. Seine letzte Arbeit sei als Wachmann beim NATO-Stützpunkt in XXXX , Bezirk XXXX , gewesen. Er sei über eine andere Person aus seinem Dorf zu dieser Arbeit gekommen. Er habe die Ausweise und Dienstkleidung aus Angst vor den Taliban nicht mit nach Hause genommen. Bei der Rückkehr sei er durchsucht worden und die Kontrollorgane haben ihn schon gekannt. Seine Arbeit sei etwa zehn Stunden von seinem Wohnort in der Provinz Baghlan, im Dorf XXXX , entfernt gewesen. Er habe am Stützpunkt gewohnt uns sei alle drei bis vier Monate nach Hause gefahren.

Der Stützpunkt sei im Jahr XXXX aufgelassen worden und der Beschwerdeführer sei in sein Dorf zurückgekehrt. Im Jahr XXXX haben die Taliban immer mehr Gebiete erobert und der Beschwerdeführer habe Angst gehabt, dass auch sein Gebiet erobert und er festgenommen werde. Die Nachbarn haben gewusst, dass er für die Amerikaner gearbeitet habe. Persönlich sei er nicht bedroht worden, die Taliban glauben, dass, wer mit den Amerikanern zusammenarbeite, ungläubig geworden sei und getötet werden müsse.

Der Beschwerdeführer legte seine Tazkira sowie Integrationsbestätigungen vor.

3. Mit Bescheid vom 17.08.2017 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt; gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt IV.).

4. Mit Verfahrensanordnung vom 18.08.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberatung für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

5. Der Beschwerdeführer erhob gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht Beschwerde, welche am 31.08.2017 beim BFA einlangte und in der Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde (eingelangt am 11.09.2017).

6. Am 04.06.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche-mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer sowie seine Rechtsvertreterin teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil.

In der Verhandlung wurden Länderinformationen vorgelegt und dem Beschwerdeführer für eine allfällige schriftliche Stellungnahme eine Frist von zwei Wochen eingeräumt.

7. Am 05.06.2020 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer, XXXX , geb. am XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auf Farsi und ein wenig Deutsch. Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , Provinz Baghlan, wo er bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 lebte. Der Beschwerdeführer hat keine Schule besucht, kann aber ein wenig lesen. Der Beschwerdeführer besaß in seinem Heimatdorf landwirtschaftliche Grundstücke und ein Haus und arbeitete als Landwirt. Von XXXX bis XXXX arbeitete er als Wachmann für eine Firma auf einer Militärbasis der NATO (siehe dazu 1.2.)

Der Beschwerdeführer ist traditionell verheiratet und hat mit seiner Ehefrau vier minderjährige Kinder. Diese wohnen beim Schwiegervater des Beschwerdeführers, der im Heimatdorf des Beschwerdeführers lebt und dort eine Landwirtschaft betreibt. Zu seiner Ehefrau hat der Beschwerdeführer Kontakt.

Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Seine Mutter und sein Bruder leben in Pakistan, zu ihnen hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt. Der Beschwerdeführer hat auch keinen Kontakt zu ehemaligen Nachbarn oder sonstigen Personen in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer stellte am 02.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Der Beschwerdeführer besucht laufend einen Deutschkurs sowie ein Sprachcafé des Vereins XXXX , für den er ehrenamtlich tätig ist.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Hinweise auf Asylausschlussgründe liegen nicht vor.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer arbeitete von Anfang XXXX bis Anfang XXXX für die Sicherheitsfirma XXXX auf einer Militärbasis der NATO in XXXX , Distrikt XXXX . Dort war es seine Aufgabe, auf Wachtposten rund um die Basis Wache zu stehen und die Basis zu schützen. Etwa 50 bis 70 Männer arbeiteten dort mit dem Beschwerdeführer zusammen. Der Beschwerdeführer wohnte auf dem Stützpunkt und fuhr alle drei bis vier Monate nach Hause. Die Fahrt dauerte etwa zehn Stunden und führte über XXXX und Kabul. Wenn der Beschwerdeführer nach Hause fuhr, ließ er aus Angst vor den Taliban seinen Dienstausweis und seine Dienstkleidung auf dem Stützpunkt zurück. Bei der Rückkehr zum Stützpunkt wurde der Kommandant des Beschwerdeführers gerufen und der Beschwerdeführer kontrolliert und durchsucht. Danach wurde er erst eingelassen. Für die Tätigkeit wurden vom Beschwerdeführer biometrische Daten genommen, so wurden Fingerabdrücke und Daten der Augen genommen. Im Jahr XXXX wurde der Stützpunkt aufgelassen und der Beschwerdeführer kehrte in sein Heimatdorf zurück.

Der Beschwerdeführer erzählte seinen Nachbarn im Heimatdorf von seiner Arbeit auf der Militärbasis in XXXX . Da zum Zeitpunkt seiner Tätigkeit für die Sicherheitsfirma in dem Gebiet rund um das Heimatdorf des Beschwerdeführers nicht viele Taliban aktiv waren, fühlte sich der Beschwerdeführer in seinem Wohngebiet sicher.

Als die Taliban in der Provinz Baghlan an Einfluss gewannen, fürchtete der Beschwerdeführer, dass er aufgrund seiner Tätigkeit für die NATO ausgeforscht und getötet werden würde. Zuerst war ein Mann namens XXXX im Heimatdorf des Beschwerdeführers Kommandant, dieser wurde versetzt. Ihm folgte im Jahr XXXX ein Mann namens XXXX als Kommandant nach. Dieser nahm das Land und das Haus des Beschwerdeführers in Besitz. Dort leben nun Talibankämpfer. XXXX fragte beim Schwiegervater des Beschwerdeführers nach, wo sich der Beschwerdeführer aufhalte. Weiters gab er gegenüber dem Schwiegervater an, dass er den Beschwerdeführer überall in Afghanistan finden könne.

Die Ehefrau und Kinder des Beschwerdeführers wohnen beim Schwiegervater des Beschwerdeführers. Dessen Haus befindet sich im Heimatdorf des Beschwerdeführers. Die Familienmitglieder des Beschwerdeführers verlassen aus Angst vor den Taliban nicht das Haus. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Bedrohungs- und Gewalthandlungen von Seiten der Taliban ausgesetzt zu sein. Der afghanische Staat ist derzeit nicht in der Lage, den Beschwerdeführer in Afghanistan hinreichend vor dieser Bedrohung durch die Taliban zu schützen.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.3.1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 16.12.2020:

1.3.1.1. COVID-19

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (LIB, Kapitel 3).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (LIB, Kapitel 3).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet.Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.06.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte, wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (LIB, Kapitel 3).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (LIB, Kapitel 3).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (LIB, Kapitel 3).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis ...) um 18 bis 31% gestiegen sind. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (LIB, Kapitel 3).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (LIB, Kapitel 3).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt, wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind. Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (LIB, Kapitel 3).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3). [...]

1.3.1.2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (LIB, Kapitel 5).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 5).

Für den Berichtszeitraum 01.01.2020 - 30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (LIB, Kapitel 5).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonalen Trends gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB, Kapitel 5).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht. Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (LIB, Kapitel 5).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (LIB, Kapitel 5).

1.3.1.3. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität:

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt, und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB, Kapitel 5).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar. Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (LIB, Kapitel 5).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 5).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LIB, Kapitel 5).

1.3.1.5. Sicherheitsbehörden:

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF - Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 7).

Die Truppenstärke der ANDSF ist seit Jänner 2015 stetig gesunken. Aber eine genaue Zählung des afghanischen Militär- und Polizeipersonals war schon immer schwierig. Der Rückgang an Personal wird allerdings auf die Einführung eines neuen Systems zur Gehaltsauszahlung zurückgeführt, welches die Zahlung von Gehältern an nichtexistierende Soldaten verhindern soll. Gewisse Daten wie z.B. die Truppenstärke einzelner Einheiten werden teilweise nicht mehr publiziert.Die Anzahl der in der ANDSF dienenden Frauen hat sich erhöht. Nichtsdestotrotz bestehen nach wie vor strukturelle und kulturelle Herausforderungen, um Frauen in die ANDSF und die afghanische Gesellschaft zu integrieren (LIB, Kapitel 7).

Afghanische Nationalarmee (ANA)

Die ANA ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Soldaten, welche die ANA am Ende des vertraglich vereinbarten Dienstes verlassen, sind für etwa ein Viertel des Rückgangs der Mannstärke verantwortlich. Die Gefechtsverluste machen nur einen kleinen Prozentsatz der monatlichen Verluste aus und sind im Berichtszeitraum im Vergleich zu früheren Perioden deutlich zurückgegangen. im Jahr 2018 kündigte Präsident Ghani die Etablierung einer neuen territorialen Eingreiftruppe der Afghanischen Nationalen Armee (ANATF) an. Jede Kompanie (Tolai) besteht aus Soldaten aus einem bestimmten Distrikt, wird aber von Offizieren von außerhalb dieses Distrikts geführt, die bereits in der regulären ANA dienen oder in der ANA-Reserve sind. Ziel ist es, dass die Territoriale Truppe schließlich 36.000 Mann stark is (LIB, Kapitel 7)t.

Afghan National Police (ANP) und Afghan Local Police (ALP)

Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Auch ist sie verantwortlich für die Sicherheit Einzelner und der Gemeinschaft sowie den Schutz gesetzlicher Rechte und Freiheiten. Obwohl die ANP mit und an der Seite der ANA im Kampf gegen die Aufständischen arbeiten, fehlt es der ANP an Ausbildung und Ausrüstung für traditionelle Aufstandsbekämpfungstaktiken. Das Langzeitziel der ANP ist nach wie vor, sich zu einem traditionellen Polizeiapparat zu wandeln. Dem Innenministerium (MoI) unterstehen die vier Teileinheiten der ANP: Afghanische Uniformierte Polizei (AUP), Polizei für Öffentliche Sicherheit (PSP, beinhaltet Teile der ehemaligen Afghanischen Polizei für Nationale Zivile Ordnung, ANCOP), Afghan Border Police (ABP), Kriminalpolizei (AACP), Afghan Local Police (ALP), und Afghan Public Protection Force (APPF). Das Innenministerium beaufsichtigt darüber hinaus drei Spezialeinheiten des Polizeigeneralkommandanten (GCPSU), sowie die Polizei zur Drogenbekämpfung (CNPA) (LIB, Kapitel 7).

Die ANP rekrutiert lokal in 34 Rekrutierungsstationen in den Provinzen. Die neuen Rekruten werden zur Polizeiausbildung in eines der zehn regionalen Ausbildungszentren entsandt. Die Polizeiausbildung besteht im Allgemeinen aus einem 8- bis 12-wöchigen Ausbildungskurs. Neben der elementaren Polizeiausbildung mangelt es der ANP an einem institutionalisierten Programm zur Entwicklung von Führungskräften - sowohl auf Distrikt- als auch auf lokaler Ebene (LIB, Kapitel 7).

Die ALP untersteht dem Innenministerium, der Personalstand wird jedoch nicht den ANDSF zugerechnet (USDOD 01.07.2020; vgl. SIGAR 30.04.2019). Eine Rekrutierungskampagne, die sich auf den Zuwachs weiblicher Rekruten konzentrierte, führte zu positiven Ergebnissen. Zwischen Juni und September 2019 traten zusätzlich 138 Frauen ihren Dienst bei der ANP an (LIB, Kapitel 7).

1.3.1.5. Baghlan:

Baghlan, das sich im Nordosten Afghanistans befindet, grenzt an die Provinzen Bamyan, Samangan, Kunduz, Takhar, Panjshir, Parwan und in einem sehr kleinen Abschnitt an Balkh. Die Hauptstadt der Provinz ist Pul-i-Khumri. Die NSIA schätzt die Bevölkerung in Baghlan im Zeitraum 2020-21 auf 1,014.634 Personen. Eine knappe Mehrheit der Einwohner von Baghlan sind Tadschiken, gefolgt von Paschtunen und Hazara als zweit- bzw. drittgrößte ethnische Gruppen. Außerdem leben ethnische Usbeken und Tataren in Baghlan (LIB, Kapitel 5.4.).

Baghlan liegt an der nördlichen Strecke der Ring Road, auch als Highway 1 bekannt. Im September 2020 wurde berichtet, dass die Taliban an Kontrollpunkten in Baghlan Zölle auf den Warentransport zwischen Kabul und Kunduz einhoben und im Juli 2020 unterbrachen Kämpfe am Stadtrand von Pul-i-Khumri den Verkehr von und nach Balkh. Die Sicherheit in Baghlan ist auch bedeutsam für die Energieversorgung Kabuls, da Stromleitungen aus Tadschikistan und Usbekistan durch die Provinz verlaufen. Kämpfe in Baghlan führten wiederholt zu Stromausfällen (LIB, Kapitel 5.4.).

Baghlan gehört zu den unruhigsten Provinzen in Afghanistan, es finden immer wieder heftige Kämpfe statt, meist zwischen Taliban und Regierungstruppen. Weiters wird berichtet, dass der Islamische Staat (IS) in der Provinz eine kleinere Zelle unterhält. Auf Regierungsseite befindet sich Baghlan im Verantwortungsbereich des 217. Afghan National Army (ANA) „Pamir“ Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welches von deutschen Streitkräften geleitet wird (LIB, Kapitel 5.4.).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 349 zivile Opfer (123 Tote und 226 Verletzte) in der Provinz Baghlan. Es kam in Baghlan zu direkten Kämpfen zwischen Aufständischen und Regierungstruppen. Die Regierungstruppen führten Luftangriffe und Räumungsoperationen durch und eroberten im Februar 2020 den Distrikt Gozargah-e-Noor zurück, der sich in den vergangenen fünf Monaten unter Talibankontrolle befunden hatte (LIB, Kapitel 5.4.).

1.3.1.6. Kandahar:

Die Provinz Kandahar liegt im Süden Afghanistans und grenzt im Norden an Uruzgan und Zabul, im Westen an Helmand und im gesamten Süden wie auch Osten teilt sich Kandahar eine lange Grenze mit Pakistan. Die Provinzhauptstadt ist Kandahar. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Kandahar im Zeitraum 2020-21 auf 1,399.594 Personen, von denen 632.601 in der Provinzhauptstadt leben. Paschtunen sind die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe Kandahars. Zudem gibt es kleinere Gruppen von Belutschen, Hazara und Tadschiken sowie anderen Ethnien, die normalerweise als Farsiwan, d.h. Farsi/Dari-Sprecher bezeichnet werden (LIB, Kapitel 5.15.).

Die Ring Road verbindet die Provinzhauptstadt Kandahar mit den großen Ballungszentren Herat und Kabul. Eine nordwärts führende Straße in Richtung Uruzgan teilt sich in Kandahar-Stadt. Auf dem Weg nach Süden verbindet eine Straße die Stadt Kandahar mit dem afghanisch-pakistanischen Grenzübergang Spin Boldak-Chaman. Zwischen März und August 2020 hielt die pakistanische Regierung den Grenzübergang Spin Boldak-Chaman wegen des Ausbruchs der Coronavirus-Pandemie in Pakistan für Reisende und Pendler geschlossen. Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich schwere Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam. Kandahar City verfügt über einen internationalen Flughafen, der in der Regel nationale und internationale Ziele anfliegt. Mit Stand 09.11.2020 werden für die kommenden Wochen jedoch nur Direktflüge nach Kabul angeboten. Im Februar 2020 wurde eine Zugstrecke für den Gütertransit von der pakistanischen Hafenstadt Karachi nach Chaman und Kandahar eingeweiht (LIB, Kapitel 5.15.).

Kandahar ist eine der wichtigsten Schlafmohnanbauprovinzen Afghanistans (LIB, Kapitel 5.15.).

Während der Talibanherrschaft 1996-2001 lag der Sitz der Taliban in Kandahar und nach ihrem Sturz im Jahr 2001 war Kandahar jener Ort, in dem sich die Taliban neu gruppierten und begannen, die NATO-Truppen zu bekämpfen. Darüber hinaus hat Kandahar strategische Bedeutung aufgrund seiner geographischen Lage an der Grenze zur pakistanischen Provinz Belutschistan, die als sicherer Hafen der Taliban und als wichtiges Rekrutierungszentrum gilt, wie auch aufgrund der Rolle des Schlafmohnanbaus in der Provinz. Im November 2020 schätzte das Long War Journal (LWJ) Distrikte im Zentrum der Provinz als unter staatlicher Kontrolle stehend ein, während Distrikte im Norden und Süden der Provinz entweder umkämpft waren oder von den Taliban kontrolliert wurden. Auf Regierungsseite befindet sich Kandahar im Verantwortungsbereich des 205. Afghan National Army (ANA) „Atal“ Corps, das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - South (TAAC-S) untersteht, welche von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird. Die US-Streitkräfte unterhalten die Militärbasis Kandahar Airfield in der Provinz, wobei Ende August 2020 berichtet wurde, dass eine Schließung der Basis „in den kommenden Monaten“ geplant sei. Weiters liegt die Zentrale der so genannten Kandahar Strike Force (KSF) oder NDS 03 in Kandahar. Ihre Mitglieder werden größtenteils von der CIA rekrutiert, trainiert, ausgerüstet und beaufsichtigt (LIB, Kapitel 5.15.).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 467 zivile Opfer (121 Tote und 346 Verletzte) in der Provinz Kandahar. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper, gefolgt von Selbstmordangriffen und Suchoperationen. Das Jahr 2020 hindurch zählte der UN-Generalsekretär Kandahar in seinen vierteljährlich erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage inAfghanistan zu den Provinzen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen im Land. In der Provinz kam es zu Kämpfen zwischen Taliban und Regierungstruppen. Im Herbst 2020 starteten die Taliban eine Großoffensive in der Umgebung von Kandahar-Stadt, was zu rund zehn Tage andauernden Kämpfen führte. Einem Vertreter der Armee zufolge wurden die angegriffenen Gebiete schließlich von der Taliban-Präsenz befreit (LIB, Kapitel 5.15.).

1.3.2. Auszüge aus der ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz Baghlan: Aktivitäten und Rekrutierungsversuche der Taliban in der Provinz, insbesondere in Dand-e-Ghori [a-10245] vom 25.07.2017:

„Der Afghanistan-Forscher Gran Hewad schreibt in einem im Oktober 2015 vom Afghanistan Analysts Network (AAN) veröffentlichten Artikel, dass sich in den letzten beiden Sommermonaten des Jahres 2015 die Kampfhandlungen in der Provinz Baghlan auf das Gebiet Dand-e-Ghori im Distrikt Dahana-ye-Ghuri konzentriert hätten. Dand-e Ghori liege an der Autobahn, welche Pul-e-Khumri (die Provinzhauptstadt Baghlans) mit Mazar-e-Sharif verbinde. Anfang 2015 hätten die Taliban fast alle Checkpoints der afghanischen Lokalpolizei (Afghan Local Police, ALP) erobert. Die Regierung habe zwar später im selben Monat Gegenangriffe ausgeführt, es jedoch (bis zum Berichtszeitpunkt) nicht geschafft, die Posten wieder zurückzuerobern.

Das Gebiet sei zunächst von den Taliban im Zuge ihrer Frühjahrsoffensive 2015 erobert worden, die bis in den Sommer hineingedauert habe. Im Spätsommer hätten die afghanischen Sicherheitskräfte (Afghan National Security Forces, ANSF) versucht, das Gebiet zurückzuerobern. Nachdem diese Versuche erfolglos blieben, hätten sie begonnen, Taliban-Stellungen aus einem Gebiet namens „Zementhügel“ (engl.: „Cement Hill“), das zwischen Pul-e-Khumri und Dand-e-Ghori liege, mit Granaten zu beschießen. Daraufhin hätten die Taliban begonnen, aus von ihnen kontrollierten Dörfern in Dand-e-Ghori die Stadt Pul-e-Khumri zu beschießen, was zu zahlreichen zivilen Opfern geführt habe […].

In einem im August 2016 veröffentlichten Artikel schreibt Obaid Ali, Forscher beim AAN, dass den Taliban in den vergangenen beiden Jahren signifikante Vorstöße in der Provinz Baghlan gelungen seien. Der Artikel beschreibt Dand-e Ghori als mehrheitlich von Paschtunen besiedeltes Gebiet, das aus 60 bis 70 Dörfern bestehe und nordwestlich der Provinzhauptstadt Pul-e-Khumri liege. Die Sicherheitskräfte (ANSF) hätten stets Probleme gehabt, die Kontrolle über das Gebiet zu behalten. Nachdem die Taliban 2015 ihre Frühjahrsoffensive angekündigt hätten, hätten sie begonnen, die ANSF in Baghlan anzugreifen […].“

1.3.3. Auszüge aus BFA Arbeitsübersetzung Landinfo Report Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne vom 23.08.2017 (Nummerierung geändert):

„Identifizierung von Zielpersonen zur Einschüchterung und Tötung

[…] Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach 'fehlverhalten':

a) Politische Feinde: die Anführer und wichtigsten Mitglieder der Parteien und Gruppen, die den Taliban feindlich gesinnt sind; […]

b) Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer 'feindlicher' Regierungen – alle Zivilisten, die für die Regierung oder für westliche diplomatische Vertretungen und andere Einrichtungen arbeiten;

c) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges;

d) Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern;

e) Personen, die gegen die Shari'a (entsprechend der Auslegung der Taliban) und die Regeln der Taliban verstoßen;

f) Kollaborateure der afghanischen Regierung – praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft;

g) Kollaborateure des ausländischen Militärs – praktisch jeder, der den ausländischen Streitkräften in irgendeiner Weise hilft;

h) Auftragnehmer der afghanischen Regierung;

i) Auftragnehmer anderer Länder, die gegen die Taliban sind;

j) Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten;

k) Personen jeder Art, die die Taliban in irgendeiner Weise für nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erachten, die die Zusammenarbeit verweigern. […]

Außer den Personen in den oben genannten Kategorien a), d), e) und k) bieten die Taliban allen Personen, die sich ‚fehlverhalten'‘ die Chance, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Personen in den Kategorien a), d), e) und k) haben allein schon durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie, Verbrechen begangen, im Gegensatz zu einer Tätigkeit als Auftragnehmer. Dies sehen die Taliban nur dann als Verbrechen an, wenn der Auftragnehmer die Warnungen der Taliban in den Wind schlägt. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperation an die Taliban zu binden. Die Personen der Kategorien b), c), f), g), h), i) und j) können einer ‚Verurteilung‘ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlichen ‚feindseligen‘ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen.

b) Regierungsmitarbeiter und Mitarbeiter westlicher Regierungen: Sie können einer Warnung oder Verurteilung vor Erhalt des letzten Drohbriefes entgehen, wenn sie Abgaben zahlen, Informationen liefern und ihre Kollegen für die Taliban ausspionieren, um deren Aktionen gegen die eigenen Arbeitgeber zu unterstützen oder zur Verbesserung der Organisation der Taliban beizutragen. Bekannte Einzelfälle sind:

I. Personal im Bildungswesen: können arbeiten, wenn ihre Bildungsbehörde oder Schule eine Vereinbarung mit den Taliban schließt, die Lehrpläne und Schulbücher ändert, für religiöse Fächer von den Taliban empfohlene Lehrer einstellt und den Taliban die Überwachung der Schule gestattet.

II. Personal im Gesundheitswesen: darf arbeiten, wenn es sich bereit erklärt, verletzte Taliban-Mitglieder zu behandeln. […]

g) Kollaborateure des ausländischen Militärs und im militärischen Zusammenhang stehende Unterstützungsleistungen, einschließlich der Mitarbeiter in den Unterkünften: wie b) oben
[…]

Überall, wo die Taliban vertreten sind, zielten sie von vorne herein insbesondere auf die Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte ab, die sich weigern, den Dienst zu quittieren. Sie übten Druck auf deren Familien aus, um deren Ausscheiden zu erzwingen und drohten Bestrafung an, wenn ihrer Forderung nicht Folge geleistet würde. In einigen Fällen sind sie sogar soweit gegangen, Verwandte hinzurichten. Zumeist waren diese Sicherheitskräfte und ihre Familien schließlich gezwungen, in sicherere, von der Regierung kontrollierte Gebiete umzusiedeln, obwohl die Taliban ihre Ziele teilweise auch dort heimsuchen. Andere, die es sich leisten können, scheiden aus und im Laufe der Jahre sind hunderte hingerichtet worden. Selbst diejenigen, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden. […]

Ende 2016 gaben Taliban-Quellen an, dass fast 15.000 Personen auf ihrer nationalen schwarzen Liste stünden. Das lässt vermuten, dass die Taliban keinen Zugang zu den staatlichen Datenbanken über das Sicherheitspersonal oder Regierungsmitarbeiter haben, ansonsten wäre die Zahl wesentlich höher. Dies ist nicht überraschend, denn die Regierung selbst ist kaum in der Lage zuverlässig anzugeben, wer den Sicherheitskräften angehört bzw. für die Regierung arbeitet. Im Anfangsstadium des Krieges war es durchaus üblich, dass die Taliban Polizisten und Soldaten an Straßensperren abfingen, wenn sie im Urlaub waren und ihre Ausweise dabei hatten. Sehr schnell wurde es immer schwieriger, jemanden zu fangen, der dumm genug war, seinen Ausweis mit sich zu führen.

Im Grunde genommen steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein ‚Übeltäter‘ ist und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können. Diese Details sind wesentlich, denn nach den Regeln der Taliban, muss ein Kollaborateur gewarnt werden und Gelegenheit erhalten, auf den richtigen Weg zurückzukehren, bevor er auf die schwarze Liste gesetzt wird. Damit die Einschüchterungstaktiken der Taliban funktionieren, hängen sie also davon ab, dass ihre Informanten Angaben zu den potenziellen Zielpersonen liefern. Die Taliban behaupten jedoch, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, dass sie regelmäßig Berichte darüber erhalten, wer neu ins Land einreist.“

1.3.4. Auszüge aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellungen des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (Nummerierung geändert):

„Entwicklungen in Bezug auf den Konflikt in Afghanistan

Berichten zufolge haben sich die ANDSF grundsätzlich als fähig erwiesen, die Provinzhauptstädte und die wichtigsten städtischen Zentren zu verteidigen, im ländlichen Raum hingegen mussten sie beträchtliche Gebiete den Taliban überlassen. Es heißt jedoch, dass die ANDSF mit unhaltbar hohen Ausfallraten und sinkender Moral zu kämpfen haben.

Es wird berichtet, dass die Taliban zum 31. Januar 2018, 43,7 Prozent aller Distrikte Afghanistans kontrolliert oder für sich beansprucht haben. Die Taliban haben ihre Angriffe in Kabul und anderen großen Ballungsräumen verstärkt, mit zunehmenden Fokus auf afghanische Sicherheitskräfte, die große Verluste zu beklagen haben. Das ganze Jahr 2017 hindurch führten die Taliban mehrere umfangreiche Offensiven mit dem Ziel durch, Verwaltungszentren von Distrikten zu erobern. Es gelang ihnen mehrere solcher Zentren unter ihre Kontrolle zu bringen und vorübergehend zu halten. Meldungen zufolge festigten die Taliban gleichzeitig ihre Kontrolle über größtenteils ländliche Gebiete, was ihnen ermöglichte, häufigere Angriffe – insbesondere im Norden Afghanistans – durchzuführen. […]

Risikoprofile

1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen

Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) greifen Berichten zufolge systematisch und gezielt Zivilisten an, die tatsächlich oder vermeintlich die afghanische Regierung, regierungsnahe bewaffnete Gruppen, die afghanische Zivilgesellschaft und die internationale Gemeinschaft in Afghanistan, einschließlich der internationalen Streitkräfte und internationaler humanitärer Hilfs- und Entwicklungsakteure, unterstützen bzw. mit diesen in Verbindung stehen. Auf eine (vermeintliche) Verbindung kann zum Beispiel durch ein bestehendes oder früheres Beschäftigungsverhältnis oder durch familiäre Bindungen geschlossen werden. Zu den Zivilisten, die gezielt aufs Korn genommen werden, zählen Distrikt- und Provinzgouverneure, Mitarbeiter der Justiz und der Staatsanwaltschaft, ehemalige Polizeibeamte und Polizisten außer Dienst, Stammesälteste, Religionsgelehrte und religiöse Führer, Frauen im öffentlichen Raum, Lehrer und andere Staatsbedienstete, Zivilisten, von denen angenommen wird, dass sie die Werte regierungsfeindlicher Kräften ablehnen, Menschenrechtsaktivisten sowie humanitäres Hilfspersonal und Entwicklungshelfer.

Zwischen 1. Januar und 31. Dezember 2017 schrieb UNAMA 570 gezielte Tötungen regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) zu, die 1 032 zivile Opfer (650 Tote und 382 Verletzte) forderten, was 10 Prozent aller zivilen Opfer des Jahres entsprach. Die Anzahl der von AGEs verübten derartigen Anschläge stieg von 483 im Jahr 2016 auf 570 im Jahr 2017 und die Zahl der dabei getöteten Zivilisten erhöhte sich um 13 Prozent.
Im Januar 2018 führten die Taliban drei getrennte Angriffe in Kabul durch, bei denen 150 Zivilisten getötet und mehr als 300 verletzt wurden. In einer öffentlichen Erklärung begründeten die Taliban am 28. Januar 2018 einen dieser Angriffe, jenen auf das Innenministerium, mit folgenden Worten: „Dieses Ziel war der Feind, und auch die Mitarbeiter des Ministeriums waren die Hauptleidtragenden.”

Am 25. April 2018 kündigten die Taliban ihre Frühlingsoffensiven, die Al Khandaq Jihadi Operations an. Wie schon in den Jahren zuvor hieß es darin, die Offensive würde sich „gegen die ausländischen Besatzungskräfte und deren Unterstützer im Land“ richten. Trotz des erklärten Ziels der Taliban, „besonders auf den Schutz des Lebens und Besitzes des zivilen Volkes zu achten“, gibt es immer wieder Berichte, dass die Taliban und andere AGEs gezielt Zivilisten und nach humanitärem Völkerrecht geschützte Objekte angreifen würden.

Über gezielte Tötungen hinaus setzen die regierungsfeindlichen Kräfte Berichten zufolge auch Drohungen, Einschüchterung und Entführungen ein, um Gemeinschaften und Einzelpersonen einzuschüchtern und auf diese Weise ihren Einfluss und ihre Kontrolle zu erweitern, indem diejenigen angegriffen werden, die ihre Autorität und Anschauungen infrage stellen. […]

d) Zivilisten, die mit den internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen

Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) haben Berichten zufolge afghanische Zivilisten, die für die internationalen Streitkräfte als Dolmetscher oder in anderen zivilen Funktionen arbeiteten, bedroht und angegriffen.280 Aus Berichten geht auch hervor, dass regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) gegen ehemalige Mitarbeiter der internationalen Streitkräfte und der Regierung vorgehen. […]

II. Prüfung, ob der Antragsteller in dem als interne Schutzalternative vorgeschlagenen Gebiet der ursprünglichen Gefahr der Verfolgung ausgesetzt wäre

Ein als interne Schutzalternative vorgeschlagenes Gebiet wäre nicht relevant, wenn der Antragsteller in diesem Gebiet der ursprünglichen Gefahr der Verfolgung ausgesetzt wäre.

[…]

3. In Fällen, in denen die Verfolgung von regierungsfeindlichen Kräften ausgeht, muss die Relevanz einer vorgeschlagenen Schutzalternative unter Berücksichtigung einer Reihe verschiedener Elemente beurteilt werden.

(i) Geht die Verfolgung von regierungsfeindlichen Kräften aus, muss berücksichtigt werden, ob die Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Akteure den Antragsteller im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfolgen. Angesichts des geografisch großen Wirkungsradius einiger regierungsfeindlicher Kräfte, einschließlich der Taliban und des Islamischen Staates, existiert für Personen, die durch solche Gruppen verfolgt werden, keine interne Schutzalternative.

(ii) Ferner müssen die Nachweise in Abschnitt II.C hinsichtlich der aufgrund ineffektiver Regierungsführung und weit verbreiteter Korruption eingeschränkten Fähigkeit des Staates, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte zu bieten, berücksichtigt werden.“

1.3.5. Auszüge aus EASO Country Guidance Afghanistan: Guidance note and common analysis vom Juni 2019 (Nummerierung geändert):

„Actors of protection

The State: The Afghan State has taken certain measures to improve its law enforcement and justice system and its presence and control are relatively stronger in the cities. However, these systems are still weak and, in general, unable to effectively detect, prosecute and punish acts that constitute persecution or serious harm. Therefore, the criteria under Article 7 QD would generally not be met.

Parties or organisations, including international organisations, controlling the State or a substantial part of the territory of the State: Many areas in Afghanistan are influenced by insurgent groups; however, the Taliban are the only insurgent group controlling substantial parts of the territory and controlling certain public services, such as healthcare and education, in those areas. The Taliban would not be considered an actor of protection under Article 7 QD, due to the illegitimate nature of the parallel justice mechanism they operate and taking into account their aim to overthrow and replace the Afghan government, and their record of human rights violations.

In case protection needs have been established in the home area, and in the absence of an actor who can provide protection in the meaning of Article 7 QD, the examination may continue with consideration of the applicability of internal protection alternative (IPA), if applicable in accordance with national legislation and practice. […]

Insurgent Groups

A number of armed insurgent groups are operating on the territory of Afghanistan, among which the Taliban is considered as the most powerful group. The Taliban have also established a formal structure; however, it is not clear to what extent this structure is adhered to by all Taliban groups and the Taliban are not considered a solidly united movement [Conflict targeting, 1.1.1 – 1.1.3].

Under the umbrella of the Taliban, various factions with more or less autonomy, and sometimes rivalling interests, can be identified. Regional differences in unity and cohesion are reported, whereby some local commanders in remote areas have little relationship with the central Taliban leadership. Analysts of the Taliban movement indicate deviations and fragmentation in horizontal and vertical terms [Conflict targeting, 1.1.1 – 1.1.3].

Besides the Taliban, a number of smaller groups operate in Afghanistan (for example, Islamic Jihad Union, Lashkar-e Tayyiba, Jaysh Muhammed, Fedai Mahaz and the Mullah Dadullah Front), with the Islamic State Khorasan Province (ISKP) and the Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) as groups of more significance [Conflict targeting, 1.5; Security situation 2019, 1.2.2].

Insurgent groups are responsible for a wide range of human rights violations. Their targets differ, often depending on the political or military objectives of the respective group.

Insurgent groups have also established illegal parallel justice systems in areas under their control. These parallel justice systems impose extrajudicial punishments in order to sanction crimes under the insurgent group’s strict interpretation of Sharia. The punishments refer to ordinary crimes as well as to transgressions of moral codes, and include severe violations of rights, such as public executions by stoning or shooting and other forms of corporal punishments [Society-based targeting, 1.6].

The reach of an insurgent group depends on its power position, including its networks or other cooperation mechanisms. For example, while the Taliban are mostly present in rural areas, it is also reported that they run a network of informants and conduct intelligence gathering in the cities. Information suggests that they will persecute certain individuals even in major cities, depending on the profile and their individual circumstances [Conflict targeting, 1.4.2, 1.4.3]. ISKP has limited territorial control, however, they have been able to carry out attacks in different parts of the country, including major cities [Conflict targeting, 1.2.10.3, 1.5.1.1; Security situation 2019, 1.2.2, 2.1].

Depending on the regional situation and the position of the particular insurgent group, those could be considered either as parties or organisations controlling a substantial part of Afghanistan (currently, only potentially applicable to the Taliban) or as non-State actors. Their respective qualification under Article 6(b) or (c) QD would depend on whether or not they are found to control a substantial part of the territory of the Afghanistan, and should take into consideration the volatile situation of the conflict in Afghanistan. […]

Analysis of particular profiles with regard to qualification for refugee status

[…] 3. Individuals working for foreign military troops or perceived as supporting them

This profile includes individuals who are associated with the foreign troops present in Afghanistan, such as interpreters, security guards, civilian contractors, administrators and logistics personnel.

COI summary

Personnel working for foreign military troops, in particular interpreters and security guards are seen as a top priority target by the Taliban. The Taliban have also forced local communities to banish certain families they considered allies of the international forces. Individuals not on the payroll of

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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