Entscheidungsdatum
22.04.2021Norm
AsylG 2005 §35Spruch
W161 2240606-1/2E
Beschluss
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Monika LASSMANN nach Beschwerdevorentscheidung der Österreichischen Botschaft Addis Abeba vom 10.02.2021, Zl. Addis-Abeba-ÖB/RECHT/0055/2020, aufgrund des Vorlageantrages der XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, über die Beschwerde gegen den Bescheid der Österreichischen Botschaft Addis Abeba vom 02.12.2020, beschlossen
A) Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG stattgegeben, der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit zur Erlassung einer neuerlichen Entscheidung an die Behörde zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
1.1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine Staatsangehörige Somalias, stellte am 09.07.2020 persönlich bei der Österreichischen Botschaft Addis Abeba (im Folgenden: „ÖB Addis Abeba“) einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 Abs. 2 AsylG. Als Bezugsperson wurde Vater der BF, XXXX , genannt, welchem mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.06.2017, GZ: W103 1414167-3/13E, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde. Auch die Mutter sowie die vier minderjährigen Geschwister der BF stellten am selben Tag Anträge auf Erteilung von Einreisetitel gemäß § 35 Abs. 2 AsylG, wobei auch diese XXXX als Bezugsperson angaben.
1.2. Mit Schreiben vom 27.07.2020 übermittelte die ÖB Addis Abeba den Antrag (sowie auch die Anträge der Mutter und der Geschwister) dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) und teilte mit, dass die BF (und ihre Angehörigen) somalische Reisepässe vorgelegt hätten. Diese würden generell nicht anerkannt werden, daher könne die Identität der BF nicht geprüft und verifiziert werden. In Bezug auf somalische Dokumente wurde darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der inhaltlichen Richtigkeit, diese nicht automatisch als korrekt eingestuft werden könnten. Eine Überprüfung durch die ÖB Addis Abeba sei nicht möglich, da in Somalia keine funktionierenden behördlichen Strukturen bestünden, der ÖB Addis Abeba keine Unterschrifts- und Stempelproben vorlägen und die ÖB Addis Abeba über keine Vertrauensleute in Somalia verfüge, welche allfällige Recherchen durchführen könnten. Es bestünden Zweifel an der Identität, dem Verwandtschaftsverhältnis mit der Bezugsperson und an den sonstigen Angaben der BF. Um die angegebenen Familienverhältnisse sicher feststellen zu können, werde die Durchführung eines DNA-Tests zum Beweis der leiblichen Vaterschaft der Bezugsperson und eine Altersfeststellung angeregt.
1.3. Das BFA teilte der belangten Behörde in seiner Mitteilung nach § 35 Abs. 4 AsylG, datiert mit 18.09.2020, mit, dass die Gewährung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten oder Asylberechtigten nicht wahrscheinlich sei. Die BF sei volljährig und die von ihr angegebene Bezugsperson habe den Status als Asylberechtigter (subsidiär Schutzberechtigter) ihrerseits nur aus einem Familienverfahren nach dem 4. Abschnitt des AsylG abgeleitet. (§ 34 Abs. 6 Z 2 AsylG). Näheres ergebe sich aus der beiliegenden Stellungnahme.
In der diesbezüglichen Stellungnahme wurde ausgeführt, dass der Status des subsidiär Schutz-berechtigten der Bezugsperson vor mindestens drei Jahren rechtskräftig zuerkannt worden sei. Die Gefährdungsvoraussetzungen im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG lägen derzeit noch vor und bestünden keine Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen würden, dass diese in drei Monaten nicht mehr vorlägen. Die BF sei zum Zeitpunkt der Antragstellung am 09.07.2020 bereits volljährig gewesen, sodass eine Statusgewährung nicht wahrscheinlich sei.
1.4. Mit Schreiben vom 21.09.2020 wurde der BF die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt. Es wurde mitgeteilt, dass das BFA nach Prüfung des Antrages mitgeteilt habe, dass die Stattgebung eines Antrages auf internationalen Schutz durch Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten nicht wahrscheinlich sei. Die BF sei volljährig und habe die Bezugsperson den Status als Asylberechtigter (subsidiär Schutzberechtigter) ihrerseits nur aus einem Familienverfahren nach dem 4. Abschnitt des AsylG abgleitet (§ 34 Abs. 6 Z 2 AsylG). Näheres ergebe sich aus der beiliegenden Stellungnahme des BFA. Es werde hiermit die Gelegenheit gegeben, innerhalb der Frist von einer Woche ab Zustellung die angeführten Ablehnungsgründe durch ein unter Beweis zu stellendes Vorbringen zu zerstreuen.
1.5. Am 29.09.2020 brachte die BF durch ihre Vertretung innerhalb offener Frist eine Stellungnahme bei der ÖB Addis Abeba ein und führte darin zusammengefasst aus, dass die BF (wie sich aus der beigelegten ärztlichen Bestätigung ergebe) im Jahr 2003 im Kleinkindalter bei einem Unfall eine schwere Kopfverletzung erlitten habe. Seitdem habe sie starke Orientierungs- und Konzentrationsprobleme und leide sie auch an Epilepsie. Insbesondere wegen der regelmäßigen epileptischen Anfälle sei sie auf besondere Fürsorge durch ihre Familie angewiesen. Es treffe zu, dass die BF zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits volljährig gewesen sei und somit nicht unter die Definition der Familienangehörigen des § 35 Abs. 5 AsylG falle. Der BF sei aber - trotz Volljährigkeit - aus Gründen des Art. 8 EMRK die Einreise zu gewähren. In der Folge wurde auf Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK verwiesen und ausgeführt, dass die Behörde zu prüfen habe, ob eine Einreise nach Art. 8 EMRK geboten erscheine. Mehreren Erkenntnissen des BVwG sei zu entnehmen, dass eine konkrete und individuelle Prüfung nach Art. 8 EMRK stattzufinden habe. Diese Prüfung sei mit der BF zu erörtern und eine allfällige Abweisung entsprechend zu begründen. Im vorliegenden Fall sei nicht ersichtlich, ob eine individuelle Prüfung bezüglich der Verletzung des Art. 8 EMRK stattgefunden habe. Unabhängig davon, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Eltern und der volljährigen BF gegeben sei, komme es beim Bestehen eines Familienlebens zwischen Eltern und Kindern im Sinne der Rechtsprechung des EGMR nicht nur darauf an, ob eine „über die üblichen Bindungen zwischen Familienangehörigen hinausgehende Nahebeziehung“ bestehe, sondern darauf, ob jede Verbindung gelöst worden sei. Davon könne gegenständlich nicht ausgegangen werden. Die BF habe ihr Heimatland gemeinsam mit ihrer Familie (Mutter und Geschwister) verlassen und zum Zwecke der Familienzusammenführung mit der Bezugsperson einen Antrag auf Erteilung eines Einreisevisums gestellt. Der Mutter und den Geschwistern komme unzweifelhaft sowohl das Recht auf Einreise als auch auf Gewährung desselben Schutzes zu. Dies hätte zur Folge, dass die BF – wenn die beabsichtigte Ablehnung aufrecht bleibe – als alleinstehende junge somalische Frau in Addis Abeba zurückbleiben müsste, wo sie keinerlei familiäre Unterstützung mehr hätte. Aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes und auch wegen der Sicherheitslage und Gefährdungssituation für alleinstehende junge Frauen in Somalia, sei sie dringend auf die Unterstützung durch ihre Kernfamilie angewiesen. Die Trennung der Familie habe keinesfalls freiwillig stattgefunden, sondern sei das Resultat der fluchtauslösenden Ereignisse im Herkunftsstaat. Die BF habe ihr gesamtes bisheriges Leben im Familienverband verbracht. Sie sei wegen ihrer gesundheitlichen Situation und der schlechten Sicherheitslage in Somalia in mehrfacher Hinsicht vulnerabel und sei die Zusammenführung der Kernfamilie iSd Art. 8 EMRK zur Fortführung eines normalen Lebens in Österreich dringend geboten. Es bestehe trotz Volljährigkeit aufgrund der genannten Umstände ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen der BF und ihrer Familie. Es sei daher abzuwägen, wie schwer der Eingriff in das durch Art. 8 EMRK garantierte Recht wiege und dann zu entscheiden, ob trotz Volljährigkeit der BF ein Einreisetitel gewährt werden müsse.
Der Stellungnahme wurde ein mit 15.08.2020 datierter und in englischer Sprache verfasster Befund der „ XXXX “ in Addis Abeba beigefügt. Darin wurde bei der BF eine Epilepsie und posttraumatische Kopfschmerzen diagnostiziert.
1.6. Am selben Tag übermittelte die ÖB Addis Abeba die Stellungnahme der BF an das BFA und ersuchte um neuerliche Prüfung, insbesondere auch im Lichte des Art. 8 EMRK.
1.7. Am 04.11.2020 teilte das BFA der ÖB Addis Abeba in einer 2. Stellungnahme gemäß § 35 Abs. 4 AsylG mit, dass auch im Lichte des Art. 8 EMRK der volljährigen BF die Einreise nicht zu gewähren sei. Weiters wurde angemerkt, dass auch den fünf Familienangehörigen nach momentaner Aktenlage die Einreise nicht gewährt werde. Die Zuerkennung des Status iSd § 35 Abs. 4 AsylG sei daher nicht wahrscheinlich.
1.8. Mit Schreiben vom 05.11.2020 wurde der BF erneut die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt.
1.9. Mit E-Mail vom 12.11.2020 ersuchte die rechtliche Vertretung der BF um Fristverlängerung zur Einbringung einer Stellungnahme.
1.10. Am 24.11.2020 brachte die BF durch ihre Vertretung neuerlich eine Stellungnahme ein und führte aus, dass nicht nachvollziehbar sei, wie die Botschaft zur Annahme gelange, dass die Bezugsperson keinen originären Schutzstatus erhalten hätte. Vielmehr habe die Bezugsperson den Status als subsidiär Schutzberechtigter nicht aus einem Familienverfahren abgleitet. Soweit das BFA in seiner Stellungnahme ausgeführt habe, dass auch den weiteren fünf Familienmitgliedern (Mutter und Geschwister) die Einreise nach derzeitiger Aktenlage nicht gewährt werde, so sei auch dazu schon eine Stellungnahme eingebracht worden, in welcher ausführlich dargelegte werde, dass auch diesen die Einreise nach Österreich zu gewähren sei. Hinsichtlich der BF werde auf die Argumente in der am 29.09.2020 eingebrachten Stellungnahme verwiesen. Wie aus der ärztlichen Bestätigung hervorgehe, habe die BF im Jahr 2003 im Kleinkindalter bei einem Unfall eine schwere Kopfverletzung erlitten. Seitdem habe sie starke Orientierungs- und Konzentrationsprobleme und leide an Epilepsie. Wegen der regelmäßigen epileptischen Anfälle sei sie auf die Fürsorge ihrer Familie angewiesen. Das BFA führe in seiner Stellungnahme nur floskelhaft aus, dass die Einreise der BF entgegen ihren Ausführungen auch im Lichte des Art. 8 EMRK nicht gestattet werden könne. Es sei nicht erkennbar, ob und inwiefern sich das BFA mit der individuellen Situation der BF und ihren körperlichen Beeinträchtigungen, die es ihr unmöglich machen würden, ohne ihre Familienmitglieder zu leben, auseinandergesetzt habe. Das BFA hätte sich mit den Argumenten in der Stellungnahme auseinandersetzen müssen und die Ablehnung begründen müssen. Unter Berücksichtigung der angeführten Judikatur in Zusammenhang mit der gesundheitlichen Situation müsse das BFA zum Schluss kommen, dass das Interesse der BF an der Wahrung ihres Rechtes auf Privat- und Familienleben im vorliegenden Fall überwiege.
1.12. Am 24.11.2020 übermittelte ÖB Addis Abeba die neuerliche Stellungnahme der BF an das BFA und ersuchte abermals um neuerliche Prüfung, insbesondere im Lichte des Art. 8 EMRK.
1.13. In ihrer Stellungnahme vom 01.12.2020 teilte das BFA der ÖB Addis Abeba mit, dass die BF zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits volljährig gewesen sei, sodass eine Statusgewährung nicht wahrscheinlich sei. Auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme vom 24.11.2020 und nach neuerlicher Prüfung und zwar auch im Lichte des Art. 8 EMRK sei zum derzeitigen Zeitpunkt die Zuerkennung des Status iSd § 35 Abs. 4 AsylG nicht wahrscheinlich.
1.14. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 02.12.2020 wies die ÖB Addis Abeba den Antrag auf Erteilung des Einreisetitels gem. § 26 FPG iVm § 35 AsylG ab. Hinsichtlich der Begründung wurde ausgeführt, dass die BF volljährig sei und die von ihr genannte Bezugsperson den Status aus einem Familienverfahren abgeleitet habe. Das BFA habe jeweils nach Prüfung mitgeteilt, dass das Vorbringen der BF nicht habe unter Beweis gestellt werden können und die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten oder der subsidiär Schutzberechtigten nicht wahrscheinlich sei. Es sei daher gemäß § 26 FPG iVm § 35 Abs. 4 AsylG nach der Aktenlage spruchgemäß zu entscheiden gewesen und der Antrag der BF auf Erteilung eines Einreisetitels abzuweisen.
1.15. Gegen den Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde, in welcher zunächst der Verfahrensgang wiedergegeben wird. Rechtlich wurde ausgeführt, dass in den Stellungnahmen bereits der Gesundheitszustand der BF erläutert worden sei bzw. die BF deshalb nicht in der Lage sei, selbstständig und ohne familiäre Unterstützung zu leben. Sie sei dringend auf die Fürsorge ihrer Eltern angewiesen. Die Anträge der Mutter und Geschwister der BF seien ebenfalls mit Bescheid der ÖB Addis Abeba abgewiesen worden. Diesen sei aber zweifelsfrei die Einreise zu gewähren und würde die BF in diesem Fall alleine in Äthiopien zurückbleiben. Ihre Familie würde andernfalls vor die Wahl gestellt werden, das Familienleben mit der Bezugsperson in Österreich fortzusetzen – bei gleichzeitigem Zurücklassen der BF unter prekären Umständen in Äthiopien – oder aber auf das Familienleben mit der Bezugsperson in Österreich zu verzichten. In den Stellungnahmen sei bereits ausführlich darauf hingewiesen worden, dass die BF wegen ihres Gesundheitszustandes dringend auf familiäre Fürsorge angewiesen sei und daher in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrer Familie stehe. Auch sei bereits angeführt worden, dass die Bezugsperson ihren Status nicht aus einem Familienverfahren abgeleitet habe. Die unterlassene Auseinandersetzung mit den in den Stellungnahmen vorgebrachten Argumenten, Beweismitteln und Anträgen stelle eine Verletzung des Rechts auf Parteiengehör bzw. einen Begründungsmangel dar, welcher nicht nur die Verletzung von Verfahrensvorschriften, sondern sogar ein willkürliches Verhalten der Behörde darstelle und den Bescheid mit Rechtswidrigkeit belaste. Der BF sei unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Art. 8 EMRK die Einreise zu gewähren.
1.16. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 10.02.2021 wies die ÖB Addis Abeba die Beschwerde gemäß § 14 Abs. 1 VwGVG als unbegründet ab.
Begründend wurde ausgeführt, dass die Botschaft an die Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA gebunden sei, jenseits und unabhängig von dieser Bindungswirkung aber die Ansicht des BFA, dass die BF bei Antragstellung am 09.07.2020 j volljährig gewesen sei, teile und daher nicht mehr vom Familienbegriff des § 35 AsylG erfasst sei. Die Volljährigkeit der BF zum Antragszeitpunkt werde in der Beschwerde auch nicht bestritten. Soweit in der Beschwerde auf Art. 8 EMRK hingewiesen werde, so sei zu betonen, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK unter Gesetzesvorbehalt stehe. Es sei nicht zu sehen, dass ein (allfälliger) Eingriff in das Grundrecht nach Art. 8 Abs. 1 EMRK – wonach zum Zeitpunkt der Antragstellung volljährige Kinder nicht unter den Familienbegriff des AsylG fallen – nicht im Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt wäre. Für die Deckung eines solchen (allfälligen) Eingriffs in das Grundrecht nach Art. 8 Abs. 1 EMRK spreche auch, dass sogar Art. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie im Abs. 1 lit b bis d hinsichtlich Familienangehöriger von minderjährigen Kindern ausgehe. Es liege auch keine „besondere Abhängigkeit“ im Sinne der Rechtsprechung des EGMR vor. Die BF habe zwar ein Attest vom 15.08.2020 vorgelegt, darin werde aber nicht erwähnt, dass die BF nicht selbstständig ihren Alltag bestreiten könne und werde eine medizinische Behandlung im Ausland vorgeschlagen, dies zu einem Zeitpunkt, als bereits die erste negative Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA ergangen sei. Auch seien – obwohl der Unfall der BF bereits im Alter von drei Jahren passiert sei – keine früheren Behandlungsnachweise vorgelegt worden. Das Gesetz kenne auch keine Ausnahmeregelung, dass vom Gebot der Volljährigkeit zum Zeitpunkt der Antragstellung abzusehen wäre, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten wäre. Im gegenständlichen Fall habe vielmehr zu gelten, dass die Familienzusammenführung in Fällen, in denen den nachziehenden Familienangehörigen ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG nicht offenstehe, über das NAG zu erfolgen habe. Dabei habe der Gesetzgeber auch Vorkehrungen getroffen, um selbst im Fall des Fehlens von Voraussetzungen, die an sich für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gegeben sein müssten, eine Verletzung von aus Art. 8 EMRK herrührenden Rechten hintanzuhalten (VwGH 28.01.2020, Ra 2018/20/0464).
1.17. Am 23.02.2021 wurde bei der ÖB Addis Abeba ein Vorlageantrag gemäß § 15 VwGVG eingebracht.
1.18. Mit Schreiben des Bundesministeriums für Inneres vom 18.03.2021, eingelangt beim Bundesverwaltungsgericht am 22.03.2021, wurde der Vorlageantrag samt Verwaltungsakten übermittelt.
1.19. Am 23.03.2021 übermittelte das BFA einen Aktenvermerk, wonach die Voraussetzungen zur Aberkennung des Status der Bezugsperson derzeit nicht mit gebotener Wahrscheinlichkeit vorlägen.
1.20. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.04.2021 zu GZen W175 2240093-1/2E, W175 2240094-1/2E, W175 2240098-1/2E, W175 2240100-1/2E, W175 2240096-1/2E, wurde den Beschwerden der Mutter sowie der vier Geschwister der BF gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG stattgegeben, die bekämpften Bescheide behoben und die Angelegenheit zur Erlassung einer neuerlichen Entscheidung an die Behörde zurückgewiesen. Die Revision wurde gemäß Art. 144 Abs. 4 B-VG als nicht zulässig erachtet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die volljährige BF stellte zeitgleich mit ihrer Mutter und ihren damals noch sämtlich minderjährigen vier Geschwistern am 09.07.2020 bei der ÖB Addis Abeba einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 Abs. 2 AsylG 2005.
Als Bezugsperson wurde XXXX genannt, welcher der Vater der BF sei.
Der Bezugsperson wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.06.2017, GZ: W103 1414167-3/13E, der Status des subsidiär Schutzberechtigten (originär) zuerkannt.
Das BFA teilte nach Prüfung des Sachverhaltes mit, dass die Stattgebung des Antrages auf internationalen Schutz durch Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten nicht wahrscheinlich sei, da die BF zum Antragszeitpunkt bereits volljährig gewesen sei und somit nicht unter den Begriff der Familienangehörigen nach Art. 35 Abs. 5 AsylG falle. Zudem habe die Bezugsperson den Status als Asylberechtigter (subsidiär Schutzberechtigter) ihrerseits nur aus einem Familienverfahren nach dem 4. Abschnitt des AsylG abgeleitet (§ 34 Abs. 6 Z 2 AsylG) und sei auch im Lichte des Art. 8 EMRK der volljährigen BF die Einreise nicht zu gewähren. Diese Einschätzung wurde auch nach Einbringung zweier Stellungnahmen seitens der BF aufrechterhalten.
Mit Bescheid der ÖB Addis Abeba vom 02.12.2020 wurde der Antrag der BF auf Erteilung des Einreisetitels gemäß § 26 FPG iVm § 35 AsylG abgewiesen.
Ebenso wurden mit Bescheiden der ÖB Addis Abeba vom 02.12.2020 die Anträge der Mutter sowie der vier Geschwister der BF auf Erteilung von Einreisetiteln gemäß § 26 FPG iVm § 35 AsylG abgewiesen.
Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.04.2021 wurde den Beschwerden der Mutter sowie der vier Geschwister der BF gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG stattgegeben, die bekämpften Bescheide behoben und die Angelegenheit zur Erlassung einer neuerlichen Entscheidung an die Behörde zurückgewiesen.
Die Familieneigenschaft der BF zur Bezugsperson im Sinne des § 35 Abs. 5 AsylG 2005 kann nicht festgestellt werden. Bei Stellung des Einreiseantrages hatte die am XXXX geborene BF bereits das 18. Lebensjahr vollendet. Die Volljährigkeit der BF im Antragszeitpunkt wurde im Verfahren auch nicht bestritten.
Laut der im Verfahren vorgelegten ärztlichen Bestätigung leidet die BF an einer Epilepsie sowie posttraumatischen Kopfschmerzen und wird medikamentös behandelt.
2. Beweiswürdigung:
Die festgestellten Tatsachen zur BF bzw. dem geführten Verfahren ergeben sich zweifelsfrei aus dem Akt der Österreichischen Botschaft Addis Abeba, in welchem auch die ärztliche Bestätigung der BF einliegt.
Die Volljährigkeit der BF zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Erteilung eines Einreisetitels blieb unbestritten.
Die Feststellung, dass der Bezugsperson der BF (Vater) der Status des subsidiär Schutzberechtigten originär zuerkannt wurde, ergibt sich aus dem Akt des BVwG, AZ W103 1414167-3, insbesondere der zum Akt genommenen gekürzten Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.06.2017 und der diesbezüglichen Verhandlungsniederschrift. Daraus geht eindeutig hervor, dass dem Vater der BF aufgrund seines Gesundheitszustandes, seiner Zugehörigkeit zu einer somalischen Minderheit bzw. der dadurch nicht zu erwartenden Fähigkeit in Somalia einen Arbeitsplatz zu finden, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde.
Die im Visaverfahren vom BFA vertretene und im angefochtenen Bescheid übernommene Meinung, wonach die Bezugsperson ihren Status aus einem Familienverfahren abgeleitet habe, findet im vorliegenden Akt keine Deckung. Dieses Argument wurde auch in den die Mutter und Geschwister der BF betreffenden Verfahren vom BFA nicht vorgebracht.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Stattgebung der Beschwerde:
Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) idgF lauten:
Anträge auf Einreise bei Vertretungsbehörden
§ 35 (1) Der Familienangehörige gemäß Abs. 5 eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde und der sich im Ausland befindet, kann zwecks Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels bei einer mit konsularischen Aufgaben betrauten österreichischen Vertretungsbehörde im Ausland (Vertretungsbehörde) stellen. Erfolgt die Antragstellung auf Erteilung eines Einreisetitels mehr als drei Monate nach rechtskräftiger Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, sind die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 zu erfüllen.
(2) Der Familienangehörige gemäß Abs. 5 eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde und der sich im Ausland befindet, kann zwecks Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 frühestens drei Jahre nach rechtskräftiger Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels bei der Vertretungsbehörde stellen, sofern die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 erfüllt sind. Diesfalls ist die Einreise zu gewähren, es sei denn, es wäre auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen oder in drei Monaten nicht mehr vorliegen werden. Darüber hinaus gilt Abs. 4.
(2a) Handelt es sich beim Antragsteller um den Elternteil eines unbegleiteten Minderjährigen, dem der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, gelten die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 als erfüllt.
(3) Wird ein Antrag nach Abs. 1 oder Abs. 2 gestellt, hat die Vertretungsbehörde dafür Sorge zu tragen, dass der Fremde ein in einer ihm verständlichen Sprache gehaltenes Befragungsformular ausfüllt; Gestaltung und Text dieses Formulars hat der Bundesminister für Inneres im Einvernehmen mit dem Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten und nach Anhörung des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (§ 63) so festzulegen, dass das Ausfüllen des Formulars der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts dient. Außerdem hat die Vertretungsbehörde auf die Vollständigkeit des Antrages im Hinblick auf den Nachweis der Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 hinzuwirken und den Inhalt der ihr vorgelegten Dokumente aktenkundig zu machen. Der Antrag auf Einreise ist unverzüglich dem Bundesamt zuzuleiten.
(4) Die Vertretungsbehörde hat dem Fremden aufgrund eines Antrags auf Erteilung eines Einreisetitels nach Abs. 1 oder 2 ohne weiteres ein Visum zur Einreise zu erteilen (§ 26 FPG), wenn das Bundesamt mitgeteilt hat, dass die Stattgebung eines Antrages auf internationalen Schutz durch Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten wahrscheinlich ist. Eine derartige Mitteilung darf das Bundesamt nur erteilen, wenn
1. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§§ 7 und 9),
2. das zu befassende Bundesministerium für Inneres mitgeteilt hat, dass eine Einreise den öffentlichen Interessen nach Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht widerspricht und
3. im Falle eines Antrages nach Abs. 1 letzter Satz oder Abs. 2 die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 erfüllt sind, es sei denn, die Stattgebung des Antrages ist gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten.
Bis zum Einlangen dieser Mitteilung ist die Frist gemäß § 11 Abs. 5 FPG gehemmt. Die Vertretungsbehörde hat den Fremden über den weiteren Verfahrensablauf in Österreich gemäß § 17 Abs. 1 und 2 zu informieren.
(5) Nach dieser Bestimmung ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.
Die maßgeblichen Bestimmungen des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) idgF lauten:
Verfahren vor den österreichischen Vertretungsbehörden in Visaangelegenheiten
§ 11 (1) In Verfahren vor österreichischen Vertretungsbehörden haben Antragsteller unter Anleitung der Behörde die für die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes erforderlichen Urkunden und Beweismittel selbst vorzulegen; in Verfahren zur Erteilung eines Visums D ist Art. 19 Visakodex sinngemäß anzuwenden. Der Antragsteller hat über Verlangen der Vertretungsbehörde vor dieser persönlich zu erscheinen, erforderlichenfalls in Begleitung eines Dolmetschers (§ 39a AVG). § 10 Abs. 1 letzter Satz AVG gilt nur für in Österreich zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Personen. Die Vertretungsbehörde hat nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht. Eine Entscheidung, die dem Standpunkt des Antragstellers nicht vollinhaltlich Rechnung trägt, darf erst ergehen, wenn die Partei Gelegenheit zur Behebung von Formgebrechen und zu einer abschließenden Stellungnahme hatte.
(2) Partei in Verfahren vor der Vertretungsbehörde ist ausschließlich der Antragssteller.
(3) Die Ausfertigung bedarf der Bezeichnung der Behörde, des Datums der Entscheidung und der Unterschrift des Genehmigenden; an die Stelle der Unterschrift kann das Siegel der Republik Österreich gesetzt werden, sofern die Identität des Genehmigenden im Akt nachvollziehbar ist. Die Zustellung hat durch Übergabe in der Vertretungsbehörde oder, soweit die internationale Übung dies zulässt, auf postalischem oder elektronischem Wege zu erfolgen; ist dies nicht möglich, so ist die Zustellung durch Kundmachung an der Amtstafel der Vertretungsbehörde vorzunehmen.
…
Beschwerden gegen Bescheide österreichischer Vertretungsbehörden in Visaangelegenheiten
§ 11a (1) Der Beschwerdeführer hat der Beschwerde gegen einen Bescheid einer österreichischen Vertretungsbehörde sämtliche von ihm im Verfahren vor der belangten Vertretungsbehörde vorgelegten Unterlagen samt Übersetzung in die deutsche Sprache anzuschließen.
(2) Beschwerdeverfahren sind ohne mündliche Verhandlung durchzuführen. Es dürfen dabei keine neuen Tatsachen oder Beweise vorgebracht werden.
(3) Sämtliche Auslagen der belangten Vertretungsbehörde und des Bundesverwaltungsgerichtes für Dolmetscher und Übersetzer sowie für die Überprüfung von Verdolmetschungen und Übersetzungen sind Barauslagen im Sinn des § 76 AVG.
(4) Die Zustellung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes hat über die Vertretungsbehörde zu erfolgen. § 11 Abs. 3 gilt.
§ 28 Abs. 1 bis 3 VwGVG lautet:
§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Die Regelung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes im Falle, dass die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 12.11.2014, Zl. Ra 2014/20/0029 (unter Verweis auf das Erkenntnis vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063) zur Anwendung des § 28 Abs. 3 VwGVG ausgeführt:
„Der Verwaltungsgerichtshof hat sich dort mit dieser Frage auseinandergesetzt und dargelegt, dass ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht durch die Verwaltungsgerichte gesetzlich festgelegt ist. Die nach § 28 VwGVG von der meritorischen Entscheidungspflicht verbleibenden Ausnahmen sind strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken. Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem genannten Erkenntnis insbesondere ausgeführt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden kann. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.“
Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof mehrfach ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, sofern in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes. Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 mwN sowie VfSlg. 14.421/1996 und 15.743/2000).
Die Behörde hat die Pflicht, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Die Behörde darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH vom 10.04.2013, Zl. 2011/08/0169 sowie dazu Walter/Thienel: „Verwaltungsverfahren Band I2“, E 84 zu § 39 AVG).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die österreichische Vertretungsbehörde im Ausland in Bezug auf die Erteilung eines Einreisetitels nach § 35 AsylG 2005 an die Mitteilung des BFA über die Prognose einer Asylgewährung bzw. Gewährung subsidiären Schutzes gebunden, und zwar auch an eine negative Mitteilung, und kommt dieser diesbezüglich keine eigene Prüfungskompetenz zu (vgl. VwGH 16.12.2014, Ro 2014/22/0034; VwGH 01.03.2016, Ro 2015/18/0002).
Ungeachtet dieser für die Vertretungsbehörden bestehenden Bindungswirkung an die Prognoseentscheidung des BFA steht es dem Bundesverwaltungsgericht allerdings nunmehr - innerhalb des mit dem Fremdenbehördenneustrukturierungsgesetz - FNG, BGBl. I Nr. 87/2012, geschaffenen geschlossenen Rechtsschutzsystems - offen, auch die Einschätzung des BFA über die Wahrscheinlichkeit der Gewährung internationalen Schutzes an den Antragsteller auf ihre Richtigkeit zu überprüfen (VwGH 01.03.2016, Ro 2015/18/0002). Auch wenn es sich bei der Mitteilung des BFA um keinen Bescheid handelt, der vom Antragsteller (selbständig) angefochten werden kann (VwGH 06. 10.2010, 2008/19/0527), setzt die Möglichkeit einer Überprüfung der Richtigkeit dieser Prognose durch das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls voraus, dass dieser Mitteilung des BFA in nachvollziehbarer Weise zu entnehmen ist, aus welchen Gründen das BFA die Zuerkennung des beantragten Schutzstatus für nicht wahrscheinlich hält.
Gegenständlich hat das BFA seine negative Wahrscheinlichkeitsprognose damit begründet, dass die BF zum Antragszeitpunkt bereits volljährig gewesen sei, damit nicht unter den Begriff der Familienangehörigen falle und der Bezugsperson der Status als subsidiär Schutzberechtigter nur aufgrund eines Familienverfahrens zuerkannt worden sei. Zudem sei auch im Lichte des Art. 8 EMRK der volljährigen BF die Einreise nicht zu gewähren.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Annahme der Behörde, wonach der Bezugsperson der BF (Vater) der Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund eines Familienverfahrens zuerkannt worden sei, unrichtig ist. Vielmehr geht – wie bereits beweiswürdigend ausgeführt wurde – aus dem zum Akt genommenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes deutlich hervor, dass diesem der Status eines subsidiär Schutzberechtigen originär und nicht im Zuge eines Familienverfahrens zuerkannt wurde.
Weiters ist unstrittig, dass die BF am XXXX geboren wurde und im Zeitpunkt der Antragstellung (09.07.2020) bereits volljährig war. Der erstinstanzlichen Behörde ist sohin zuzustimmen ist, dass die BF somit grundsätzlich nicht unter die in § 35 Abs. 5 AsylG 2005 genannten Familienangehörigen fällt.
Dennoch war die Entscheidung gegenständlich zu beheben und zur neuerlichen Entscheidung an die Behörde zurückzuverweisen. Dies aufgrund folgender Erwägungen:
Der VfGH hat in seiner Rechtsprechung wiederholt ausgesprochen, dass auch in Visaverfahren nach § 35 AsylG die Einhaltung des Art 8 EMRK (mitzu-)berücksichtigen und sicherzustellen sei (VfGH 6.6.2014, B 369/2013; 23.11.2015, E 1510-1511/2015-15).
Die Behörde hat im vorliegenden Fall zwar lapidar darauf hingewiesen, dass eine Einreise der BF auch im Sinne des Art. 8 EMRK nicht zu gewähren sei, eine nachvollziehbare Auseinandersetzung sowie eine entsprechende Begründung einer Art. 8 EMRK-Relevanz ist der ablehnenden Entscheidung allerdings gänzlich nicht zu entnehmen. Dies, obwohl im Verfahren – insbesondere in den eingebrachten Stellungnahmen - wiederholt auf die Krankheit der BF (insbesondere die Epilepsie), die Orientierungs- und Konzentrationsprobleme der BF bzw. auf die daraus resultierende Abhängigkeit von der Betreuung ihrer Familie hingewiesen wurde. Zur Untermauerung dieses Vorbringens wurde auch eine ärztliche Bestätigung in Vorlage gebracht.
Dem Akt ist nicht zu entnehmen, dass die Behörde den Gesundheitszustand der BF, den Grad ihrer Abhängigkeit von der Versorgung und Betreuung durch ihre Kernfamilie (Mutter, Geschwister) ausreichend gewürdigt oder in ihre Entscheidung hat einfließen lassen. Die diesbezüglichen Ausführungen der ÖB Addis Abeba in der Beschwerdevorentscheidung, wonach in dem – erst nach der ersten negativen Prognoseentscheidung - vorgelegten ärztlichen Attest nicht erwähnt werde, dass die BF nicht selbstständig ihren Alltag bestreiten könne, darin eine medizinische Behandlung im Ausland vorgeschlagen werde bzw. die BF auch keine früheren Behandlungsnachweise vorgelegt habe, genügen als Begründung der Abweisung des Antrages jedenfalls nicht. Die belangte Behörde hätte vielmehr konkret eruieren und begründen müssen, wie sich der Alltag der BF in Somalia (gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern) darstellt, welche Alltagstätigkeiten die BF alleine bewältigen kann bzw. bei welchen Tätigkeiten und in welcher Form die BF Unterstützung von ihren Familienangehörigen benötigt. Zusätzlich hätte auch geprüft werden müssen, ob die BF – im Falle der Einreise ihrer Mutter und Geschwister nach Österreich – alleine in Somalia leben könnte oder ob es im Herkunftsstaat noch andere Familienangehörige gibt, welcher der BF Unterkunft und Unterstützung bieten könnten.
All diese Ermittlungen hat die Behörde gänzlich unterlassen bzw. es auch verabsäumt entsprechende Feststellungen dazu zu treffen und fehlen damit letztlich auch entsprechende Feststellungen der Behörde dazu, ob es in casu ausnahmsweise erforderlich sein könnte, dass das Familienleben der volljährigen BF in Österreich fortgesetzt wird (oder nicht).
Im fortgesetzten Verfahren wird die Behörde daher insbesondere Ermittlungen zum konkreten Behinderungsgrad der BF sowie zu den Auswirkungen der körperlichen Beeinträchtigung auf die Versorgung/Betreuung der BF durchzuführen haben. Weiters werden Ermittlungen zur tatsächlichen Lebenssituation der BF im Herkunftsstaat bzw. der sie erwartenden Lebenssituation im Heimatland (im Falle einer Abreise ihrer Familienmitglieder) anzustellen sein und werden genaue Feststellungen zu all diesen Punkten zu treffen sein. Dabei wird die Behörde auch das derzeit (wieder) in erster Instanz anhängige Verfahren der Familienangehörigen der BF (Mutter und Geschwister) bzw. den Ausgang dieses Verfahrens zu berücksichtigen haben. Erst dann kann beurteilt werden, ob im vorliegenden Fall ein Eingriff in das Familienleben der BF (Art. 8 EMRK) vorliegt bzw. die Fortsetzung des Familienlebens der BF in Österreich erforderlich ist.
Das erkennende Gericht weist noch auf die Spezifika und die verfahrensrechtlichen Einschränkungen (siehe § 11a FPG) des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens hin, weshalb die Durchführung der notwendigen Ermittlungen nicht im Interesse der Effizienz, Raschheit und Kostenersparnis durch dieses selbst durchgeführt werden können.
Gemäß § 11a Abs. 2 FPG war dieser Beschluss ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu treffen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Im vorliegenden Fall ist die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen wiedergegeben.
Schlagworte
Einreisetitel EMRK Ermittlungspflicht Familienleben Gesundheitszustand Kassation mangelnde SachverhaltsfeststellungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W161.2240606.1.00Im RIS seit
20.08.2021Zuletzt aktualisiert am
20.08.2021