TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/29 W132 2017575-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.04.2021
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Entscheidungsdatum

29.04.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W132 2017575-4/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ursula GREBENICEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.10.2018, Zl. 831912302 - 170313421, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.03.2021 zu Recht erkannt:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I., II. und III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung und die Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG 2005 wird stattgegeben, eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt, und dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 Abs. 1 iVm § 54 Abs. 2 AsylG für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

III.    In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte IV. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 27.12.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz und brachte am 31.07.2014 eine Säumnisbeschwerde ein. Das Bundesverwaltungsgericht gab der Säumnisbeschwerde am 16.02.2015 statt und wies mit Erkenntnis vom 18.06.2015 den Antrag des Beschwerdeführers bezüglich Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG unter Spruchpunkt I. und bezüglich Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG unter Spruchpunkt II. ab. Gleichzeitig wurde unter Spruchpunkt III. kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und eine Rückkehrentscheidung erlassen sowie die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan für zulässig erklärt und eine Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise gesetzt.

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland nicht von Verfolgung bedroht und das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft sei. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nach der Rückkehr in sein Heimatland in eine ausweglose Situation käme, da dieser der dortigen Sprache mächtig sei und die kulturellen Gepflogenheiten kenne, sowie dass er über Familienanschluss sowohl in Afghanistan als auch im Iran verfüge. Seine Ausweisung stelle auch keinen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens dar, da er seine Ehefrau im Iran geheiratet habe, die zu dieser Zeit bereits als anerkannter Flüchtling in Österreich gelebt habe und er mit ihr niemals in einem gemeinsamen Haushalt gelebt habe. Der Beschwerdeführer lebe auch nicht mit seinen anderen, in Österreich als anerkannte Flüchtlinge lebenden, Verwandten im gemeinsamen Haushalt und es lägen keine Hinweise auf eine ausgeprägte Nahebeziehung vor. Der Beschwerdeführer sei zudem illegal in Österreich eingereist und habe lediglich eine kurze Aufenthaltsdauer, in der er nur aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsbewilligung als Asylwerber rechtmäßig aufhältig war.

Die dagegen eingebrachte außerordentliche Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen.

2. Am 04.01.2016 stellte der Beschwerdeführer einen Folgeantrag auf internationalen Schutz, welcher vom Bundesasylamt mit Bescheid vom 01.08.2016 unter Spruchpunkt I. gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurde. Unter Spruchpunkt II. wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist. Unter Spruchpunkt III. wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt.

Die dagegen vom Beschwerdeführer erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 12.10.2016 als unbegründet abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer neben den bereits im Erstverfahren geltend gemachten Fluchtgründen vorgebracht habe, die Bedrohung durch seine Verwandten und jene seiner Exfrau in Afghanistan zu befürchten habe, da er sich habe scheiden lassen. Dies habe er lediglich in den Raum gestellt ohne dies bei der Einvernahme konkret und detailliert darzulegen sowie Beweise vorzulegen. Es seien weder relevante Änderungen des Sachverhaltes in Bezug auf die Zuerkennung des Statuts des Asylberechtigten noch in Bezug auf die Zuerkennung des Status als subsidiärer Schutzberechtigter vorliegend. Der Beschwerdeführer sei auch in der Lage, im Falle der Rückkehr nach Afghanistan, dort für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, da er über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse verfüge sowie Familienangehörige in Afghanistan habe, von denen er, wie auch von den in Österreich lebenden Verwandten, finanzielle Unterstützung erhalten könne. Ein intensives Privat- bzw. Familienleben in Österreich bestehe nicht.

3. Am 13.03.2017 stellte der Beschwerdeführer den verfahrensgegenständlichen zweiten Folgeantrag auf internationalen Schutz. Die Lage in Afghanistan sei sehr schlecht, es seien gerade erst durch einen terroristischen Bombenanschlag mehrere Menschen getötet worden. Er habe auch keine Familie mehr in Afghanistan, da diese auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sei, dies habe er ca. vor drei Monate erfahren. Die Taliban würden ihn immer noch verfolgen.

3.1. Mit der Verfahrensanordnung vom 16.03.2017 wurde der Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 AsylG über die beabsichtigte Zurückweisung seines Antrages wegen entschiedener Sache im Sinne des § 68 AVG informiert.

3.2. Der Beschwerdeführer konkretisierte im Schreiben vom 24.03.2017 die maßgebliche Änderung des Sachverhaltes und führte hierzu aus, seine Familienmitglieder hätten Afghanistan verlassen und seien bei der Überfahrt nach Europa ums Leben gekommen, dadurch habe der Beschwerdeführer kein soziales Netz mehr, wobei in den Vorverfahren das Gericht seine Entscheidung auf diesen Umstand gestützt habe. Dadurch habe er auch seine Absicherung in Afghanistan verloren und würde bei Rückkehr in eine ausweglose Lage geraten, die ein Ausmaß erreiche, das seine Menschenrechte verletze. Der Sachverhalt habe sich auch im Hinblick auf seine Integration maßgeblich verändert. Der Beschwerdeführer habe den österreichischen Pflichtschulabschluss erfolgreich nachgeholt und eine Arbeitsplatzzusage erhalten, weshalb sein Verbleib für Österreich keine finanzielle Belastung darstellen würde. Der Antragsteller habe auch in Österreich asylberechtigte Verwandte, zu denen ein reger Kontakt und ein aufrechtes Familienleben bestehe, während er in Afghanistan allein wäre. Die Sicherheits- und Versorgungslage hätte in den vergangenen Monaten einen katastrophalen Tiefpunkt erreicht. Es drohe derzeit eine schwere humanitäre Krise und das internationale Rote Kreuz habe seine Arbeit in Afghanistan bereits einstellen müssen. Es habe sich auch aufgrund der Rekordzahlen an Binnenflüchtlingen und Rückkehrern eine humanitäre Katastrophe entwickelt. In XXXX sei es regelmäßig zu schweren Anschlägen islamistischer Gruppierungen mit vielen Todesopfern gekommen. Es seien nicht ausreichend Arbeitsplätze vorhanden und die Mieten in XXXX seien unverhältnismäßig hoch. Es fehle auch eine ausreichende, vor allem finanzielle, Unterstützung für Rückkehrer. Der Beschwerdeführer drohe bei Rückkehr nach Afghanistan in eine Lage zu geraten, die einer Verletzung des Art. 3 EMRK gleichzuhalten sei, nämlich absolute Armut und Obdachlosigkeit, wobei die Zentralregierung nicht mehr in der Lage sei, die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten. Der Stellungnahme legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Unterlagen bei. Darin enthalten sind u.a. auch ein Unterstützungsschreiben einer näher genannten Person, welche seine Deutschkenntnisse und seine Schulerfolge hervorhebt, sowie zu seinem Engagement im Theaterstück „ XXXX “ und dem Tod seiner Familienangehörigen Stellung nimmt. In einem Schreiben einer anderen näher genannten Person wird ebenfalls der Tod der Familienangehörigen im Mittelmeer thematisiert. Auch eine Unterschriftenliste zur Unterstützung des Beschwerdeführers wurde vorgelegt, sowie Berichte zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan.

3.3. Der Beschwerdeführer wurde am 27.04.2017 von der belangten Behörde niederschriftlich vernommen. Hierbei wiederholte er sein Fluchtvorbringen und führte diesbezüglich aus, er fürchte sich immer noch vor den Taliban, habe keine Familie mehr in Afghanistan, da diese auf der Flucht ertrunken sei, habe in Österreich bereits Anschluss gefunden und sich hier ein neues Leben aufgebaut. Er verwies auch auf die Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan. Er legte auch eine DVD vor, mit Aufnahmen von Personen, die sich für den Beschwerdeführer aussprechen, sowie einen Artikel der Zeitung „ XXXX “, welcher über seine Angst vor einer Abschiebung und sein Leben in Österreich berichtet. Insbesondere verweist der Beschwerdeführer auf seine Mitwirkung in der Theaterproduktion „ XXXX “.

3.4. Mit dem Schriftsatz vom 11.05.2017 wies der Beschwerdeführer auf seine westliche Orientierung hin und brachte hiezu vor, er setze sich für die Gleichstellung von Mann und Frau ein. Er wolle die Ungleichbehandlung und Unterdrückung sowie deren Auswirkungen auf die Bildung und die Gesundheit von Frauen in Afghanistan öffentlich reflektieren und kritisch diskutieren. Um auf diese fehlenden Frauenrechte in Afghanistan, aber auch in der Türkei, aufmerksam zu machen, habe er sich dem Theaterstück „ XXXX “ angeschlossen. Eine solche Inszenierung sei in Afghanistan verboten und die Mitwirkung nur unter der Gefahr für Leib und Leben möglich. Diese Publikation sei auch unter der afghanischen Gemeinschaft bekannt, die damit nicht einverstanden und mit Gruppierungen in Afghanistan gut vernetzt sei, sodass sein Mitwirken in der Theaterproduktion in Afghanistan bekannt geworden sei, wodurch er eine asylrelevante Verfolgung im Zusammenhang mit der Diskreditierung des Islams fürchte. Ein Abfall vom Glauben sei mit der Todesstrafe bedroht. Der Beschwerdeführer könne bei seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht nach seinen westlich-orientierten Wertevorstellungen leben, sondern habe zu befürchten, wegen seiner – unterstellten – politischen Gesinnung verfolgt zu werden. Seine persönliche Situation habe sich auch durch den Verlust seiner Familienangehörigen maßgebend verschlechtert. Die Gefahr für Zivilisten sei auch stetig gestiegen und erreiche nunmehr ein Rekordhoch. Die Umstände und Ereignisse hätten sich erst nach Rechtskraft des Vorverfahrens ereignet und er habe daher einen neuen Antrag gestellt. Mit der Stellungnahme übermittelte der Beschwerdeführer auch einen Auszug über das Projekt „ XXXX “ sowie ein Empfehlungsschreiben.

3.5. In der Stellungnahme vom 21.05.2017 wiederholte der Beschwerdeführer sein Vorbringen im Wesentlichen.

Mit Schreiben vom 08.06.2017 übermittelte der Beschwerdeführer weitere Empfehlungs- und Unterstützungsschreiben.

4. Mit Bescheid vom 20.06.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück.

Darin stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren keinen – neuen – Sacherhalt vorgebracht habe, welcher nach dem rechtskräftigen Abschluss des Vorverfahrens entstanden sei. Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer volljährig, jung, gesund und arbeitsfähig sei und daher auch ohne seine Verwandten nach Afghanistan zurückkehren könne. Eine Gefährdung, die einer Rückkehrentscheidung entgegenstünde, bestehe nicht. Auf das Vorbringen westlicher Orientierung und der Mitwirkung an dem Theaterprojekt „ XXXX “ wird nicht eingegangen.

4.1. Mit Schreiben vom 19.06.2017 legte der Beschwerdeführer eine Auszeichnung für Leistung bezüglich eines Integrationskurses im Ausmaß von 32 Stunden vor.

4.2. Der bevollmächtigte Vertreter des Beschwerdeführers hat gegen diesen Bescheid fristgerecht Beschwerde erhoben und diesen zur Gänze angefochten. Im Wesentlichen wird ausgeführt, dass sehr wohl eine maßgebende Änderung des Sachverhalts vorliege und die belangte Behörde es verabsäumt habe, ausreichende Ermittlungen durchzuführen. Dies vor allem im Hinblick auf die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Schauspieler, wodurch ihm in seiner Heimat eine asylrelevante Verfolgung drohe. Diesbezügliche Vorbringen seien von der belangten Behörde unkommentiert und unbeachtet geblieben. Die Länderfeststellungen seien ebenfalls unzureichend, da sich diese nicht mit der Verfolgungsgefahr für Schauspieler auseinandersetzen. Die belangte Behörde habe sich überdies nicht mit der erfolgreichen Integration des Beschwerdeführers befasst. Der Beschwerdeführer legte gleichfalls mehrere Internetauszüge rund um das Theaterstück „ XXXX “, einen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 19.06.22017, einen Zeitungsartikel über die Aussetzung von Asylentscheidungen für Afghanen in Deutschland sowie Bestätigungen über seinen Deutschkurs und zur Aufnahme in der Abendschule ab September 2017 vor. Der Beschwerdeführer beantragte gleichzeitig auch die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

4.3. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.07.2017 wurde der Beschwerde gem. § 17 Abs. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

4.4. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.09.2017 wurde der Beschwerde stattgegeben und der Bescheid der belangten Behörde vom 20.06.2017 aufgehoben.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer insofern ein neues Vorbringen erstattet habe, als er vorbrachte, dass er seine Familie und somit seinen sozialen Anschluss in Afghanistan verloren habe, als die Familie auf der Flucht über das Mittelmeer ertrunken sei. Bei seiner Rückkehr nach Afghanistan müsse er dort alleine ein neues Leben aufbauen, ohne jeglichen sozialen Rückhalt. Zudem brachte er in der Stellungnahme vom 24.03.2017 vor, dass er in einem Theaterstück „ XXXX “ mitspiele. Die belangte Behörde habe es unterlassen, sich mit diesen Vorbringen auseinanderzusetzen, sodass nicht erkennbar sei, ob diesem Vorbringen ebenso die Rechtskraft des über den ersten Folgeantrag absprechenden Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes entgegensteht. Die zur Theaterproduktion vorgelegten Unterlagen seien nicht offensichtlich untauglich, das neue Vorbringen zu belegen.

5. Im fortgesetzten Verfahren hat die belangte Behörde den Beschwerdeführer am 24.07.2018 neuerlich niederschriftlich einvernommen.

5.1. In der Stellungnahme vom 14.08.2018 hat die bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers ausgeführt, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Mitwirkung am Theaterstück „ XXXX “ im Falle der Rückkehr als verwestlicht wahrgenommen und ihm unterstellt würde, vom Glauben abgefallen zu sein. Auch drohe ihm Verfolgung als Familienangehöriger seiner in Österreich aufhältigen Onkel. Eine Rückkehr sei dem Beschwerdeführer zudem aufgrund der schlechten Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan. Ebenfalls zu berücksichtigen sei die gute Integration des Beschwerdeführers in Österreich.

5.2. Mit dem im Spruch angeführten Bescheid der belangten Behörde vom 02.10.2018 wurde über den Folgeantrag des Beschwerdeführers vom 13.03.2017 wie folgt abgesprochen:

„I.      Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 13.03.2017 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen.

II.      Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wird Ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen.

III.    Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt.

IV.      Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen.

V.       Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.

VI.      Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.“

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Zuerkennung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch nehmen. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstünde.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer im Wege der bevollmächtigten Vertretung fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang.

Zu den Fluchtgründen wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr als „verwestlich“ wahrgenommen und deswegen in asylrelevantem Ausmaß verfolgt würde.

Zur Untermauerung des Vorbringens betreffend Asylrelevanz und schlechter Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan wird höchstgerichtliche Judikatur und aus UNHCR-Richtlinien und Berichten zur Lage in Afghanistan zitiert.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne familiäre bzw. soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan nicht zumutbar.

Zu berücksichtigen sei auch die Integrationsverfestigung des Beschwerdeführers.

Der Beschwerde wurden integrationsbescheinigende Unterlagen beigelegt.

6.1. In der Folge wurden weitere integrationsbescheinigende Unterlagen sowie medizinische Beweismittel vorgelegt.

6.2. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 25.03.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein seiner bevollmächtigten Vertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Person, den Lebensumständen in Afghanistan und im Iran, den Fluchtgründen sowie zum Privat- und Familienleben in Österreich befragt.

Zur Untermauerung des Vorbringens wurden integrationsbescheinigende Unterlagen sowie medizinische Beweismittel vorgelegt.

Als Zeugin wurde die nach islamischem Ritus traditionell geehelichte L.A. einvernommen.

Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Die Richterin brachte die nachstehend angeführten Unterlagen in das Verfahren ein:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020

-        Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018

-        EASO-Guidance Note zu Afghanistan von 2018, 2019 und 2020

-        Bericht von EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen), Arbeitsübersetzung der Staatendokumentation des BFA Stand 15.02.2018, zu afghanischen Netzwerken, Migration und Urbanisierung, Kontakt mit den Netzwerken nach der Migration und Möglichkeit der Ansiedlung in städtischen Zentren ohne Netzwerk

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        Analyse der Staatendokumentation „Informationen zu sozioökonomischen und sicherheitsrelevanten Faktoren in der Provinz Balkh“ vom 21.7.2020

-        ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban; Stigmatisierung) vom 05.06.2020 (ACCORD)

Im Anschluss wurden die Verhandlungsschrift und die vorgelegten Unterlagen der belangten Behörde zur Kenntnis gebracht.

Die belangte Behörde hat sich dazu nicht geäußert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu Person und individuellen Umständen im Hinblick auf den Herkunftsstaat

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft des Islam.

Als Geburtsdatum wird der XXXX angenommen.

Er verfügt über kein Reisedokument und hat auch nie eines besessen.

Der Beschwerdeführer wurde in XXXX geboren. Vor der Ausreise in den Iran im Jahr 2011 hat er in XXXX , XXXX gelebt.

Er hat sieben Jahre lang die Schule besucht und bei seiner Familie in einem Mietshaus gelebt. Sein Vater hat ein Lebensmittelgeschäft besessen. Nach der Schule hat der Beschwerdeführer manchmal seinem Vater im Geschäft geholfen.

Im Iran hat der Beschwerdeführer als Schuhmacher gearbeitet.

Er beherrscht die Sprache Dari in Wort und Schrift.

Der Beschwerdeführer ist im erwerbsfähigen Alter. Er befindet sich zwar in psychotherapeutischer Behandlung aufgrund einer depressiven Störung, leidet aber sonst nicht an einer wesentlichen Beeinträchtigung seines Gesundheitszustandes und ist grundsätzlich anpassungsfähig sowie in der Lage einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Es liegen keine überzeugenden Anhaltspunkte vor, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan auf ein effektives soziales bzw. familiäres Netz zurückgreifen kann.

Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Der Beschwerdeführer kann in seine Heimatprovinz zurückkehren sowie auf die Übersiedlung in andere Landesteile Afghanistans, insbesondere Mazar-e Sharif, als innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden. Die Sicherheits-, sowie Versorgungs- und Wirtschaftslage in XXXX und Mazar e Sharif ist ausreichend, dass es dem Beschwerdeführer möglich ist, dort ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Außergewöhnliche, in der Person des Beschwerdeführers gelegene, Umstände, die dem entgegenstehen, sind nicht hervorgekommen.

1.2. Zum Leben in Österreich

Der Beschwerdeführer ist unter Umgehung der Einreisevorschriften am nach Österreich gelangt und stellte am 27.12.2013 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher rechtskräftig abgewiesen wurde.

Der Folgeantrag vom 04.01.2016 wurde wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und eine Rückkehrentscheidung erlassen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom BVwG abgewiesen.

Am hat er 13.03.2017 neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Der Beschwerdeführer hat im Mai 2019 in Österreich die L.A. kennengelernt und diese am 12.09.2020 nach traditionellem islamischem Ritus geheiratet. L.A. hat einen Sohn, M.A., aus erster Ehe. Der Kindesvater, nach den Angaben der L.A. ein afghanischer Staatsbürger, dem in Österreich Asylstatus zuerkannt wurde, ist bereits im Jahr 2017 verstorben.

Die L.A. ist afghanische Staatsbürgerin, hält sich seit April 2016 in Österreich auf und ist im Besitz einer Rot-Weiß-Rot-Karte Plus. Sie hat in Österreich nie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. M.A. wurde am XXXX geboren und besitzt nach seinem Vater die österreichische Staatsbürgerschaft.

Der Beschwerdeführer, L.A. und M.A. leben seit der Eheschließung im gemeinsamen Haushalt.

Zwischen M.A. und dem Beschwerdeführer besteht eine enge Bindung, die einem Verhältnis zwischen Vater und Sohn gleicht.

In Österreich leben fünf Onkel des Beschwerdeführers, mit denen er in telefonischem Kontakt steht. Finanzielle Abhängigkeit besteht nicht.

Der Beschwerdeführer ist Mitglied zweier Fußballmannschaften und hat sich einen österreichischen Freundeskreis aufgebaut.

Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich bereits gut integriert.

Der Beschwerdeführer verfügt über fortgeschrittene Deutschkenntnisse, belegt sind Kenntnisse auf dem Niveau B1 sowie Werte- und Orientierungswissen (Zertifikat des ÖIF, Prüfung am 24.08.2020 bestanden).

Am 24.02.2017 hat er den Pflichtschulabschluss nachgeholt.

Der Beschwerdeführer bestreitet seinen Lebensunterhalt in Österreich aus staatlicher Unterstützung (Grundversorgung). Er verfügt über eine Einstellungszusage für eine unbefristete Stelle als Küchenhilfe im Ausmaß einer Vollzeitbeschäftigung, sofern ihm eine Arbeitserlaubnis erteilt wird.

Er hat ehrenamtlich im Bildungsprojekt XXXX , für das Magistrat der Stadt Wien und in einem Altersheim gearbeitet.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Zum Fluchtvorbringen

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine landesweite Verfolgung wegen eines Konventionsgrundes in asylrelevantem Ausmaß.

Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan keine staatliche Verfolgung. Er war in seinem Herkunftsstaat auch weder politisch tätig noch gehörte er einer politischen Partei an. Er hatte keine Probleme mit den afghanischen Behörden aufgrund seiner Rasse, seines Glaubens oder seiner Volksgruppe.

Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan aktuell weder landesweite konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgung durch regierungsfeindliche Gruppen, noch durch Privatpersonen.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine psychische und/oder physische Gewalt aufgrund seines Aufenthaltes im Iran und in Europa, wegen einer ihm unterstellten Moral- und Wertehaltung, welche nicht jener in Afghanistan vorherrschenden entspricht. Eine allgemeine systematische Verfolgung aller Rückkehrer durch die Taliban bzw. regierungsfeindliche Gruppen, kann auf Basis der Quellenlage nicht erkannt werden.

Auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan lässt sich konkret für den Beschwerdeführer kein Status eines Asylberechtigten ableiten.

Es haben sich im Verfahren keine hinreichend sicheren Anhaltspunkte für eine wohlbegründete Furcht des Beschwerdeführers, dass ihm in Afghanistan individuell und aktuell Verfolgung droht, ergeben.

Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020, ergänzt um

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)

-        EASO-Bericht Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020 (EASO August 2020)

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) Anmerkung: Von den hier angeführten Einschätzungen geht EASO auch in seiner Country Guidance von Dezember 2020 nicht maßgebend ab.

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Aktuell wurden in den 34 Provinzen 41.032 COVID-Fälle registriert, wobei sich 34.217 Personen erholt haben und 1.523 Personen verstorben sind (OCHA-WHO: Afghanistan Strategic Situation Report COVID 19 No. 82 28.Oktober 2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.09.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020).

In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020).

In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Dazu WHO, auszugsweise:

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 20 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf., einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren.

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu(SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.03.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA27.7.2020)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

ÖffentlichkeitswirksameAngriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dha- ramshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020 vgl.; BBC 25.3.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haq- qani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 6.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölk

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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