TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/4 W265 2206984-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.05.2021
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Entscheidungsdatum

04.05.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W265 2206984-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.09.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. und III. gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 Z 1 und 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG wird der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt IV. stattgegeben und festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

III. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

IV. Die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. VERFAHRENSGANG:

1. Der Beschwerdeführer stellte nach gemeinsamer Einreise mit einem Cousin und dessen Familie am 06.02.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Er wurde aufgrund seines jungen Alters nicht erstbefragt.

2. Am 10.04.2018 wurde der minderjährige Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Zu seinen persönlichen Verhältnissen gab er dabei im Wesentlichen an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, Hazara und schiitischer Muslim. Er sei im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Parwan geboren, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Er habe fünf Jahre die Grundschule besucht und nicht gearbeitet. Sein Vater betreibe eine eigene Landwirtschaft. Seine Eltern, fünf Schwestern und zwei Brüder würden noch in Afghanistan leben. Drei Schwestern seien noch bei seinen Eltern im Heimatdorf, zwei Schwestern seien in Kabul verheiratet und von seinen Brüdern wisse er nicht genau, wo sie sich derzeit aufhalten würden. Er habe auch Tanten und Onkel in Afghanistan, darunter eine Tante mütterlicherseits in Mazar-e Sharif. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen vor.

Zu seinem Fluchtgrund führte der minderjährige Beschwerdeführer zusammengefasst aus, von zuhause bis zur Schule habe er jeden Tag eine Stunde gehen müssen. In der Gegend seien die Taliban und andere Mafiatruppen sehr aktiv gewesen, die einen Schulbesuch als „unislamisch“ angesehen hätten. Alle Schulen in der Gegend seien unsicher und ein regelmäßiger Schulbesuch sei unmöglich gewesen. Eines Tages, als er mit zwei Schulfreunden auf dem Heimweg gewesen sei, seien sie von sechs bis sieben unbekannten, maskierten und bewaffneten Männern aufgehalten worden. Diese hätten gesagt, dass sie ihn und seine Familie sehr gut kennen würden. Sie hätten wissen wollen, wo seine beiden Brüder seien. Er habe gesagt, dass er es nicht wisse. Sie hätten ihm dann gesagt, dass er zuhause bleiben müsse. Wenn sie ihn noch einmal in dieser Gegend sehen bzw. mitbekommen würden, dass er weiterhin die Schule besuche, würden sie ihn umbringen. Er habe große Angst gehabt und seinen Eltern davon erzählt. Danach sei er zuhause geblieben. Zudem gebe es in ihrem Dorf und in den Nachbardörfern keine Geschäfte, sie hätten daher nicht nur in ihrem Dorf bleiben können. An der Strecke nach Kabul gebe es Kontrollposten der Taliban. Vor drei oder vier Jahren hätten die Taliban seinen Heimatdistrikt erobert, sein Dorf sei das einzige gewesen, welches sie aufgrund des Widerstands der Dorfbewohner nicht erobern hätten können. In diesem Dorf würden nur Hazara und Schiiten leben. Seither seien die Bewohner des Dorfes große Feinde der Taliban. Wenn ein Dorfbewohner von den Taliban kontrolliert werde, werde er sofort umgebracht. Seine Brüder hätten aus demselben Grund das Dorf verlassen. Rund eine Woche nach der Begegnung mit den Taliban habe ihn sein Vater zu seiner Tante nach Mazar-e Sharif geschickt, von wo aus er mit seinem Cousin zusammen ausgereist sei. Sein ältester Bruder habe als Lkw-Fahrer für die Truppen der ISAF gearbeitet, sein Lkw sei mehrmals angegriffen und er sei dabei auch verletzt worden.

3. Mit Eingabe vom 23.04.2018 erstattete der Beschwerdeführer durch seine gesetzliche Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, er habe in Anbetracht seines jugendlichen Alters ein hinreichend substantiiertes Vorbringen erstattet. Er habe die verfahrensrelevanten Sachverhalte lebensnah geschildert und die Fragen des Bundesamtes schlüssig und nachvollziehbar beantwortet. Seine Furcht vor Verfolgung knüpfe an mehreren Konventionsgründen an und werde in ihrer Gesamtheit als asylrelevant zu betrachten sei. Der Beschwerdeführer erfülle mehrere Risikoprofile iSd UNHCR-Richtlinien. Er laufe Gefahr, aufgrund seiner Religion und Volksgruppenzugehörigkeit diskriminiert sowie zusätzlich aufgrund seines jugendlichen Alters von den Taliban verfolgt zu werden. Der afghanische Staat sei nicht in der Lage, ihn zu schützen. Bei einer Rückkehr wäre er auch aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes sowie seiner inneren Gesinnung, die durch seinen weltoffenen und wissbegierigen Charakter zum Vorschein trete, als als „verwestlicht“ wahrgenommene Person gefährdet. Jedenfalls stehe ihm keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Es wurde auf Länderberichte zu Zwangsrekrutierungen, zur Situation von Hazara und Schiiten und zu den Lebensbedingungen in Afghanistan verwiesen.

4. Mit Schreiben vom 05.07.2018 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer aktualisierte Länderinformationen und räumte ihm die Möglichkeit einer Stellungnahme ein.

5. Mit Eingabe vom 20.07.2018 erstattete der Beschwerdeführer durch seine gesetzliche Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan weiter verschlechtert habe. Eine Selbsterhaltungsfähigkeit des Beschwerdeführers sei unter Berücksichtigung der aktuellen Länderinformationen auszuschließen. Zur Situation von Rückkehrern und deren Lebensbedingungen wurde auf ein Gutachten von Friederike STAHLMANN vom 28.03.2018 verwiesen. Der Beschwerdeführer wäre mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der realen Gefahr ausgesetzt, in eine existenzbedrohliche Lage zu geraten und ihm sei daher ungeachtet der Beurteilung des Fluchtvorbringens zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

6. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 03.09.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die vom Beschwerdeführer angegeben Gründe für das Verlassen des Heimatlandes seien unglaubwürdig. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Taliban tatsächliches Interesse an seiner Person gehabt hätten oder dass er persönlich aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit Probleme gehabt hätte. Es stehe fest, dass er sein Heimatland aufgrund der vorherrschenden Sicherheitslage verlassen habe. Seine Heimatprovinz Parwan sei relativ sicher und sicher erreichbar. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass ihm im Herkunftsland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen gewesen oder er bei einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Notlage gedrängt würde. Er verfüge über Angehörige in Afghanistan und könne daher Unterstützung bekommen. Er sei wirtschaftlich genügend abgesichert und könne für seinen Unterhalt grundsätzlich sorgen.

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine gesetzliche Vertretung mit Eingabe vom 02.10.2018 fristgerecht Beschwerde und führte darin im Wesentlichen aus, die Behörde habe keine ganzheitliche Würdigung seines individuellen Vorbringens vorgenommen. Schiitische Hazara seien weiterhin Opfer von Verfolgung und eine spezielle Zielscheibe regierungsfeindlicher Gruppierungen, weshalb er aufgrund seiner Ethnie und Religion in Afghanistan einer Verfolgung unterliege. Zudem sei der Faktor, dass der Beschwerdeführer sich nunmehr seit längerer Zeit im europäischen Ausland aufgehalten habe, unzureichend berücksichtigt worden. Auch die Behörde attestiere ihm eine vorbildliche Integration, habe sich aber nicht damit auseinandergesetzt, ob eine tiefgreifende Änderung seiner Überzeugung betreffend die Verinnerlichung westlicher Werte vorliege. Dem Beschwerdeführer werde es nicht möglich sein, in den von den Taliban belagerten Heimatort seiner Familie zurückzukehren. Er wäre daher als Minderjähriger völlig auf sich allein gestellt und hätte keinen Zugang zu sicherer und ausreichender Unterkunft, existenzsichernder Arbeit und Grundversorgung. Unter diesen Umständen wäre eine IFA in Kabul nicht nur unzumutbar, sondern sogar mit einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK verbunden. Die Beweiswürdigung betreffend das Fluchtvorbringen sei in näher dargestellten Punkten mangelhaft. Dem Beschwerdeführer drohe Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der jungen Männer im wehrfähigen Alter, der sozialen Gruppe der Familie wegen der Tätigkeit seines Bruders für die ISAF, aufgrund seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie seiner westlichen Gesinnung.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 04.10.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

9. Mit Eingabe vom 14.06.2019 erstattete der Beschwerdeführer durch seine gesetzliche Vertretung eine Beschwerdeergänzung, in der im Wesentlichen vorgebracht wurde, dass sein Vater Ende Mai im Zuge eines Aufenthaltes in Kabul bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen sei. Aufgrund dieses Vorfalles hätten sich die Lebensumstände seiner Familie in Afghanistan erneut massiv verschlechtert. Die weitere finanzielle Versorgung der Familie sei nunmehr gänzlich unklar. Die Mutter des Beschwerdeführers sei auf sich alleine gestellt, da beide Brüder nicht mehr im Heimatdorf leben würden und ansonsten keinerlei Hilfe zu erwarten sei. Die Versorgungslage der Familie des Beschwerdeführers sei nunmehr jedenfalls existenzbedrohend, weshalb auch er im Fall seiner Rückkehr in eine solche Lage kommen würde, was eine Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK bedeuten würde.

10. Mit Eingabe vom 11.03.2020 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX vom selben Tag, wonach ein gegen den Beschwerdeführer geführtes Ermittlungsverfahren wegen § 83 StGB eingestellt worden sei.

11. Mit Eingabe vom 10.07.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine gesetzliche Vertretung Integrationsunterlagen vor und urgierte eine Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht.

12. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W167 abgenommen und der Gerichtsabteilung W265 neu zugewiesen, wo diese am 03.02.2021 einlangte.

13. Mit Eingabe vom 08.04.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen und Unterstützungsschreiben vor und beantragte die Einvernahme von XXXX als Zeugin zu seiner Integration und seinem Privatleben in Österreich.

14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 09.04.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen und zur Situation in Fall seiner Rückkehr befragt wurde. Der Beschwerdeführer legte eine Zusage für einen Praktikumsplatz vor. Das Bundesverwaltungsgericht brachte aktuelle Länderberichte in das Verfahren ein und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, dazu eine Stellungnahme abzugeben.

Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

15. Zu den in der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebrachten Länderberichtsmaterial langte im Wege der Vertretung eine schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. FESTSTELLUNGEN:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde, der Beschwerdeergänzung, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers, zu seinen persönlichen Umständen in Afghanistan, seiner Ausreise und zu seinem gesundheitlichen Zustand:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX (auch XXXX ). Er wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Parwan geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise.

Er ist Staatsangehöriger Afghanistans, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und wuchs als schiitischer Muslim auf. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.

Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan fünf Jahre lang die Grundschule und ging keiner Arbeit nach. Er half in der Landwirtschaft seiner Familie mit.

Der Vater des Beschwerdeführers ist vor ca. zwei Jahren verstorben. Seine Mutter, ein Bruder und drei Schwestern leben noch im Heimatdorf. Die Familie lebt von der Landwirtschaft und besitzt Grundstücke. Zwei Schwestern sind verheiratet und leben mit ihren Männern in Kabul. Ein zweiter Bruder kommt sporadisch nachhause. Der Beschwerdeführer hat unregelmäßigen Kontakt zu seiner Familie.

Eine Tante mütterlicherseits des Beschwerdeführers lebt in der Stadt Mazar-e Sharif.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Er verließ Afghanistan Ende 2015 gemeinsam mit einem Cousin mütterlicherseits und dessen Familie und stellte am 06.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Bei ihm handelt es sich um einen jungen Mann im arbeitsfähigen Alter, dem eine grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben zuzumuten ist. Er wuchs mit seiner afghanischen Familie im Familienverband auf und wurde damit in Afghanistan sozialisiert.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan individuell und konkret die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt durch die Taliban oder andere regierungsfeindliche Gruppen droht. Ihm droht auch keine Zwangsrekrutierung durch diese.

Der Beschwerdeführer übt den muslimisch-schiitischen Glauben derzeit nicht aus und hat sich emotional von ihm distanziert. Der Beschwerdeführer hat jedoch nicht aus innerer Überzeugung und als identitätsstiftendes Merkmal seine Religionszugehörigkeit aufgegeben und abgelegt. Ihm droht in Afghanistan nicht die Gefahr, auf Grund eines (allenfalls unterstellten) Abfalls vom Islam physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein.

Dem Beschwerdeführer droht nicht alleine wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Religion konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Ebenso wenig ist jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion in Afghanistan alleine aufgrund dieses Merkmals zwangsläufig physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keiner physische und/oder psychische Gewalt ausgesetzt. Er hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und ihn in Afghanistan als Mann exponieren würde.

Der Beschwerdeführer hätte im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls die Möglichkeit, in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und zu leben.

1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und ist seit seiner Antragstellung am 06.02.2016 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig.

Der Beschwerdeführer besuchte von 2016 bis 2019 als außerordentlicher Schüler die Neue Mittelschule XXXX . Von 20.01.2020 bis 11.05.2020 nahm er an den „Boardingkursen“ des XXXX im Ausmaß von 230 Unterrichtseinheiten teil. Seit 14.09.2020 absolviert er darauf aufbauend den Vorbereitungskurs zum Pflichtschulabschluss. Drei Teilprüfungen des Pflichtschulabschlusses hat er im Jänner/Februar 2021 absolviert, im Fach „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ wurde er mit „Gut“ beurteilt. Die ausständigen drei Teilprüfungen finden im Juni 2021 statt. Er verfügt mittlerweile über gute Deutschkenntnisse.

Der Beschwerdeführer lebte ab 2016 in einer Wohngemeinschaft des Kinderzentrums XXXX in XXXX . Seit Sommer 2020 lebt er aufgrund seiner Volljährigkeit in einer eigenen, vom Kinderzentrum mitbetreuten Wohnung.

Ihm wurde von einem Sportgeschäft schriftlich ein Praktikumsplatz mit Aussicht auf eine Lehrstelle für den Fall der positiven Absolvierung des Pflichtschulabschlusses zugesagt.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich viele Freunde und Bekannte gefunden und ein enges Verhältnis zu mehreren seiner Betreuer aufgebaut. Er führt seit zwei Jahren eine Beziehung. In seiner Freizeit trainiert er Boxen, spielt Fußball, geht laufen, wandern und Schifahren. Er besucht seit 2016 regelmäßig das Jugendzentrum XXXX , mit dem er auch Ausflüge unternimmt. In Österreich lebt auch ein Cousin mütterlicherseits des Beschwerdeführers als Asylberechtigter, den er regelmäßig besucht.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr an seinen Herkunftsort in der Provinz Parwan aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde (siehe die folgenden Feststellungen unter 1.5.1.4.).

Dem Beschwerdeführer steht jedoch als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm auch unter Berücksichtigung der Folgen der aktuellen COVID-19-Pandemie möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können, zu leben. Die Gefahr, in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, besteht nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, weshalb ihm im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan kein Eingriff im Sinne des Art. 2 und Art. 3 EMRK in seine körperliche Unversehrtheit droht.

Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Er ist im afghanischen Familienverband aufgewachsen, sohin mit den sozialen und kulturellen Gepflogenheiten vertraut, spricht die Landessprache Dari und verfügt über fünfjährige Schulbildung. Er verfügt auch nach wie vor über Angehörige in Form seiner Mutter und sieben Geschwister in Afghanistan, zu denen er, wenn auch unregelmäßig, Kontakt hat. In Mazar-e Sharif lebt eine Tante mütterlicherseits des Beschwerdeführers.

Festgestellt wird, dass auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen einer relevanten physischen Vorerkrankung keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 01.04.2021 (LIB), in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR) und den EASO-Leitlinien zu Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.5.1.  Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (LIB, Kapitel 4).

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind (LIB, Kapitel 4).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (LIB, Kapitel 5).

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15 % (21 % laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel 5).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (LIB, Kapitel 5)

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wiederaufgenommen worden (LIB, Kapitel 4)

1.5.1.2. COVID-19

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35 % der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (LIB, Kapitel 3).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (LIB, Kapitel 3).

Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (LIB Kapitel 3).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (LIB, Kapitel 3).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (LIB, Kapitel 3).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (LIB, Kapitel 3).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (LIB, Kapitel 3).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20 % der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde. Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20 % der Bevölkerung finanzieren würden (LIB, Kapitel 3).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 6 0% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (LIB, Kapitel 3).

1.5.1.3 Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

Taliban:

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt, und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können. Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (LIB, Kapitel 6.1).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LIB, Kapitel 6.1).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40% zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (LIB, Kapitel 6.1).

Rekrutierung durch die Taliban

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban, enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta /Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich. Die UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (LIB, Kapitel 6.5).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren, wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden. Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LIB, Kapitel 6.5).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LIB, Kapitel 6.5).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LIB, Kapitel 6.5).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden. Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LIB, Kapitel 6.5).

Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LIB, Kapitel 6.5).

Haqqani-Netzwerk:

Das formell 1996 gegründete Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Es verfügt über Kontakte zum IS/ISKP. Als von den US-Truppen und der afghanischen Armee als „tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan“ bzw. „gefährlichster“ Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht. Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika, Helmand, Kandahar und Khost sowie in Paktia und Teilen Ghaznis aktiv (LIB, Kapitel 6.2).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfer reduziert (LIB, Kapitel 6.3).

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck, da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region. Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen, wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. (LIB, Kapitel 6.3).

Angriffe des ISKP gingen zurück, aber die Gruppe war für mehrere tödliche Bombenanschläge verantwortlich. Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB; Kapitel 6.3).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Kapitel 6.3).

Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche. Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al-Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (LIB, Kapitel 6.3).

Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen

Gemäß UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in 12 Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv. Al-Qaida unterhält Beziehungen zu den Taliban und eine begrenzte Präsenz in Afghanistan, wobei sie ihre Aktivitäten meist unter dem Dach anderer AGEs, insbesondere der Taliban, durchführt. Nach Ansicht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen stellen Al-Qaida und andere ausländische Terroristen, die unter dem Schutz und Einfluss der Taliban stehen, eine langfristige globale Bedrohung dar. Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten, bestritten die Taliban kürzlich, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert. Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (LIB, Kapitel 6.4).

Im Oktober 2020 wurde der ranghohe Al-Qaida-Chef Abu Muhsin al-Masri von einer Spezialeinheit der afghanischen Streitkräfte in Ghazni in einem Dorf, welches unter Talibankontrolle steht, getötet. Die afghanische Regierung sieht darin einen eindeutigen Beweis, dass die Taliban ungeachtet der laufenden Friedensverhandlungen nach wie vor enge Beziehungen zu Terrorgruppen pflegen, und nach Angaben der Vereinten Nationen ist Al-Qaida immer noch stark in die Taliban in Afghanistan eingebettet. Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen LIB, Kapitel 6.4).

1.5.1.4. Herkunftsprovinz Parwan

Parwan liegt im zentralen Teil Afghanistans. Die Provinz grenzt an Baghlan im Norden, Panjshir und Kapisa im Osten, Kabul und Wardak im Süden und Südosten und Bamyan im Westen. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Bagram, der Provinzhauptstadt Charikar, Syahgird (oder Ghurband), Jabulussaraj, Koh-e-Safi, Salang, Sayyid Khel, Shaykh Ali, Shinwari und Surkhi Parsa. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Parwan im Zeitraum 2020/21 auf 737.700 Personen. Ethnische Gruppen in der Provinz umfassen Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Qizilbash, Kutschi und Hazara. Die Zahl der Dari-Sprecher ist etwa 2,5 mal höher als die der Paschtu-Sprecher.

Ein Abschnitt der Ring Road führt durch die Distrikte Charikar, Jabulussaraj und Salang. Der auf dieser Strecke liegende 2,7 km lange Salang-Tunnel zwischen den Provinzen Parwan und Baghlan ist die einzige Straßenverbindung Kabuls mit Nordafghanistan. Die Zulaufstrecken sind in schlechtem Zustand und die Straßenerhaltungsarbeiten mangelhaft. Es kommt häufig zu Unfällen und zu Sperren aufgrund von Lawinenabgängen. Im Zuge des Trans-Hindukush Road Connectivity Project wird die Straße über den Salang-Pass mitsamt dem Tunnel bis 2022 renoviert werden.

Eine weitere Hauptverbindungsstraße verbindet Parwan mit der Nachbarprovinz Bamyan und verläuft durch das Ghorband-Tal und die Distrikte Charikar, Jabalussaraj, Shinwari, Syahgird, Shaykh Ali zum Shibar-Pass. Diese Straße ist asphaltiert und in gutem Zustand. Daran anschließend wird die derzeit unbefestigte, 152 km lange Sekundärstraße zwischen Baghlan und Bamyan (auch: B2B-Straße) asphaltiert und als Ausweichroute für den Salang-Pass ausgebaut.

Die Luftwaffenbasis Bagram, die größte NATO-Militärbasis in Afghanistan, befindet sich in der Provinz Parwan. Vor 2014 resultierten 80 % der Wirtschaftsleistung der Stadt Bagram aus der Luftwaffenbasis und mehr als 3.000 lokale Arbeitnehmer waren dort beschäftigt. Aufgrund von Sicherheitsbedenken und der Reduktion der Truppenstärke wurden ab 2014 die meisten afghanischen Arbeiter durch ausländische Auftragnehmer ersetzt. Die Anwesenheit der Luftwaffenbasis Bagram hat gemäß Aussagen der lokalen Bevölkerung negative Auswirkungen auf die Sicherheitslage im Distrikt. Es kommt zu Angriffen auf die Basis durch den Islamischen Staat und die Taliban und auch afghanische Arbeiter auf der Basis werden angegriffen.

Im Mai 2019 wurde die Provinz Parwan zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans gezählt. Im Juni 2019 wurde berichtet, dass sich die Sicherheitslage in manchen Distrikten der Provinz in den vergangenen Jahren verschlechtert hätte. Für 2020 wird die Sicherheitslage in der Provinz Parwan als „nicht stabil“ bezeichnet. Aufständische, insbesondere Taliban, sind in den Distrikten Siya Gird, Shinwari, Koh-e-Safi und Bagram präsent. Die Präsenz der Taliban im Distrikt Koh-e-Safi wurde im Juli 2020 als zwar klein, jedoch wachsend angegeben.

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Parwan im Verantwortungsbereich des 201. ANA Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - Ost (TAAC-E) untersteht, welches vorwiegend aus US-amerikanischen und polnischen Truppen besteht.

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 76 zivile Opfer (47 Tote und 29 Verletzte) in der Provinz Parwan. Dies entspricht einem Rückgang von 69 % gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von Bodenkämpfen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate). In der Provinz werden Sicherheitsoperationen und Luftschläge durch die afghanischen Sicherheitskräfte durchgeführt. Auch kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und afghanischen Streitkräften. Es kommt zu Angriffen durch Aufständische auf Kontrollpunkte der Sicherheitskräfte entlang der Fernstraßen.

In der Provinz Parwan kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, 3.3).

1.5.1.5. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (LIB, Kapitel 5.5).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1.509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi), sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (LIB, Kapitel 5.5).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul. Rund 30 Kilometer östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab. Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (LIB, Kapitel 5.5)

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen. Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari umkämpft waren. Im Jahr 2020 gehörte Balkh zu den konfliktreichsten Provinzen des Landes, und in der Hauptstadt und den Distrikten kommt es weiterhin zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird. Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (LIB, Kapitel 5.5.).

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (lEDs; ohne Selbstmordattentate) (UNAMA 2.2021). Ungeachtet der Friedensgespäche finden weiterhin sicherheitsrelevante Vorfälle in der Hauptstadt und den Distrikten statt (LIB, Kapitel 5.5).

Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen. Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften (LIB, Kapitel 5.5).

In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und im Bezirk Marmul findet wahllose Gewalt auf einem so niedrigen Niveau statt, dass im Allgemeinen kein wirkliches Risiko besteht, dass ein Zivilist davon persönlich betroffen ist, sofern bei diesem nicht individuelle Risikofaktoren bestehen (EASO, Common analysis: Afghanistan, 3.3, 5.).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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