TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/14 W154 2154246-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.05.2021
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Entscheidungsdatum

14.05.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
IntG §11
IntG §9

Spruch


W154 2154246-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. KRACHER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.4.2017, Zl. 1081553400 - 151029794, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des bekämpften Bescheides gemäß §§ 3, 8 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Die Spruchpunkte III. und IV. des bekämpften Bescheides werden behoben und ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.

III. Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 iVm §§ 9 und 11 Integrationsgesetz wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 5.8.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am 7.8.2015 statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) am 25.1.2017.

1.1. Im Rahmen seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erklärte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zunächst, aus Uruzgan zu stammen, traditionell verheiratet, Analphabet, Hazara und zuletzt als Schneider tätig gewesen zu sein. Seine Muttersprache sei Dari. Er habe zwei minderjährige Kinder, das Sorgerecht teile er sich mit seiner Gattin.

Das Grundstück seines mittlerweile verstorbenen Vaters hätte er nicht erben können, weil die Nachbarn Ansprüche darauf gestellt hätten und er nach Pakistan geflüchtet sei.

Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor, nach dem Tod seiner Eltern habe er aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Afghanistan bleiben können und sei nach Pakistan geflüchtet. Außerdem würden die Hazara von den Taliban verfolgt und getötet. In Pakistan habe er wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit auch nicht bleiben können, weil die Hazara dort verfolgt und getötet würden. Daher sei er auch aus Pakistan geflüchtet, um sich und seiner Familie eine bessere und sicherere Zukunft zu ermöglichen.

1 2. Anlässlich seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde erklärte der Beschwerdeführer zunächst, gesund, afghanischer Staatsangehöriger, Hazara sowie schiitischen Glaubens zu sein und legte eine afghanische Tazkira vor.

Im Bundesgebiet habe er weder Verwandte noch persönliche Beziehungen.

Geboren und aufgewachsen sei der Beschwerdeführer in einem näher genannten Dorf im Distrikt Khas Uruzgan in der Provinz Uruzgan. Schule habe er keine besucht, sondern im Alter von zwölf Jahren begonnen, als Schneider zu arbeiten. Gelebt habe er bei seinen Eltern, vor ca. siebeneinhalb Jahren sei sein Vater verstorben, vor ca. vier bis viereinhalb Jahren die Mutter. Vor seiner Ausreise vor ungefähr viereinhalb Jahren habe er gemeinsam mit seiner Mutter, seiner Frau und seiner Tochter im selben Haus gelebt, zwei Monate nach der Ausreise sei seine Mutter verstorben. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn seien nun Flüchtlinge in Pakistan, seine Gattin arbeite als Schneiderin. Die Ehe sei vor einem Mullah in der Moschee geschlossen worden.

Auch der Beschwerdeführer selbst sei in Quetta, Pakistan als Schneider tätig gewesen. Wegen seines illegalen Aufenthalts habe ihn dort immer wieder die Polizei aufgehalten und er Geld für seine Freilassung bezahlen müssen. Auch seine Familie, die sich noch immer in Pakistan befinde, sei dort nicht registriert.

Pakistan habe der Beschwerdeführer deswegen verlassen, weil sich Schiiten und Hazara dort nicht frei bewegen könnten und terroristische Gruppierungen Hazara umbrächten. Er selbst sei auf dem Weg zur Arbeit und nach Hause immer von Pakistani, die Mitglieder von Gruppierungen gewesen wären, aufgehalten worden. Am 16.6.2015 habe er Pakistan verlassen, seine Familie lebe dort noch immer in einem Haus.

Zu seinen Asylgründen brachte der Beschwerdeführer vor, nach dem Tod seines Vaters hätten ihm Leute einer terroristischen Gruppierung das Leben schwergemacht. Sie hätten verlangt, dass der Beschwerdeführer das Grundstück seines Vaters auf ihren Namen umschreibe. Diese Leute seien auch in sein Geschäft gekommen und hätten verlangt, dass er auf ihre Waffen aufpasse. Der Beschwerdeführer habe Angst um sein Leben bekommen und zwar einerseits wegen dieser Leute und andererseits wegen der Regierung, wenn sie die Waffen in seinem Geschäft entdeckt hätte. Deswegen habe er Afghanistan verlassen. Dies seien alle Fluchtgründe.

Die Leute der terroristischen Gruppe hätten ihn nach dem Tod seines Vaters bedroht und unter Druck gesetzt. Sie hätten behauptet, dass sein Vater Geld von ihnen ausgeliehen und nicht zurückgegeben hätte. Wenn der Beschwerdeführer das Grundstück nicht überschreibe, würden sie ihn schlagen. Diese Leute hätten auch gewollt, dass er auf ihre Waffen aufpasse. Da er nicht gewusst habe, was er machen solle, habe er wie verlangt den Zettel unterschrieben, die Waffen eine Nacht lang in seinem Geschäft gelagert und sei anschließend geflüchtet. Gekannt habe der Beschwerdeführer diese Personen nicht. Dass es sich um Mitglieder einer terroristischen Gruppe handle wisse er, weil sie immer bewaffnet gewesen seien. Wenn er das nicht getan hätte, was sie verlangt hätten, hätten sie ihn geschlagen. Zwischen dem Tod des Vaters und der Bedrohung sei ca. ein Jahr vergangen, sein Geschäft habe sich in der Nähe des Dorfes befunden, das Grundstück des Vaters im Distrikt Uruzgan. Wo genau wisse er nicht, aber sein Vater habe ihm erzählt, dass sie ein Grundstück hätten. Ob sein Vater eine Urkunde darüber gehabt habe oder nicht, wisse der Beschwerdeführer nicht.

Ausgereist sei der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Frau. Die Personen, die ihn bedroht hätten, habe er zuvor in anderen Geschäften gesehen, aber mit ihnen nichts zu tun gehabt. Die Waffen habe er sich nicht genau angesehen, dass diese zu ihm gebracht worden seien, erklärte sich der Beschwerdeführer damit, sie hätten niemanden gehabt und die Waffen irgendwo lagern wollen. Es seien drei Personen gewesen, einmal mehr einmal weniger. Drei bis vier Mal hätten sie ihn aufgesucht, auch wegen des Grundstücks. Diesbezüglich habe der Beschwerdeführer gefragt, warum und wie sein Vater Geld von ihnen ausgeliehen hätte, sie hätten ihn immer bedroht, dass er entweder unterschreibe oder geschlagen werde. Geschlagen sei der Beschwerdeführer jedoch nicht worden. Die Personen, welche ihn bedroht hätten, seien nicht aus dem Dorf gekommen, sondern es habe sich um Nomaden, Kutschi, gehandelt.

Nachgefragt, was mit den Waffen passiert sei, antwortete der Beschwerdeführer, sie hätten diese immer in der Nacht gebracht und in der Früh wieder abgeholt. Sie wären mehrmals in seinem Geschäft gewesen, die Waffen hätten sie jedoch nur einmal dagelassen.

Weiters erklärte der Beschwerdeführer, in Österreich von der Grundversorgung zu leben und an zwei Deutschkursen teilzunehmen. Dazu wurden zwei Teilnahmebestätigungen vorgelegt.

2. Mit dem gegenständlichen, im Spruch genannten, Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul in Anspruch nehmen. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde.

Am 8.5.2019 langten beim Bundesverwaltungsgericht eine Teilnahmebestätigung an einem Basisbildungskurs, zwei Bestätigungen über ehrenamtliche Tätigkeiten soie zwei Unterstützungsschreiben für den Beschwerdeführer ein.

4. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.3.2021 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari und eines länderkundigen Sachverständigen für Afghanistan eine mündliche Verhandlung durch.

Dabei erklärte der Beschwerdeführer zunächst, an keinen schweren Krankheiten zu leiden und wurde konkret zu seiner Geburtsregion sowie zur Ausstellung seiner Tazkira befragt. Dabei brachte er auch vor, sein Vater habe die Tazkira bei den Behörden geholt, er selbst sei nicht dabei gewesen. Er habe die Tazkira wegen der Grundstücke ausstellen lassen, es hätte keinen bestimmten Grund gegeben.

In weiterer Folge erklärte er, sein ganzes Leben bis zur Ausreise nur in seinem Heimatort verbracht zu haben, in welchem nur Hazara lebten. Sein Vater sei der Dorfvorsteher gewesen, im Zentrum von Khas Uruzgan hätte sich der Beschwerdeführer niemals aufgehalten. Afghanistan habe er zwischen 2010 und 2011 verlassen, sein Vater sei vor ca. siebeneinhalb Jahren, die Mutter vor ca. vier Jahren verstorben, beide eines natürlichen Todes. Später korrigierte sich der Beschwerdeführer dahingehend, dass sein Vater vor ca. zwölf Jahren und die Mutter vor ca. zehn Jahren gestorben sei. Geschwister habe der Beschwerdeführer keine, die einzigen Familienangehörigen seien seine Frau, sein Sohn und seine Tochter. Sie alle lebten in Pakistan. Geheiratet habe er vor ca. zwölf oder zwölfeinhalb Jahren, seine Tochter sei mittlerweile elf und sein Sohn zehn Jahre alt. Onkel und Tanten gebe es nicht.

In Afghanistan habe der Beschwerdeführer in seiner Region als Schneider gearbeitet und diese Tätigkeit im Alter von zwölf Jahren begonnen. In der Nähe habe er seine Schneiderei gehabt, ca. 15 bis 20 Minuten mit dem Motorrad von zu Hause entfernt. Die Gegend sei Bazar genannt worden. Zuerst habe er den Beruf bei einem Schneider auf dem selben Bazar gelernt und später seine eigene Schneiderei gehabt.

Sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan habe sich der Beschwerdeführer als Schneider seinen Lebensunterhalt verdient.

Nachgefragt wie seine Provinz heiße, antwortete der Beschwerdeführer: „Distrikt Khas Uruzgan“.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde der Beschwerdeführer in Afghanistan durch die Terroristen bedroht. Aufgefordert, dies zu konkretisieren, erklärte er, es gebe eine Gruppierung und diese heiße „Terroristen“. Es gebe eine Gruppe, die sich Taliban nenne, aber er werde durch die Gruppe „Terroristen“ bedroht. Nachgefragt, welche Bezeichnung diese Gruppe trage, antwortete der Beschwerdeführer, sie seien bewaffnet und töteten Menschen. Ihre Bezeichnung kenne er nicht, sie würden einfach „Terroristen“ genannt. Deren Sprache sei Pashtu, Grund für die Bedrohung wäre, dass sie gewollt hätten, dass der Beschwerdeführer ihre Waffen in der Nacht in seinem Geschäft lagere. Dies habe er abgelehnt, weshalb sie ihn bedroht hätten. Wenn er das getan hätte, hätte er von Seiten der Regierung Probleme bekommen. Nachgefragt, ob diese Gruppe nicht ein Teil der Taliban gewesen sei, antwortete der Beschwerdeführer, dies wisse er nicht, sie könnten auch Dari sprechen. In Khas Uruzgan lebten zum größten Teil Pashtunen, Taliban und auch Hazara.

Aus welcher Richtung diese Terroristen gekommen seien, wisse der Beschwerdeführer nicht. Es sei jedoch die einzige Bedrohung gewesen, der er ausgesetzt gewesen sei.

Bei einer Rückkehr bestehe die Gefahr, dass ihn diese Gruppe erwischen und umbringen würde. Grund für die Bedrohung sei, dass er Ihnen nicht erlaubt habe, ihre Waffen in seinem Geschäft zu lagern. Sie hätten ihn bedroht, wenn er ihnen dies nicht gestatte, würden sie ihn umbringen.

Nachgefragt, ob diese Waffenlagerung der einzige Grund für die Verfolgung durch diese Gruppe sei, antwortete der Beschwerdeführer, sein Vater habe Grundstücke gehabt, weswegen es auch Probleme gegeben hätte. Diese Probleme hätte er mit einer anderen Gruppe, nämlich den Kutchis gehabt. Sein Vater habe Grundstücke in Uruzgan besessen. Ein Jahr nach dessen Tod wären Kutchis zum Beschwerdeführer gekommen, hätten ihm ein paar Zettel vorgelegt und ihn aufgefordert, diese zu unterschreiben. Sie hätten behauptet, dass sie seinem Vater früher Geld gegeben hätten und dafür sollten sie jetzt die Grundstücke bekommen. Der Beschwerdeführer habe erwidert, davon nichts zu wissen und gefragt, wann und wo dies passiert sei. Sie hätten ihm keine Antwort gegeben und darauf bestanden, dass er die Zettel unterschreibe. Zudem hätten sie ihn bedroht und gesagt, wenn er das nicht tue, dann würden sie die Grundstücke gewaltsam wegnehmen. Bei einer Rückkehr fürchte der Beschwerdeführer auch die Bedrohung durch diese Gruppe, er hätte dann Probleme mit den Kutchis und den Terroristen.

Nachgefragt, wie weit sein Geschäft von den Grundstücken entfernt gewesen sei, erklärte der Beschwerdeführer, Khas Uruzgan sei ca. drei bis vier Stunden von ihrer Region bzw. ihrem Haus entfernt, das Geschäft wäre nicht weit entfernt von Ihrem Haus gewesen, die Entfernung zwischen dem Geschäft und dem Grundstück sei auch ca. drei bis vier Stunden jeweils mit dem Auto.

Persönlich sei der Beschwerdeführer niemals auf dem Grundstück gewesen, sein Vater wäre immer ein bis zweimal monatlich nach Uruzgan gefahren und der Beschwerdeführer glaube, er hätte einen Landwirt für die Bewirtschaftung und Bewässerung der Grundstücke gehabt. Wie groß das Grundstück gewesen sei wisse der Beschwerdeführer nicht. Sein Vater hätte ihm berichtet, er hätte dort Grund und fahre immer wieder hin. Der Besitz habe aus mehreren Grundstücken bestanden, der Beschwerdeführer hätte ihn aber nicht gefragt, um wie viele es sich gehandelt habe. Wo genau sie sich befunden hätten, wisse der Beschwerdeführer nicht, er sei nicht in Uruzgan gewesen und hätte die Grundstücke auch nicht gesehen. Sein Vater hätte eine Besitzurkunde gehabt, sie ihm aber nicht gegeben. Wer die Grundstücke nach dem Tod des Vaters bearbeitet habe, wisse der Beschwerdeführer nicht, er denke, die Landwirte. Sein Vater hätte ihm erzählt, dass er Landwirte habe und der Beschwerdeführer denke, diese hätten nach dessen Tod die Grundstücke bewirtschaftet. Nach der Flucht habe er keine Nachricht über den Verbleib der Grundstücke mehr erhalten. Es wäre möglich, dass die Kutchis sich zwischenzeitlich die Grundstücke angeeignet hätten.

Nachgefragt, von welcher Gruppierung er die Waffen zur Verwahrung hätte übernehmen sollen, antwortete der Beschwerdeführer, von der „terroristischen Gruppe“.

Beruflich sei sein Vater Grundbesitzer gewesen, in seinem Heimatort hätten sie ein Haus und ein kleines Grundstück gehabt, auf dem sie Weizen angebaut hätten. Er selbst habe seinem Vater auf den Feldern nicht geholfen, weil er zu klein und zu schwach gewesen sei. Feldarbeit sei eine schwierige Arbeit, aufgrund seines Alters hätte er dort nicht arbeiten können.

Die Heimat habe er vor ca. zehn Jahren verlassen, fluchtauslösend sei die terroristische Gruppe gewesen, die ihn unter Druck gesetzt und aufgefordert hätte, nachts ihre Waffen in seinem Geschäft aufzubewahren. Er habe die Waffen nur eine Nacht dort gelagert und in derselben Nacht alles seiner Mutter erzählt, die ihn aufgefordert habe, das Land zu verlassen, weil sein Leben in Gefahr wäre. Wenn die Regierung das mitbekäme, hätte er auch von dieser Seite Probleme.

Im Rahmen dieser Verhandlung erstellte der länderkundige Sachverständige auf Grundlage der Aussagen des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt und der Verhandlung folgende gutachterliche Stellungnahme:

„Zu der familiären Herkunft des BF:

Die Angaben des BF, dass er aus […] und Khas Uruzgan stammt, und anfänglich das Dorf […] auch als Provinz genannt hat, sind nicht authentisch. Daher muss der BF viel früher aus der Region weggegangen sein als im Zeitpunkt, den er als sein Ausreisedatum nennt.

Ich kann nicht bestätigen, ob der BF überhaupt in […] gewesen ist, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass seine Eltern aus Uruzgan stammen könnten. Die Frage des BFA, ob in Brori in Quetta hauptsächlich Hazara wohnen würden, hat der BF verneint. Brori ist ein überwiegend von Hazara bewohnter Bezirk, wo ich mehrmals nachgeforscht habe, da viele Hazara als ihren Fluchtort Pakistan, in Quetta im Bezirk Brori angegeben haben. Sie haben ihren Niederlassungsgrund in Brori so angegeben, dass dort hauptsächlich Hazara wohnten. Hierzu möchte auf folgende Quelle hinweisen: State Agency Hazara Town Brori - Startseite | Facebook

Der BF kennt sich mit Uruzgan nicht aus. Er konnte nach mehrmaliger Befragung nicht die Provinz Uruzgan nennen und hat immer wieder […] als Provinz und schließlich Khas Uruzgan als Provinz angedeutet.

Daher ist es zweifelhaft, ob der BF überhaupt die Gegend kennt. Zudem ist Daikundi ein ehemaliger Distrikt von Uruzgan, in dem hauptsächlich Hazara wohnen und dieser wurde 2004/2005 zur Provinz erhoben, damit die Hazara sich von den Paschtunen trennen und eine eigene Provinz haben. Aber es gibt bestimmte Hazara Dörfer, die in den paschtunischen Distrikten geblieben sind, weil sie von Daikundi entfernt sind. Zwischen den Hazara bzw. Taliban in Khas Uruzgan und deren Dörfer hat es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den Paschtunen- und den Hazarakommandanten gegeben. Der BF konnte über Geschehnisse in Khas Uruzgan nichts erzählen. Es ist auch verwunderlich, dass jemand aus Khas Uruzgan stammt und nicht im Zentrum seines Distriktes gewesen ist. Spätestens bei der Ausstellung seiner Tazkira, er war ja schon 16 Jahre alt, muss er mit seinem Vater oder einem anderen Familienoberhaupt zur Distriksverwaltung gehen und einen Tazkira beantragen. Er wird als Minderjähriger von dem Distrikt-Verwalter in Anwesenheit des Familienoberhauptes angeschaut und dann wird der Distriksbeamte angewiesen, einen Tazkira auszustellen. Daher gehe ich nicht davon aus, dass der BF bei der Ausstellung der Tazkira im Dorf […] gewesen ist. Er wäre von seinem Vater mitgenommen worden. Der BF wusste nicht, wie seine Provinz heißt, das müsste er doch längst aus seiner Tazkira erlesen. Oben auf der linke Seite dieser steht seine Heimatregionen nach der Reihe wie folgt: Provinz: Uruzgan, Distrikt: Khas Uruzgan, Dorf:[…]. Die Formulare weisen keine Fehler auf und es kann auch nicht gegen die Echtheit dieses Ausweises gesprochen werden, aber dieser Ausweis ist ihm möglicherweise nach Pakistan nachgeschickt worden. Als einzigen Mangel in der Tazkira erblicke ich, dass die Daten des Vaters des minderjährigen Inhabers oder eines anderen Familienoberhauptes, der ihn als Minderjährigen zum Amt begleitet haben muss, in der Rubrik der Unterschrift nicht eingetragen worden ist, was eigentlich im Fall der Minderjährigkeit üblich ist. Jedoch muss der aufscheinende Fingerabdruck, sollte der BF vor dem Beamten gewesen sein, von ihm stammen. In der Regel werden Minderjährige weder unterschreiben, noch Fingerabdrücke abgeben.

Betreffend die paschtunischen Terroristen, die bei ihm angeblich Waffen versteckt haben, möchte ich ausführen:

Uruzgan ist Heimatort des ersten Talibananführers Mullah Omar. Dort sind die Taliban weiterhin aktiv. Diese Taliban sind Paschtunen. Nachdem Dari in Afghanistan allgemein von der Bevölkerung überall gesprochen wird, ist nicht ausgeschlossen, dass die Paschtunen in Uruzgan neben Paschtu auch Dari sprechen.

Nachdem in Khas Uruzgan auch ein Hazara Widerstand schon seit Jahren existiert, ist es verwunderlich, dass paschtunische Terroristen bei einem Hazara-Schneider über Nacht Waffen verstecken und tagsüber abholt. Nach der Wirklichkeit in Afghanistan sind diese Angaben unlogisch. Die Taliban verstecken eher tagsüber ihre Waffen, wenn es keine Kämpfe gibt und tragen nachts ihre Waffen offen, wenn sie offener agieren, machen sie dann in der Nacht von ihren Waffen Gebrauch. Wenn sie ihre Waffen trotzdem verstecken wollen, gibt es tausende Paschtunen in Uruzgan, die diese willkommen heißen und ihnen wenn notwendig Asyl gewähren und ihre Waffen verstecken.

Betreffend des Grundstückes, dass sein Vater in Uruzgan hätte, möchte ich ausführen, dass diese Angaben des BF nicht authentisch sind. Sein Vater nimmt schon von klein an die Kinder zu den Grundstücken mit, damit diese wissen, wo ihre Grundstücke liegen, damit sie nach dem Tod des Vaters diese dann verwalten können. Die Angaben des BF, dass diese Paschtunen-Kuchis solche Grundstücke haben wollen, kommt vor. Die Kuchis benutzen die Weidegebiete, die meistens in Hazara Regionen stationiert sind und sie kommen auch mit Stoffen und Geld und verschulden die Hazara im Laufe der Zeit, sodass sie schließlich von diesen Schuldnern die Abgaben ihrer Grundstücke an die Kuchis als Ausgleich verlangen. Da der BF sein Grundstück nicht kennt und nicht weiß, wo es ist, gehe ich davon aus, dass es zwischen dem Vater und den Kuchis ein Verschuldungsverhältnis nicht gegeben hat. Angenommen, der Vater hatte Grundstücke in Uruzgan, dann ist es kein Problem für die Kuchis, die aus Uruzgan stammen, Paschtunen sind und mit den Taliban zusammenarbeiten, seine Grundstücke ohne Probleme anzueignen, zumal niemand von der Familie des BF dort ist, um sich gegen die Aneignung der Grundstücke durch die Kuchis zu wehren.

Schlussfolgernd möchte ich andeuten, dass keine Feindschaft zwischen dem BF und einer Gruppe in Afghanistan zu erkennen ist. Betreffend die Situation der Hazaras in Afghanistan verweise ich auf verschiedene Gutachten - auch im Jahr 2021 – in anderen Verfahren.“

Der Beschwerdeführer erhielt die Möglichkeit, sich dazu zu äußern und erklärte, dass sein Vater tatsächlich die Tazkira beantragt und nach Hause gebracht habe, wo der Beschwerdeführer seine Fingerabdrücke darauf abgegeben hätte.

Die terroristische Gruppierung sei tagsüber gekommen und hätte verlangt, die Waffen nachts im Geschäft aufzubewahren. Auch habe der Beschwerdeführer genug Personen aus der Nachbarschaft nennen können. Zu den Kutchis wolle er anmerken, dass sie die Grundstücke auch so nehmen könnten, aber sie hätten unbedingt seine Fingerabdrücke haben wollen, damit alles auf sie überschrieben werde. Dass er nicht, wie in Afghanistan üblich, als Kind auf das Feld mitgenommen worden sei, um alles zu sehen, erklärte er damit, er wäre damals zu klein und körperlich zu schwach gewesen, um auf den Feldern zu arbeiten.

Zum Schluss wolle er anmerken, dass er in den Großstädten wie Kabul nicht gewesen sei und sich dort nicht auskenne.

Der länderkundige Sachverständige erläuterte, er gehe wegen der Unkenntnis des Beschwerdeführers davon aus, dass dieser bereits vor 2010 nicht mehr in Afghanistan gewesen sei und es komme vor, dass Leute solche Dokumente erstellen und sie danach nach Pakistan, in den Iran, oder nach Österreich schickten. Er habe das Dokument nicht als gefälscht erkannt, aber angemerkt, dass gewisse Teile fehlten. Die Angaben, dass die Tazkira nach Pakistan geschickt worden sei, beruhten darauf, dass der Beschwerdeführer behaupte, er sei in seinen Distrikt gewesen und sein Vater hätte den Ausweis bekommen, was aber absolut den Regelungen in Afghanistan widerspreche, wenn jemand in der Nähe wohne. Nach dem Gesetz könne nicht einmal ein Präsident für seinen Sohn ein Papier beschaffen. Es wäre möglich, dass man durch Bestechung eine Urkunde erhalte, jedoch sei hier der Punkt, dass auf dem Dokument wesentliche Angaben zum Vater in der entsprechenden Rubrik fehlten.

Zu seiner Gesundheit brachte der Beschwerdeführer vor, in Österreich eine OP am Ohr und nach einer Verletzung beim Fußballspiel am Bein gehabt zu haben, jedoch nicht an einer lebensbedrohlichen Erkrankung zu leiden.

Zu seiner Integration erklärte er, er sei zurzeit als Facharbeiter in der Landwirtschaft tätig und verdiene ca. € 1500. Zudem sei er sozialversichert und habe einen AMS Bescheid und eine Beschäftigungsbewilligung vom 1.3.2021 bis 31.8.2021. Er lebe nicht in einer Asylunterkunft und beziehe keine soziale Unterstützung mehr. Früher, als er noch in der Asylunterkunft gelebt habe, habe er Freiwilligentätigkeiten ausgeführt und darüber hinaus bei einer Familie als Reinigungskraft gearbeitet und beim Rasenmähen geholfen. Dazu habe er auch die Bestätigungen mit.

Vorgelegt wurden:

?        Anmeldung zur Sozialversicherung und AMS Bescheid

?        Für die Tätigkeit als Reinigungskraft und Rasenmähen: ca. 140 Dienstleistungsschecks von 21.5.2018 bis Ende Februar, Beiblatt zum Dienstleistungsscheck vom 21.5.2018

Weiters erklärte der Beschwerdeführer, auf seinen Namen eine Mietwohnung zu haben, wozu er den Mietvertrag vorlegte. Freiwilligentätigkeit habe er bei einer Kirche geleistet und Kleider für Afrika gesammelt. Bei der Lebenshilfe habe er behinderte Personen im Alltag unterstützt und sie zum Beispiel beim Spazierengehen mit dem Rollstuhl geführt. Darüber hinaus habe er auch bei der Stadtgemeinde am Tag der Sauberkeit Reinigungsarbeiten verrichtet, wozu er eine Bestätigung vorlegte.

Der Beschwerdeführer habe eine Zusage auf Weiterbeschäftigung nach Ablauf der Befristung seiner Arbeit und sein Arbeitgeber würde sicherlich um Verlängerung beim AMS ansuchen. Dieser sein mit ihm sehr zufrieden.

Mitglied in einem Verein sei der Beschwerdeführer nicht, habe jedoch viele österreichische Freunde, mit denen er auch Fußball und Volleyball spiele. Im Sommer gingen sie schwimmen und verbrächten viel Zeit miteinander. Mit den namentlich näher genannten Freunden treffe er sich am Wochenende zum Kochen, Kaffeetrinken usw. Dazu legte der Beschwerdeführer diverse Empfehlungsschreiben vor.

Da er keine Schulbildung habe, tue er sich beim Lernen schwer. Er habe sich bemüht, die deutsche Sprache zu lernen und auch Kurse besucht, die er aber leider nicht geschafft habe. Wegen der Sorgen um seine Familie und seine Kinder könne er sich auch oft überhaupt nicht konzentrieren.

In weiterer Folge schilderte der Beschwerdeführer zuerst seine persönlichen Verhältnisse auf Deutsch und erzählte in deutscher Sprache über seine derzeitige Tätigkeit, dass er im Wald arbeite und mit dem Schneiden von Bäumen und Wurzeln beschäftigt sei. Seitens des erkennenden Gerichts wurde angemerkt, dass der Beschwerdeführer über sehr gute Deutschkenntnisse verfügt.

Verwandte oder eine Partnerschaft in Österreich habe der Beschwerdeführer nicht.

Weiters vorgelegt wurde eine Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs.

In Afghanistan habe der Beschwerdeführer niemanden, es gebe auch niemanden, der ihn bei einer Rückkehr finanziell unterstützen könne. Aufgrund seiner Körpergröße glaube man in Afghanistan, dass er sehr schwach und daher nicht arbeitsfähig sei, weshalb man ihm keine Arbeit geben würde.

Dem Beschwerdeführer wurden die aktuellen Länderinformationen vom 16.12.2020 vorgelegt und eine Stellungnahmefrist von zwei Wochen eingeräumt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Der Beschwerdeführer ist traditionell verheiratet und Vater von zwei minderjährigen Kindern. Die Ehefrau und die Kinder leben in einem Haus in Quetta, Pakistan, die Gattin verdient deren Unterhalt als Schneiderin.

Die Beschwerdeführer stammt ursprünglich aus Uruzgan, die letzten Jahre vor der Einreise in Österreich lebte er mit seiner Familie in Quetta.

Der Beschwerdeführer hat keine heimatliche Schulbildung, absolvierte dort jedoch eine Lehre als Schneider. Seit seinem zwölften Lebensjahr bis zu seiner Flucht nach Europa war er als Schneider tätig und erwirtschaftete sich so in Afghanistan und in Pakistan auch seinen Unterhalt selbst.

Der Beschwerdeführer wuchs im afghanischen Familienverband auf, er ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. zurzeit ist er als Facharbeiter in der Landwirtschaft tätig und verdient ca. € 1500. Zudem führte er diverse Freiwilligentätigkeiten aus und arbeitete darüber hinaus bei einer Familie als Reinigungskraft und half beim Rasenmähen.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1.  Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von den Taliban oder „terroristischen“ Gruppen bedroht.

Der Beschwerdeführer wurde weder von den Kutchi-Nomaden noch von „terroristischen“ Gruppen aufgefordert, ihnen Grundstücke zu überschreiben.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen. Es droht ihm auch keine staatliche Verfolgung wegen des Lagerns von Waffen.

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist, und die ihn in Afghanistan exponieren würde.

1.2.2.  Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban, von „terroristischen“ Gruppen, die Kutchi oder durch staatliche Institutionen.

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 5.8.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer verfügt weder über nähere Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen, wie Ehefrau oder Kinder in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist selbsterhaltungsfähig.

Er ist zurzeit als Facharbeiter in der Landwirtschaft tätig und verdient ca. € 1500. Zudem ist er sozialversichert und hat einen AMS Bescheid und eine Beschäftigungsbewilligung vom 1.3.2021 bis 31.8.2021. Der Beschwerdeführer hat eine Zusage auf Weiterbeschäftigung nach Ablauf der Befristung seiner Arbeit. Zudem verrichtete er Freiwilligentätigkeiten und arbeitete darüber hinaus legal bei einer Familie als Reinigungskraft und half beim Rasenmähen.

Der Beschwerdeführer lebt in einer auf seinen Namen lautenden Mietwohnung und bezieht keine soziale Unterstützung mehr.

Der Beschwerdeführer besuchte Deutsch- und Basisbildungskurse. Obwohl er die Prüfungen nicht absolvierte, verfügt er über sehr gute Deutschkenntnisse. Auch nahm er an einem Werte- und Orientierungskurs teil.

Mitglied in einem Verein ist er zwar nicht, er hat jedoch viele österreichische Freunde, mit denen er Sport treibt und viel Zeit verbringt. Dazu legte der Beschwerdeführer diverse Empfehlungsschreiben vor.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz Uruzgan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Der Beschwerdeführer hat zwar keine heimatliche Schulbildung, absolvierte dort jedoch eine Lehre als Schneider. Seit seinem zwölften Lebensjahr bis zu seiner Flucht nach Europa war er sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan als Schneider tätig und erwirtschaftete sich so auch als Erwachsener seinen Unterhalt selbst.

Der Beschwerdeführer wuchs im afghanischen Familienverband auf, er ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. zurzeit ist er als Facharbeiter in der Landwirtschaft tätig und verdient ca. € 1500. Zudem führte er diverse Freiwilligentätigkeiten aus und arbeitete darüber hinaus bei einer Familie als Reinigungskraft und half beim Rasenmähen. Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Der Beschwerdeführer kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Die Ehefrau und Kinder des Beschwerdeführers wohnen derzeit in Quetta, Pakistan. Der Beschwerdeführer hat regelmäßigen Kontakt zu ihnen. Derzeit versorgt seine Gattin die Familie des Beschwerdeführers, sie ist in Quetta als Schneiderin tätig. Der Beschwerdeführer unterstützt seine Familie derzeit finanziell nicht.

Somit kann er insgesamt auch trotz der zurzeit durch die Coronapandemie erschwerten wirtschaftlichen Lage bei einer Rückkehr nach Afghanistan und auch bei einer Ansiedelung in der Stadt Herat/Mazar-e Sharif grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat/Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat/Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 16.12.2020

COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.09.2020; vgl. WB 28.06.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.09.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.09.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.06.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.09.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis ...) um 18 bis 31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.09.2020; vgl. WB 15.07.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.09.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.09.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.08.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 01.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.08.2020; vgl. NYT 31.07.2020, IMPACCT 14.08.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.09.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.07.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.09.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.07.2020). Mit Stand 22.09.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.09.2020). [...]

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

UNAMA 27.10.2020

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020 vgl.; BBC 25.3.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020;

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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