Entscheidungsdatum
19.05.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W248 2202344-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. XXXX , XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX vom XXXX , Zl. XXXX in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.05.2021 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1 Verfahrensgang:
XXXX , geb. am XXXX (im Folgenden Beschwerdeführer, BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal in die Republik Österreich ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am XXXX statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde, BFA) fand am XXXX statt. Dem Beschwerdeführer wurden die Protokolle rückübersetzt, er erhob keine Einwände und gab jeweils an, den Dolmetscher bzw. die Dolmetscherin gut verstanden zu haben.
Bei der Erstbefragung gab der Beschwerdeführer an, er habe Probleme in Afghanistan gehabt, da er für eine amerikanische Firma gearbeitet habe. Diese Firma namens „ XXXX “ habe Klimaanlagen und Heizungen für das afghanische und das amerikanische Militär gebaut. Aufgrund seiner Tätigkeit habe er Probleme mit den Taliban und dem IS bekommen. Eines Tages hätten die Taliban seinen Arbeitsplatz gestürmt und dort geschossen, wobei einige Mitarbeiter verletzt worden seien. Aus Angst, von den Taliban oder dem IS getötet zu werden, habe der Beschwerdeführer beschlossen, Afghanistan zu verlassen.
Anlässlich der Einvernahme vor dem BFA gab der Beschwerdeführer als Fluchtgrund an, er sei mit einem Kollegen namens XXXX für die Firma „ XXXX “, bei der er zum damaligen Zeitpunkt beschäftigt gewesen sei, nach XXXX unterwegs gewesen. Am Weg, etwa 35 Minuten von Kabul entfernt, seien sie von Taliban angehalten worden, und er selbst sei brutal zusammengeschlagen worden. Die Kontrolle durch die Taliban sei nicht zufällig erfolgt, sondern sei gezielt organisiert worden. Der Kollege sei daraufhin davongelaufen, und der Beschwerdeführer sei erst wieder in einem bestimmten Krankenhaus in Kabul aufgewacht. Soldaten der Armee hätten den Beschwerdeführer gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Der Beschwerdeführer habe etwa 8 Tage im Krankenhaus und 20 Tage zu Hause verbracht. Er habe durch den Angriff an der Nase, am Kopf, am Zahn, an den Händen, an den Hüften und an den Beinen Verletzungen davongetragen. Die Fahrt nach XXXX , bei der sie von den Taliban angehalten worden seien, sei spontan erfolgt; sobald der Auftrag eingelangt sei, hätten der Beschwerdeführer und sein Kollege sich auf den Weg gemacht. Aufgrund des Angriffes, den er der Polizei nicht gemeldet habe, habe der Beschwerdeführer beschlossen, Afghanistan zu verlassen. Zuerst sei er nach XXXX gefahren, wo er zwei Tage verbracht habe. Anschließend sei er in den Iran weitergereist. Auf den in der Erstbefragung vorgebrachten Fluchtgrund angesprochen erklärte der Beschwerdeführer, der bei der Erstbefragung geschilderte Angriff der Taliban in der Firma habe zwar stattgefunden, jedoch nicht ihn persönlich betroffen, deshalb sei er nicht ausgereist (vgl. Protokoll der Einvernahme, S. 9: „Das betrifft mich nicht, das war in meiner Firma, aber deshalb bin ich nicht ausgereist.“).
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom XXXX , XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe, wonach er Opfer eines persönlichen, geplanten Überfalles durch die Taliban geworden sei, nicht habe glaubhaft machen können. Der Beschwerdeführer habe in der Erstbefragung ein gänzlich anderes Vorbringen erstattet, welches er in der Einvernahme beim BFA nicht von sich aus erwähnt habe. Erst nach Vorhalt seiner Angaben aus der Erstbefragung habe er ausgeführt, dass der in der Erstbefragung geschilderte Angriff der Taliban auf die Firma zwar stattgefunden habe, ihn allerdings nicht persönlich betroffen habe und auch nicht der Grund für seine Ausreise gewesen sei.
Der Beschwerdeführer habe sich insofern widersprochen, zumal er angeführt habe, nach Erhalt des Auftrages spontan losgefahren zu sein, sich jedoch ebenfalls überzeugt gezeigt habe, dass der Angriff seitens der Taliban geplant worden sei. Er habe sein Vorbringen zudem äußerst knapp gestaltet, und es seien mehrere Nachfragen seitens des BFA notwendig gewesen, um Informationen zu erhalten, die bei einer lebensnahen Schilderung auch ohne Nachfrage vorgekommen wären. Insgesamt sei es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, bezogen auf seine Heimatprovinz Kabul eine Verfolgung oder Bedrohung im Sinne der in der GFK angeführten Asylgründe glaubhaft zu machen.
Da nach den Länderfeststellungen keine allgemeine Gefahr festgestellt werden könne, gehe die Behörde davon aus, dass dem Beschwerdeführer in seinem Heimatstaat auch keine Gefahr drohe, die die Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer sei mit den Verhältnissen und den kulturellen Gepflogenheiten seines Heimatlandes vertraut und könne in seine Herkunftsregion Kabul zurückkehren und etwa wieder bei seiner Familie wohnen. Dies werde auch durch die Angaben des Beschwerdeführers bestätigt (vgl. Niederschrift der Einvernahme, S. 8: Frage: „Könnten sie im Falle der Rückkehr in ihr Herkunftsland wieder an Ihre Wohnadresse bzw. bei ihrer Mutter wohnen?“ Antwort: „Natürlich, das wäre kein Problem“).
Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde. Er besuche zwar diverse Deutschkurse, verfüge aber über keine besonderen sozialen Kontakte in Österreich, und es habe keine besondere Integrationsverfestigung festgestellt werden können.
Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am XXXX zugestellt.
Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem Beschwerdeführer der XXXX als Rechtsberatung amtswegig zur Seite gestellt.
Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid des BFA mit Schreiben vom XXXX fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Er brachte im Wesentlichen vor, dass er vor der Erstbehörde durchaus die Umstände genannt habe, die einer asylrelevanten Verfolgung in seiner Heimat entsprechen würden.
Die belangte Behörde habe sich auf Unstimmigkeiten zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme berufen. Dazu sei festzustellen, dass die Aussagen in der Erstbefragung gesetzlich nicht einmal dazu gedacht seien, die Fluchtgründe eines Asylwerbers erschöpfend darzustellen. Den Überfall der Taliban auf dem Weg nach XXXX habe der Beschwerdeführer zwar nicht der Polizei gemeldet, doch sei diesbezüglich auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018 hinzuweisen, wonach Afghanistan einen der letzten Plätze auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2017 von Transparency International belege. Da die afghanischen Behörden zu den meist korrumpierten der Welt gehören würden, habe der Beschwerdeführer vermutet, dass eine Anzeige bei der afghanischen Polizei, die ohnehin überlastet und korrupt sei, „nichts viel“ bringe.
Der Beschwerdeführer sei bereits einmal von den Taliban angegriffen worden und befürchte, dass er von Taliban wieder angegriffen werden könnte. Es sei dem Beschwerdeführer nicht zumutbar abzuwarten, bis er erneut angegriffen werde. Nach ständiger Judikatur setze das Vorliegen einer begründeten Furcht nicht voraus, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland vor seiner Flucht einer individuellen Verfolgung ausgesetzt war oder ihm eine derartige Verfolgung konkret angedroht wurde.
Die belangte Behörde habe auch den entscheidungsrelevanten Sachverhalt betreffend eine mögliche Zuerkennung von subsidiärem Schutz nur mangelhaft ermittelt, indem sie keinerlei Ermittlungen hinsichtlich einer subsidiären Schutzberechtigung aufgrund mangelnder sozialer oder familiärer Anknüpfungspunkte im Heimatland durchgeführt habe und auch nicht ermittelt habe, dass Afghanistan als alles andere als sicher gelte. Die derzeitige Situation in Afghanistan wirke sich so aus, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr einem Klima ständiger Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbarer Einschränkungen sowie einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre.
Der Beschwerdeführer sei während seines Asylverfahrens immer daran interessiert gewesen, am Verfahren mitzuwirken. Durch seine Aussagen sei er stets bemüht gewesen, der Behörde bei ihrer Entscheidungsfindung und Wahrheitsfindung zu helfen. Er habe sowohl in freier Erzählung als auch auf Nachfrage detailliert und konkret zu seinen Asylgründen Stellung genommen. Da die belangte Behörde die Vorgaben der §§ 37 und 39 Abs. 2 AVG nicht eingehalten habe, habe sie das Verfahren mit Mangelhaftigkeit behaftet. Hätte die Erstbehörde weitere Ermittlungen gemacht, wäre sie nach der in der Beschwerde zum Ausdruck kommenden Ansicht zu dem Ergebnis gekommen, dass dem Beschwerdeführer angesichts der gegebenen Lage zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Wenn im Behördenverfahren Fragen offen geblieben seien, dann wäre der Beschwerdeführer gerne bereit gewesen, diese bei der Einvernahme oder in einer ergänzenden Befragung zu beantworten. Er sei auch gerne bereit, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung erneut zu seinem Vorbringen Rede und Antwort zu stehen, damit sich das Bundesverwaltungsgericht einen persönlichen Eindruck von seiner Glaubwürdigkeit machen könne.
Der Beschwerdeführer beantragte, den angefochtenen Bescheid im Spruchpunkt I dahingehend abzuändern, dass dem Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz Folge gegeben und ihm der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde, in eventu den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt werde, in eventu die gegen ihn ausgesprochene Rückkehrentscheidung aufzuheben, in eventu dem Beschwerdeführer „einen Aufenthaltstitel aus den besonders berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 56 ff AsyG“ zu erteilen, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die erste Instanz zurückzuverweisen. Jedenfalls möge eine mündliche Verhandlung anberaumt werden.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 03.05.2021 eine mündliche Verhandlung durch. In dieser Verhandlung, in der der Beschwerdeführer durch die RA-Kanzlei Dr. XXXX rechtsfreundlich vertreten wurde, wurde der Beschwerdeführer eingehend zu seinen persönlichen Verhältnissen, zu seinen Fluchtgründen, zu seinen Rückkehrbefürchtungen und zu seinem Leben in Österreich befragt. Der Beschwerdeführer legte verschiedene Unterlagen vor (medizinische Unterlagen; Integrationsunterlagen; Auszüge aus einem Gutachten zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan; Zeitungsartikel zur Lage in Afghanistan), wies auf die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan sowie den angekündigten Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan hin, der zu einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage führen werde, und verwies auf ein Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG 29.01.2021 XXXX ), in welchem dem damaligen Beschwerdeführer subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei.
Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde das Ermittlungsverfahren iSd. § 39 Abs. 3 AVG geschlossen.
Mit Schreiben vom 04.05.2021 erstattete der Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung eine weitere Stellungnahme, in welcher er darauf hinwies, dass er in der mündlichen Verhandlung irrtümlich ein unpassendes Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vorgelegt hatte, und stattdessen ein anderes Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG 06.07.2020, XXXX ) nannte, in welchem dem damaligen Beschwerdeführer aufgrund der aktuellen Pandemiesituation in Afghanistan subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei. Der Beschwerdeführer verwies in seiner Stellungnahme auf weitere Quellen zur COVID-19-Pandemie und stellte den Antrag, das Verfahren gemäß § 38 AVG bis zum 31.12.2021 auszusetzen, damit nach Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan zumindest 3 Monate vergehen und sich herausstellen möge, in welche Richtung sich Afghanistan entwickelt, bevor dieses Verfahren fortgesetzt werde. Ein Antrag auf Fortsetzung des Ermittlungsverfahrens iSd. § 39 Abs. 4 AVG wurde nicht gestellt, und es wurde auch kein Versuch unternommen, glaubhaft zu machen, dass die in der Stellungnahme angesprochenen Beweismittel ohne Verschulden des Beschwerdeführers bzw. seiner Vertretung nicht auch schon vor dem Schluss des Ermittlungsverfahrens hätten geltend gemacht werden können.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
2 Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht mit hinreichender Sicherheit fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX und ist in der Stadt Kabul geboren und aufgewachsen.
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.
Der Beschwerdeführer ist volljährig, befindet sich im erwerbsfähigen Alter, er ist hinreichend gesund und arbeitsfähig. Er war bei der Gebietskrankenkasse (GKK) bzw. ist bei der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) XXXX krankenversichert, wobei die Krankenversicherungsbeiträge im Rahmen der Grundversorgung für ihn bezahlt werden. Seine in der mündlichen Verhandlung am 03.05.2021 aufgestellte Behauptung, er könne aus finanziellen Gründen nicht medizinisch behandelt werden, ist unzutreffend. Der Beschwerdeführer zählt zu keiner COVID-19-Risikogruppe.
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer besuchte 12 Jahre lang eine Grundschule in Kabul und absolvierte einen Lehrgang zum Zahntechniker. Er verfügt über mehr als drei Jahre Arbeitserfahrung als Klimaanlagentechniker in den Firmen „ XXXX “ und „ XXXX “. Seine Tätigkeit umfasste den Bau und die Reparatur von Klimaanlagen.
Der Beschwerdeführer wuchs in der Stadt Kabul gemeinsam mit seinen Eltern, seinen 4 Brüdern und seinen 3 Schwestern auf. Er ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert und mit dem Leben in Afghanistan sowie in einer afghanischen Großstadt vertraut.
2.2 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer wurde nicht aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Klimaanlagentechniker von Taliban oder sonstigen Mitgliedern radikaler Gruppierungen verfolgt, bedroht oder verletzt.
Ob ein Angriff der Taliban auf die Mitarbeiter der Firma „ XXXX “ stattfand, kann nicht festgestellt werden.
Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer am Weg nach XXXX von Taliban angehalten und verletzt wurde.
Weiters kann nicht festgestellt werden, dass der (ehemalige) Arbeitskollege des Beschwerdeführers ein Talib ist bzw. mit den Taliban zusammengearbeitet hat.
Der Beschwerdeführer ist nicht ins Blickfeld der Taliban oder sonstiger radikaler Gruppierungen geraten und wird auch nicht von ihnen gesucht.
Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von den Taliban oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen bedroht.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr iSd. GFK verlassen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban, durch den IS (Daesh) oder durch andere Personen.
Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seines Aufenthalts in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.
2.3 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan und reiste schlepperunterstützt nach Österreich, wo er unter Umgehung der Grenzkontrollen einreiste. Er hält sich zumindest seit XXXX durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom XXXX in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig. Der Beschwerdeführer hält sich daher seit nicht ganz fünf Jahren in Österreich auf.
Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über schriftliche Willensäußerungen von drei Unternehmen (Baustoffhandel, Fleischerei, Carwash Center), ihn unter bestimmten Voraussetzungen einzustellen, jedoch bisher über keine verbindliche Einstellungszusage.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich weder Familienangehörige noch sonstige enge soziale Bindungen, wie Ehefrau oder Kinder. Er hat in Österreich keine Sorgepflichten und kann bisher nur mäßige Integrationserfolge aufweisen.
Der Beschwerdeführer legte Unterstützungsschreiben vor, in denen er u.a. als liebenswert, freundlich, fleißig und ordentlich, geschickt, sehr schnell, sehr kräftig und sportlich, pünktlich, zuverlässig, gepflegt und hilfsbereit beschrieben wird.
Der Beschwerdeführer war in Österreich bereits vor der Covid-19 Pandemie mehrfach gemeinnützig tätig. Er hat sich insbesondere seit April 2017 für die Marktgemeinde XXXX gemeinnützig engagiert und hat in der Hundeschule XXXX in XXXX als freiwilliger Helfer gearbeitet. Seit Mai 2017 ist er ehrenamtlich für den XXXX tätig, wo er als freundlicher und hilfsbereiter Mensch beschrieben wird. Für eine Dame in XXXX erledigt er Gartenarbeiten. Er hat Deutschkurse besucht, aber bisher keine Deutschprüfungen abgelegt. Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz hat er bisher nicht erfüllt. Er übt keine Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht würde.
Der Beschwerdeführer befindet sich in der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Der Beschwerdeführer ist bisher in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
2.4 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Die Sicherheitslage ist innerhalb der Provinzen sehr unterschiedlich, sodass konkret zwischen volatilen und relativ sicheren Provinzen zu unterscheiden ist. Die allgemein schlechte Sicherheitslage, auf die sich der Beschwerdeführer bezieht, führt in Afghanistan für sich genommen nicht zu asylrelevanter Verfolgung.
Dem Beschwerdeführer wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in seine Heimatstadt Kabul kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Kabul ist auf dem Luftwege sicher erreichbar.
Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.
Die Kernfamilie des Beschwerdeführers befindet sich noch in Kabul, und er hat regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie. Er hat somit in Afghanistan familiäre Anknüpfungspunkte und verfügt über ein nutzbares familiäres Netzwerk. Im Eigentum der Familie des Beschwerdeführers stehen viele Häuser, Geschäfte und Autos, sodass die Familie für afghanische Verhältnisse sehr wohlhabend ist. Die Brüder des Beschwerdeführers sind ebenfalls berufstätig, wobei ein Bruder sich nach den Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung mittlerweile an einem dem Beschwerdeführer unbekannten Ort „in Amerika“ aufhält. Der Beschwerdeführer könnte jedenfalls mit finanzieller Unterstützung durch seine wohlhabende Familie rechnen und könnte – zumindest vorübergehend – auch dort wohnen. Vor diesem Hintergrund bleibt das Beschwerdevorbringen, wonach die belangte Behörde „Ermittlungen hinsichtlich einer subsidiären Schutzberechtigung aufgrund mangelnder sozialer oder familiärer Anknüpfungspunkte im Heimatland“ hätte vornehmen sollen, ebenso unverständlich wie die in der Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 04.05.2021 (Rz 14) geäußerte Vermutung, der Beschwerdeführer müsse sich „als Neuankömmling … ganz hinten anstellen und würde zweifelslos in eine prekäre, hoffnungslose Lage geraten. Es ist konkret zu befürchten, dass er nicht einmal genug Essen haben wird und von der grassierenden Nahrungsmittelknappheit betroffen sein wird.“.
Der Beschwerdeführer wäre allerdings aufgrund seiner Bildung und Berufserfahrung auch in der Lage, ohne Unterstützung durch seine Familie zurechtzukommen und seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Beschwerdeführer kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
Mit den örtlichen und sozialen Verhältnissen in Kabul ist der Beschwerdeführer vertraut.
Die Stadt Kabul steht unter Regierungskontrolle, dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe statt. Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2019. Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen, sodass die Erreichbarkeit hinreichend sicher erfolgen kann. Beim Beschwerdeführer handelt es sich nicht um ein High-Level-Target, da er weder über besondere Kenntnisse oder Fähigkeiten verfügt, die für die Taliban gefährlich werden könnten, noch jemals den Taliban Schaden zugefügt hat. Es ist kein Grund ersichtlich, aus dem die Taliban Interesse am Beschwerdeführer haben könnten.
Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und insbesondere einer Wiederansiedlung in Kabul kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen, einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.
Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten wieder in Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Seine Kernfamilie lebt nach wie vor in Kabul, und der Beschwerdeführer steht regelmäßig mit seinen Familienangehörigen in Kontakt. Die Familie ist sehr wohlhabend und könnte den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr jedenfalls zumindest in der Anfangsphase finanziell unterstützen. Im Eigentum der Familie stehen viele Häuser, sodass auch das dringende Wohnbedürfnis des Beschwerdeführers problemlos befriedigt werden könnte. Durch seine wohlhabende Familie ist der Beschwerdeführer auch nicht sofort auf eine Arbeit angewiesen, sodass seine grundlegendsten Bedürfnisse mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit befriedigt werden können, bis er eine Arbeit gefunden hat und sich selbst versorgen kann. Der Beschwerdeführer ist zudem weit überdurchschnittlich gebildet und verfügt über eine 12-jährige Schulbildung, eine abgeschlossene Ausbildung zum Zahntechniker sowie über mehrjährige Arbeitserfahrung als Klimaanlagentechniker.
Dem Beschwerdeführer stünde alternativ die Stadt Mazar-e Sharif als innerstaatliche Ansiedlungsalternativen zur Verfügung.
Die Sicherheitslage in Mazar-e Sharif kann nicht gänzlich isoliert von den anderen Distrikten der Provinz Balkh betrachtet werden. Die Sicherheitslage hat sich in der Provinz Balkh in den letzten Jahren stetig verschlechtert. Auch in Mazar-e Sharif wurde eine Verschlechterung der Sicherheitslage in den letzten Jahren dokumentiert. Trotz des Anstiegs der Kriminalität und der sicherheitsrelevanten Vorfälle gelt diese Stadt noch als vergleichsweise sicher. Mazar-e Sharif verfügt über einen internationalen Flughafen. Die Anreise nach Mazar-e Sharif kann weitgehend gefahrfrei erfolgen.
Die Wohnraum-, Arbeitsmarkt- und Versorgungslage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif waren bereits vor der Covid-19 Pandemie angespannt. Die sozioökonomischen Auswirkungen von Covid-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit. Die Auswirkungen von Covid-19 und der damit einhergehende Lockdown hatten katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der afghanischen Bürger. Aufgrund des Lockdowns verloren viele Menschen Arbeit und Einkommen. Die Inflation der Preise bei Grundnahrungsmitteln wie Öl und Kartoffeln verschärfte die wirtschaftliche Notlage eines erheblichen Teils der afghanischen Bevölkerung. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es durch die COVID-19 Pandemie zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen. Die Preisanstiege für Lebensmittel scheinen seit April 2020 zwar nachgelassen zu haben, wobei die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis …) zwischen März und November 2020 deutlich (um 18-31%) gestiegen sind. Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert. Laut Prognose des FEWS befindet sich die Versorgungslage in Mazar-e Sharif im Zeitraum Februar 2021 bis Mai 2021 in der zweitniedrigsten Stufe 2 „stressed“ (Stufe 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“) des Klassifizierungssystems für Nahrungsmittelversorgung und wurde daher von Stufe 3 „Krise“ zurückgestuft. Für den Zeitraum Juni 2021 bis September 2021 befindet sich Mazar-e Sharif weiterhin in der zweitniedrigsten Stufe (Stufe 2) des Klassifizierungssystems für Nahrungsmittelversorgung.
Die Arbeitsmarktsituation ist auch In Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber, und ohne Kontakte ist es schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch. Die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden. Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Es gebe nur sehr begrenzt offizielle Arbeitsplätze. Da die Aufnahmegemeinden hier mit den gleichen Problemen konfrontiert seien und für sich beanspruchen würden, vorrangig behandelt zu werden, sei es für IDPs und manche Rückkehrende noch schwieriger, Zugang zu Arbeitsplätzen zu erhalten. In Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Verfügung. Auch eine Person, die in Mazar-e Sharif keine Familie hat, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden. Des Weiteren gibt es in Mazar-e Sharif eine Anzahl von Hotels sowie Gast- oder Teehäusern, welche unter anderem von Tagelöhnern zur Übernachtung benutzt werden.
Es gibt weder in Kabul noch in Mazar-e Sharif Ausgangssperren.
UNHCR und IOM leisten für Rückkehrer in der ersten Zeit nach der Rückkehr nach Afghanistan Unterstützung.
Der Beschwerdeführer verfügt zwar über keine Ortskenntnisse in Mazar-e Sharif, er stammt allerdings aus der Stadt Kabul, sodass er mit dem Leben in einer Großstadt vertraut ist. Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig, da er sich trotz seines jungen Alters nach der Ausreise aus Afghanistan, ohne entsprechende Sprachkenntnisse behaupten konnte, und verfügt durch seinen Aufenthalt in Österreich über mehr Lebenserfahrung, welche ihm insbesondere in der aktuell angespannten Situation behilflich sein werden, um ein geregeltes Einkommen zu sichern.
Nach Ansicht des Gerichtes wäre der Beschwerdeführer, aufgrund seiner individuellen Verhältnisse, trotz der aktuell angespannten Wirtschaftslage im Stande, sich grundsätzlich und auch in der derzeitigen Situation selbstständig eine Existenz in Afghanistan aufzubauen. Wie von UNHCR gefordert, ist der notwendige Zugang zu Nahrungsmitteln, einer Arbeit, einer Unterkunft und zu medizinsicher Versorgung, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten, durch die finanzielle Unterstützung seiner Angehörigen, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit für den Beschwerdeführer gewährleistet. Das erkennende Gericht geht davon aus, dass er in den genannten Städten ein Leben ohne unbillige Härte führen können wird und nicht in eine ausweglose Situation geraten würde.
Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und der Berichte des EASO aus Dezember 2020 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist dem Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Verhältnisse eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere in seine Herkunftsprovinz Kabul und alternativ nach Mazar-e Sharif zumutbar.
2.5 Zur Lage im Herkunftsstaat
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:
? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 01.04.2021 (LIB)
? UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR)
? EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis vom Dezember 2020 (EASO)
? ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)
? ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)
? ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020
? ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 27.01.2021
? OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 95 (22 April 2021)
2.5.1 Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).
Am 30. September endete die Finanzierung der afghanischen Lokalpolizei (Afghan Local Police - ALP), der größten und am längsten bestehenden afghanischen lokalen Verteidigungseinheit. Die Truppe hat eine gemischte Bilanz vorzuweisen: Einige Einheiten haben ihre Gemeinden effektiv und entschlossen verteidigt, während andere sich so schlecht verhielten, dass sie Unterstützung für die Taliban hervorriefen. Doch wie auch immer die Bilanz der einzelnen Einheiten ausfällt, die Auflösung der Truppe wird zwangsläufig Auswirkungen auf die Sicherheit haben Der Plan sieht vor, dass ein Drittel der ALP entwaffnet und in den Ruhestand versetzt wird, ein Drittel in die Afghanische Nationalpolizei (ANP) und ein Drittel in die Afghanische Nationale Armee (Afghan National Army Territorial Force - ANA-TF) überführt wird. Die Innen- und Verteidigungsministerien haben nun drei Monate Zeit, um die rund 18.000 bewaffneten Männer zu sortieren, zu versetzen und umzuschulen oder zu entwaffnen und in den Ruhestand zu versetzen, die sich in 31 der 34 Provinzen Afghanistans aufhalten - inmitten eines Krieges und einer immer noch andauernden Pandemie (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 06.05.2021).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).
2.5.1.1 Aktuelle Entwicklungen:
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden. Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (LIB, Kapitel 4).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB, Kapitel 5).
Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-31.12.2020 verzeichnete UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte). Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu. In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten. Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 4 und 5).
Die Vereinten Nationen verzeichneten zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.02.2021 7.138 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Anstieg um 46,7 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 und im Gegensatz zu den traditionell niedrigeren Zahlen während der Wintersaison. Die etablierten Trends der Art der Vorfälle blieben unverändert, wobei bewaffnete Zusammenstöße 63,6 Prozent aller Vorfälle ausmachten. Regierungsfeindliche Elemente waren für 85,7 Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle verantwortlich, einschließlich 92,1 Prozent der bewaffneten Zusammenstöße. Die südlichen, gefolgt von den östlichen und nördlichen Regionen, verzeichneten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle. Auf diese Regionen entfielen zusammen 68,9 Prozent aller registrierten Vorfälle, wobei die meisten Vorfälle in den Provinzen Helmand, Kandahar, Nangarhar und Balkh verzeichnet wurden. Keine Konfliktpartei konnte nennenswerte Gebietsgewinne erzielen. Die Taliban hielten den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, darunter auch gefährdete Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Fernstraßen zu sichern und Taliban-Gewinne wieder zurückzubringen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar. Zwischen dem 01.01.2021 und dem 31.03.2021 verzeichnete die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte), was die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verringerung der Gewalt und die ultimative, übergeordnete Notwendigkeit, ein dauerhaftes Friedensabkommen zu erreichen, unterstreicht. Die Zahl der getöteten und verletzten ZivilistInnen stieg im Vergleich zum ersten Quartal 2020 um 29 Prozent; dies umfasste auch einen Anstieg in den Opferzahlen sowohl bei Frauen (plus 37 Prozent) als auch bei Kindern (plus 23 Prozent). Mindestens 301 regierungsnahe Kräfte und 89 ZivilistInnen wurden im April in Afghanistan getötet (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 06.05.2021).
Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.01.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (LIB, Kapitel 4).
2.5.1.2 COVID-19:
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht, ohne Krankenhausaufenthalt, bei ca. 15 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich, allerdings benötigen diese Personen Sauerstoffzufuhr. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf, einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 01.04.2021).
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis Dezember 2020 50.536 bestätigte COVID-19 Erkrankungen. Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht. Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (LIB, Kapitel 3).
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (LIB, Kapitel 3).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (LIB, Kapitel 3).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (LIB, Kapitel 3).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (LIB, Kapitel 3).
2.5.2 Allgemeine Wirtschaftslage:
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio. Menschen; 2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Laut einer IPC-Analyse [Anm.: Integrated Food Security Phase Classification] vom April wurde geschätzt, dass die Zahl der Menschen, die in Afghanistan unter akuter Ernährungsunsicherheit der Stufe 4 des Emergency-IPC-Index leiden, im Zeitraum August 2020 - März 2021 3,6 Millionen betragen würde (LIB, Kapitel 23.1).
In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% in Afghanistan ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze. Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird. Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (LIB, Kapitel 3. und 23.1).
Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 23).
Während der Wintersaat von Dezember 2017 bis Februar 2018 gab es in Afghanistan eine ausgedehnte Zeit der Trockenheit. Diese hatte primär Auswirkungen auf den Agrarsektor mit Verlusten bei Viehbeständen und verschlechterte die Situation für die von Lebensmittelunsicherheit geprägte Bevölkerung weiter. Auch folgten schwerwiegende Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, was wiederum zu Binnenflucht führte und es den Binnenvertriebenen mittelfristig erschwert, sich wirtschaftlich zu erholen sowie die Grundbedürfnisse selbständig zu decken. Im März 2019 fanden in Afghanistan Überschwemmungen statt, welche Schätzungen zufolge Auswirkungen auf mehr als 120.000 Personen in 14 Provinzen hatten. Sturzfluten Ende März 2019 hatten insbesondere für die Bevölkerung in den Provinzen Balkh und Herat schlimme Auswirkungen. Unter anderem waren von den Überschwemmungen auch Menschen betroffen, die zuvor von der Dürre vertrieben worden waren. Günstige Wetterbedingungen während der Aussaat 2020 lassen eine weitere Erholung der Weizenproduktion von der Dürre 2018 erwarten. COVID-19-bedingte Sperrmaßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, da sie in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt werden konnten (LIB, Kapitel 23).
Die Auswirkungen von Covid-19 und der damit einhergehende Lockdown hatten katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der afghanischen Bürger. Aufgrund des Lockdowns verloren viele Menschen Arbeit und Einkommen. Die Inflation der Preise bei Grundnahrungsmitteln wie Öl und Kartoffeln verschärfte die wirtschaftliche Notlage eines erheblichen Teils der afghanischen Bevölkerung. Nach Angaben des Biruni-Instituts haben sechs Millionen Menschen aufgrund der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020).
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die sich in ganz Afghanistan weiter verschlechtert und voraussichtlich einen ähnlichen Schweregrad erreichen wird, wie während der Dürre 2018/2019 beobachtet wurde. Nach Angaben der Vereinten Nationen lag die Zahl der Menschen, die von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind, im Zeitraum von August bis Oktober 2020 bei etwa 36% der untersuchten Bevölkerung, und die Zahl für den Zeitraum von November 2020 bis März 2021 wurde ein Anstieg auf 42% - zwischen 11,15 (ICP) und 13,9 (USAID) Millionen Menschen – prognostiziert. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es durch die COVID-19 Pandemie zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, wieder gesunken zu sein, wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind. Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht lagen die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 weiterhin über dem Durchschnitt, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel auf den Quellmärkten zurückzuführen ist, insbesondere für Weizen in Kasachstan. Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert. Auf nationaler Ebene waren die Preise für Weizenmehl in Afghanistan von November bis Dezember 2020 stabil, allerdings auf einem Niveau, das 11% über dem des letzten Jahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist. Die afghanischen Grenzen sind alle offen, was den normalen Handel mit Lebensmitteln erleichtert. In städtischen Gebieten werden die geringere Verfügbarkeit von Einkommensmöglichkeiten während des Winters, unterdurchschnittliche Rücküberweisungen und überdurchschnittliche Nahrungsmittelpreise wahrscheinlich den Zugang zu Nahrung und Einkommen für viele arme Haushalte einschränken, wobei während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 ohne Hilfe eine Bewertung mit IPC Stufe 3 („Crisis“) erwartet wird. Wenn die Umsetzung des COVID-19- Hilfsprogramms voranschreitet, werden sich die Haushalte, welche humanitäre Hilfe erhalten, wahrscheinlich auf IPC Stufe 2 („Stressed“) verbessern, bis sie die Hilfe ausschöpfen. Nach den vorliegenden Informationen (Stand 29.01.2021) haben insgesamt 3.020 städtische Haushalte (ca. 21.000 Personen, was weniger als 1% der Bevölkerung entspricht) in 13 Provinzhauptstädten diese Unterstützung erhalten. Die meisten ländlichen Gebiete haben IPC Stufe 2 („Stressed“) und es wurde erwartet, dass dies während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 bestehen bleibt. In Gebieten, in denen die Ernte geringer ausgefallen ist und in Gebieten, die am stärksten von Konflikten betroffen sind, ist jedoch für den Rest der ertragsarmen Saison ein Abrutschen auf IPC Stufe 3 („Crisis“) wahrscheinlich. Im ganzen Land wird erwartet, dass eine zunehmende Anzahl von armen Haushalten - insbesondere solche mit unterdurchschnittlichen Vorräten oder solche, die nur geringe Geldsendungen erhalten - mit IPC Stufe 3 („Crisis“) zu bewerten wären, wenn die Vorräte aufgebraucht sind (LIB, Kapitel 3. und 23.1).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 23.6).
Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten sind Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an. Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige