TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/28 W164 2173654-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.05.2021
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Entscheidungsdatum

28.05.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W164 2173654-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.09.2017, Zl. 1092670606-151642682, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

1. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

2. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

3. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

4. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zum schiitischen Glauben. Er stellte am 28.10.2015 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Bei der Erstbefragung am selben Tag vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, er habe im Iran, wo er mit seiner Familie gelebt habe, immer wieder mit Iranern Probleme gehabt. Diese hätten ihn geschlagen und wären mit einem Messer auf ihn losgegangen. Er habe Angst gehabt, nach Afghanistan zurückkehren zu müssen. Im Falle einer Rückkehr in den Iran befürchte er, von den dortigen Behörden nach Syrien in den Krieg geschickt zu werden.

3. Eine Altersfeststellung ergab die Minderjährigkeit des BF zum Antragszeitpunkt, wobei als „fiktives“ Geburtsdatum der XXXX im weiteren Verfahren angenommen wurde.

4. Am 23.08.2017 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA). Der BF gab an, er sei im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern aus Afghanistan in den Iran gezogen. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan führte der BF aus, dass er durch die Familie seiner Mutter bedroht werde, da seine Eltern gegen deren Willen heimlich geheiratet hätten. Die Familienangehörigen seiner Mutter seien keine Hazara und seine Mutter hätte eigentlich einen Cousin heiraten sollen. Die Mutter sei ferner vom sunnitischen Islam zum schiitischen Islam konvertiert. Die Eltern des BF seien geflüchtet. In ihrer Abwesenheit habe sie ein Imam zum Tod durch Steinigung verurteilt. Der BF sei von seinem Großvater mütterlicherseits als uneheliches Kind bezeichnet worden. Die Familie der Mutter sei nunmehr hinter der Familie des BF her und bereits mehrmals in den Iran gekommen. Die Schwester der Mutter habe sie jedoch immer vorgewarnt.

Den Iran habe der BF schließlich nach einer Schlägerei mit Iranern verlassen. Er sei nach diesem Vorfall auf eine Polizeistation mitgenommen worden. Dort habe man seine Aufenthaltskarte vernichtet und er sei vor der Wahl gestellt worden entweder nach Afghanistan abgeschoben zu werden oder im Krieg in Syrien zu kämpfen. Ihm sei eine Aufenthaltsgenehmigung zugesagt worden, wenn er in den syrischen Krieg ziehe.

In Afghanistan würde er eine Tazkira benötigen, welche er jedoch in seinem Heimatort beantragen müsste. Spätestens dann würde er jedoch von den Angehörigen mütterlicherseits erkannt und verfolgt werden. Deshalb habe er beschlossen, den Iran Richtung Europa zu verlassen. Befragt, ob er noch Angehörige in Afghanistan habe, gab der BF an, es würden noch Onkel und Tanten mütterlicherseits in Kunduz leben, jedoch habe seine Familie kein gutes Verhältnis zu ihnen.

Der BF legte anlässlich dieser Befragung zwei ÖSD-Zertifikate, 1) Deutsch A1 nach GER vom 19.10.2016 mit der Note Sehr gut und Deutsch A2 nach GER vom 27.03.2017 mit der Note Gut vor.

5. Mit Bescheid vom 26.09.2017, Zl. 1092670606-151642682, hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist zur freiwilligen Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde ausgeführt, der BF habe keine gegen ihn gerichtete asylrelevante Verfolgung in Afghanistan glaubhaft machen können. Da die Eltern und Geschwister des BF in den letzten 20 Jahren weder von einer Steinigung durch das angebliche und unbestätigte Urteil des Imams noch von anderen Repressalien aufgrund des behaupteten innerfamiliären Konflikts nach der Heirat der Eltern des BF betroffen gewesen wären, sei von einer realen Bedrohung nicht auszugehen. Dem BF sei aufgrund seiner individuellen Verhältnisse eine Rückkehr nach Kabul oder Mazar-e Sharif möglich und zumutbar. Der BF verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF durch seine damalige Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde und brachte vor, dass die belangte Behörde das Fluchtvorbringen des BF nicht mit der gebotenen Tiefe ermittelt und der Entscheidung mangelhafte Länderfeststellungen zugrunde gelegt habe. Zu seinen Fluchtgründen führte der BF aus, dass die Familie seiner Mutter mehrmals im Iran gewesen sei und versucht habe, die Familie des BF zur Rechenschaft zu ziehen. Es sei somit nicht richtig, dass der BF oder seine Familie von keinerlei Repressalien betroffen gewesen wäre. Zudem habe sich der BF durch sein Leben im Iran dem Einflussbereich seiner Verfolger weitestgehend entziehen können. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan müsste sich der BF zur Beantragung einer Tazkira direkt in die Sphäre seiner Verfolger begeben. Außerdem würde der BF aufgrund seiner westlichen Einstellung, seinem iranischen Akzent und seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der schiitischen Hazara einer Verfolgung durch sunnitische Extremisten ausgesetzt sein.

Die Sicherheitslage in den großen Städten Afghanistans sei als äußerst prekär einzustufen und es werde diesbezüglich auf zahlreiche in der Beschwerde angeführte Berichte verwiesen. Der BF habe nahezu sein ganzes Leben bis zu seiner Ausreise nach Europa im Iran verbracht und er sei mit der afghanischen Lebensweise nicht vertraut. Er habe keine familiären Anbindungen in Afghanistan, von denen er sich Unterstützung und Schutz erhoffen könnte und wäre im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan völlig auf sich allein gestellt. Dem BF wäre bei richtiger rechtlicher Beurteilung der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liege nicht vor. Auch wäre der BF im Falle einer Rückkehr der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt, weshalb ihm zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei. Der BF sei zudem in Österreich um Integration bemüht.

7. Am 23.04.2021 wurde beim Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung abgehalten, anlässlich deren der BF im Beisein seiner nunmehrigen Rechtsvertretung befragt wurde. Das ebenfalls geladene BFA ließ sich von der Teilnahme an der Verhandlung entschuldigen. Dem BFA wurden eine Ausfertigung des Verhandlungsprotokolls und die anlässlich der Verhandlung vom BF vorgelegten Integrationsnachweise schriftlich zur Kenntnis gebracht.

Der BF führte in der mündlichen Verhandlung näher befragt zu seinen Fluchtgründen in Bezug auf Afghanistan aus, dass er von der Feindschaft der Familie seiner Mutter durch die Erzählungen seiner Eltern erfahren habe. Er wisse davon, dass die Familie seiner Mutter einmal in den Iran gekommen sei, der BF sei zu diesem Zeitpunkt aber bereits in Österreich gewesen. Sein Vater habe bei diesem Vorfall Freunde und Familienangehörige zu sich nach Hause geholt, damit die Familie im Falle eines Angriffs geschützt wäre. Der BF selbst habe die Familie seiner Mutter nie kennengelernt.

Hinsichtlich des Grundes für seine Ausreise aus dem Iran wiederholte der BF im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen, wonach er nach einer Rauferei mit iranischen jungen Männern auf eine Polizeistation mitgenommen worden und vor die Wahl gestellt worden sei: Wenn er bereit wäre, nach Syrien in den Krieg zu ziehen, dann würde er Dokumente und einen Reisepass erhalten, zusätzlich würde auch noch seine Familie unterstützt werden. Wenn nicht, dann würde er nach Afghanistan abgeschoben werden. Daraufhin habe er mit seinem Vater gesprochen und dieser habe ihm die schlepperunterstützte Ausreise organisiert.

Bezüglich seines Aufenthaltes in Österreich brachte der BF vor, dass er einen Kurs zur Vorbereitung auf eine Lehrstelle besuche. Er habe bereits mehrere Teilprüfungen für den Pflichtschulabschluss absolviert. Er habe den Wunsch, in den Bereichen Elektrotechnik oder IT zu arbeiten. In seiner Unterkunft in Österreich unterstützte der BF die Hausbesorgerin bei Reinigungsarbeiten. Er habe ferner österreichische Freunde mit denen er sich in der Freizeit treffe. Der BF wurde zur mündlichen Verhandlung von einer Vertrauensperson begleitet. Diese gab an, dass sie mehrere Flüchtlinge – darunter auch den BF – in Deutsch unterrichtet und auch Spaziergänge mit ihren Schülern unternommen habe. Sie stehe immer noch mit dem BF in Kontakt, aktuell gestalte sich dieser Kontakt Corona-bedingt hauptsächlich über Facebook. Die Vertrauensperson des BF äußerte sich positiv über den BF und beschrieb ihn als freundlich und hilfsbereit. Seitens der Dolmetscherin wurde angemerkt, dass der BF Farsi-Wörter verwende und auch mit einem Farsi-Akzent spreche.

Vorgelegt wurde eine Teilnahmebestätigung XXXX vom 15.02.2019, welche den Besuch von 240 Unterrichtseinheiten zu den Lerninhalte Deutsch als Zweitsprache, Englisch, Mathematik, Geographie, Informations- und Kommunikationstechnologie, Bildungsberatung, Berufsorientierung, Perspektivenarbeit, Bewerbungstraining, Biologie und Politische Bildung bescheinigt. Das Kompetenzniveau des BF wurde laut dieser Teilnahmebestätigung zu Mathematik mit M2, zu Deutsch: Lese- und Hörverstehen mit B1.1, zu Deutsch: Sprechen mit B1.1, zu Deutsch: Schreiben mit A2.2 und zu Englisch mit A2.1 beurteilt. Weiters vorgelegt wurde Bestätigungen XXXX über die Teilnahme am Projekt XXXX , das in der Zeit 01.03.März 2021 bis 31.05.2021 abgehalten wird; ein Antwortschreiben der Stadt XXXX auf eine Stellenbewerbung als Saisonarbeitskraft, wonach die Bewerbung des BF in Evidenz gehalten werde sowie Empfehlungs- bzw. Unterstützungsschreiben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der strafrechtlich unbescholtene BF führt den Namen XXXX , er wurde am XXXX in Afghanistan, Provinz Balkh, in der Stadt Mazar-e Sharif geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger. Der BF gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitischen Glauben. Seine Muttersprache ist Dari. Der BF spricht auch Farsi. Er lebte zunächst mit seinen Eltern und seiner um ca. drei Jahre älteren Schwester in Afghanistan.

Die Eltern des BF stammen aus der Provinz Kunduz, der Stadt XXXX . Der Vater des BF ist Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem. Die Mutter des BF ist Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und wuchs mit dem sunnitischen Glauben auf. Nach dem Wunsch ihrer Eltern hätte sie mit einem ihrer Cousins verheiratet werden sollen. Stattdessen heiratete sie heimlich den Vater des BF und konvertierte zum schiitischen Islam. Da die Familie der Mutter dies nicht verzieh, flüchtete das junge Paar zunächst in verschiedene andere Landesteile Afghanistans. Der BF wurde in Mazar-e Sharif geboren wurde. Im Alter von zwei Jahren übersiedelte der BF mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester schließlich in den Iran. Der BF erfuhr von der Feindschaft mit der Familie seiner Mutter erst später durch die Erzählungen seiner Eltern. Der BF hat neben seiner älteren Schwester ein weitere jüngere Schwester und zwei jüngere Brüder.

Im Iran besuchte der BF neun Jahre lang eine private Schule. Der Besuch einer öffentlichen Schule war ihm nicht möglich. Während der letzten drei Schuljahre, arbeitete der BF in den Sommermonaten als Schneider. Nachdem der BF die Schule beendet hatte, arbeitete er ca. ein Jahr lang in einer Tischlerei, wobei er die meiste Zeit über Holz sägte.

Kurz vor seiner Ausreise aus dem Iran war der BF in einen Raufhandel mit iranischen Jugendlichen verwickelt und wurde deshalb von der Polizei auf eine Polizeistation mitgenommen. Dort wurde dem BF die Abschiebung nach Afghanistan oder ein Kriegseinsatz in Syrien in Aussicht gestellt. Der BF beriet sich danach mit seinem Vater, der ihm in weiterer Folge die schlepperunterstützte Ausreise aus dem Iran Richtung Europa organisierte.

Der BF reiste im Jahr 2015 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er befindet sich seit seiner Antragstellung auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Der BF war zum Zeitpunkt der Einreise minderjährig, mittlerweile ist er volljährig. Der BF ist gesund, ledig und kinderlos. Seine Eltern und die Geschwister leben weiterhin im Iran, die ältere Schwester des BF hat geheiratet und lebt nicht mehr bei der Familie des BF. Der BF hat zu seiner im Iran lebenden Familie regelmäßig telefonischen Kontakt. Er verfügt – abgesehen von den verfeindeten Familienangehörigen mütterlicherseits – über keine aufrechten familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan und er ist mit den örtlichen Gegebenheiten in Afghanistan nicht vertraut.

In Österreich besuchte der BF Deutschkurse, er erwarb im Jahr 2016 ein ÖSD Zertifikat A1 und im Jahr 2017 ein ÖSD Zertifikat A2. Von 15.10.2018 bis 15.02.2019 besuchte der BF XXXX , über die Lerninhalte Deutsch als Zweitsprache, Englisch, Mathematik, Geographie, Informations- und Kommunikationstechnologie, Bildungsberatung, Berufsorientierung, Perspektivenarbeit, Bewerbungstraining, Biologie und Politische Bildung vermittelt wurden. Das Kompetenzniveau des BF zu Mathematik wurde mit M2, zu Deutsch: Lese- und Hörverstehen mit B1.1, zu Deutsch: Sprechen mit B1.1, zu Deutsch: Schreiben mit A2.2 und zu Englisch mit A2.1 beurteilt. Der BF hat sich bei der Stadt XXXX als Saisonarbeitskraft beworben, diese Bewerbung wird laut vorgelegtem Antwortschreiben in Evidenz gehalten. Seit März 2021 nimmt der BF am Projekt XXXX teil, wobei der BF eine laufende Bildungs- und Berufsberatung sowie einen Zugang zu offenen Lerneinheiten erhält. Der BF strebt eine Lehre im Bereich Elektrotechnik oder IT an. Er unterstützt seine Hausbesorgerin bei den Reinigungsarbeiten und er hat österreichische Freunde, mit denen er sich in der Freizeit trifft.

Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

Quellen: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 01.04.2021, EASO Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88. Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort.

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt.

Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein.

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB, Kapitel 5).

UNHCR: Afghanistan ist weiterhin von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt betroffen, bei dem die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF), unterstützt von den internationalen Streitkräften, mehreren regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) gegenüberstehen.

Dem UN-Generalsekretär zufolge steht Afghanistan weiterhin vor immensen sicherheitsbezogenen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Die Sicherheitslage soll sich insgesamt weiter verschlechtert und zu einer sogenannten „erodierenden Pattsituation“ geführt haben. Berichten zufolge haben sich die ANDSF grundsätzlich als fähig erwiesen, die Provinzhauptstädte und die wichtigsten städtischen Zentren zu verteidigen, im ländlichen Raum hingegen mussten sie beträchtliche Gebiete den Taliban überlassen.

Von dem Konflikt sind weiterhin alle Landesteile betroffen. Seit dem Beschluss der Regierung, Bevölkerungszentren und strategische ländliche Gebiete zu verteidigen, haben sich die Kämpfe zwischen regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) und der afghanischen Regierung intensiviert. Es wird berichtet, dass regierungsfeindliche Kräfte immer öfter bewusst auf Zivilisten gerichtete Anschläge durchführen, vor allem durch Selbstmordanschläge mit improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und komplexe Angriffe. Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) setzen ihre groß angelegten Angriffe in Kabul und anderen Städten fort und festigen ihre Kontrolle über ländliche Gebiete. Es wurden Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit und Effektivität der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) geäußert, die Sicherheit und Stabilität in ganz Afghanistan zu gewährleisten.

Trotz der ausdrücklichen Verpflichtung der afghanischen Regierung, ihre nationalen und internationalen Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten, ist der durch sie geleistete Schutz der Menschenrechte weiterhin inkonsistent. Große Teile der Bevölkerung einschließlich Frauen, Kindern, ethnischer Minderheiten, Häftlingen und anderer Gruppen sind Berichten zufolge weiterhin zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch unterschiedliche Akteure ausgesetzt.

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden laut Berichten in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betreffenden Gebiete tatsächlich kontrolliert. In von der Regierung kontrollierten Gebieten kommt es Berichten zufolge regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen durch den Staat und seine Vertreter. In Gebieten, die (teilweise) von regierungsnahen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden, begehen diese Berichten zufolge straflos Menschenrechtsverletzungen. Ähnlich sind in von regierungsfeindlichen Gruppen kontrollierten Gebieten Menschenrechtsverletzungen, darunter durch die Etablierung paralleler Justizstrukturen, weit verbreitet. Zusätzlich begehen sowohl staatliche wie auch nicht-staatliche Akteure Berichten zufolge außerhalb der von ihnen jeweils kontrollierten Gebiete Menschenrechtsverletzungen. Aus Berichten geht hervor, dass besonders schwere Menschenrechtsverletzungen insbesondere in umkämpften Gebieten weit verbreitet sind.

Sogar dort, wo der rechtliche Rahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung der nach nationalem und internationalem Recht bestehenden Verpflichtung Afghanistans diese Rechte zu fördern und zu schützen, in der Praxis oftmals eine Herausforderung. Die Regierungsführung Afghanistans und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach wahrgenommen.

Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung.

Gemäß der Verfassung darf niemand ohne ordentliches Gerichtsverfahren festgenommen oder inhaftiert werden. Die Verfassung enthält außerdem ein absolutes Verbot des Einsatzes von Folter. Der Einsatz von Folter stellt nach dem Strafgesetzbuch eine Straftat dar, während die harte Bestrafung von Kindern durch das Jugendgesetz untersagt ist. Darüber hinausverabschiedete das Oberhaus der Nationalversammlung im Januar 2018 den konsolidierten Wortlaut eines neuen Anti-Folter-Gesetzes.

Trotz dieser Rechtsgarantien bestehen Bedenken hinsichtlich des Einsatzes von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gegenüber Häftlingen, insbesondere von im Zusammenhang mit dem Konflikt verhafteten Personen, denen Unterstützung von regierungsfeindlichen Kräften zur Last gelegt wird und die in Gefängnissen des Inlandsgeheimdienstes (NDS), der afghanischen nationalen Polizei (ANP) (einschließlich der afghanischen nationalen Grenzpolizei ANBP), der afghanischen nationalen Streitkräfte (ANA) und der afghanischen lokalen Polizei (ALP) inhaftiert sind. UNAMA berichtete 2017, dass in vom Inlandsgeheimdienst (NDS) betriebenen Gefängnissen in fünf Provinzen „systematisch oder regelmäßig und weitverbreitet“ gefoltert wird und dass „ausreichend glaubhaften und verlässlichen Berichten zufolge in 17 anderen Provinz- oder staatlichen Einrichtungen des Inlandsgeheimdienstes gefoltert wird“. UNAMA dokumentierte außerdem „systematische Folterung und Misshandlung” in Haftanstalten der afghanischen nationalen Polizei (ANP) oder der afghanischen nationalen Grenzpolizei (ANBP) in den Provinzen Kandahar und Nangarhar sowie „Berichte über Verstöße in 20 anderen Provinzen, wobei die Behandlung von Häftlingen durch die ANP in den Provinzen Farah und Herat” besondere Sorge bereitet. Unter den Inhaftierten, bei denen die Anwendung von Folter festgestellt wurde, befanden sich auch Kinder.

UNHCR ist der Auffassung, dass Personen, die einem oder mehreren der folgenden Risikoprofile entsprechen, abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles möglicherweise internationalen Schutz benötigen:

(1) Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen;

(2) Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen;

(3) Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Zusammenhang mit der Einberufung von Minderjährigen und der Zwangsrekrutierung;

(4) Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden;

(5) Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen die Scharia verstoßen haben;

(6) Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung regierungsfeindlicher Kräfte verstoßen haben;

(7) Frauen mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;

(8) Frauen und Männer, die angeblich gegen gesellschaftliche Normen verstoßen haben;

(9) Personen mit Behinderungen, insbesondere geistigen Beeinträchtigungen, und Personen, die unter psychischen Erkrankungen leiden;

(10) Kinder mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;

(11) Überlebende von Menschenhandel oder Zwangsarbeit und Personen, die entsprechend gefährdet sind;

(12) Personen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und/oder Geschlechtsidentität;

(13) Angehörige gewisser Volksgruppen, insbesondere ethnischer Minderheiten;

(14) An Blutfehden beteiligte Personen, und

(15) Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen (sowie deren Familienangehörige).

Ad 6: Die Taliban haben Berichten zufolge Personen und Gemeinschaften getötet, angegriffen und bedroht, die in der Wahrnehmung der Taliban gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch die Taliban verstoßen haben. In Gebieten, in denen die Taliban versuchen, die lokale Bevölkerung von sich zu überzeugen, nehmen sie Berichten zufolge eine mildere Haltung ein. Sobald sich jedoch die betreffenden Gebiete unter ihrer tatsächlichen Kontrolle befinden, setzen die Taliban ihre strenge Auslegung islamischer Prinzipien, Normen und Werte durch. Es liegen Berichte über Taliban vor, die für das Ministerium der Taliban für die Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters tätig sind, in den Straßen patrouillieren und Personen festnehmen, weil diese sich den Bart abrasiert haben oder Tabak konsumieren. Frauen ist es Berichten zufolge nur in Begleitung ihres Ehemanns oder männlicher Familienmitglieder gestattet, das Haus zu verlassen und ausschließlich zu einigen wenigen genehmigten Zwecken wie beispielsweise einen Arztbesuch. Frauen und Männer, die gegen diese Regeln verstoßen, wurden Berichten zufolge mit öffentlichen Auspeitschungen bestraft, ja sogar getötet. Die Taliban haben öffentlich versucht, die Ermordung religiöser Persönlichkeiten zu rechtfertigen, indem sie die Opfer als Regierungsspione bezeichneten und beschuldigten, „die Regeln des Islams zugunsten der Regierung abzuändern.“ Im Mai 2017 entführten regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) einen vierzehnjährigen Jungen im Distrikt Darah Suf-e-Payin in der Provinz Samangan, nachdem er in einem Hochzeitsvideo, das auf einem sozialen Netzwerk geteilt wurde, auf eine Art und Weise getanzt hatte, die von AGEs als ‚unmoralisch‘ erachtet wurde. Die Taliban überwachten auch weiterhin die sozialen Gewohnheiten der lokalen Bevölkerung in von ihnen kontrollierten Gebieten und bestraften die Einwohner gemäß deren Auslegung islamischen Rechts. Dem Islamischen Staat zugehörige Aufständische waren auf ähnliche Weise aktiv. Im Jahr 2016 sprachen die Taliban und andere aufständische Gruppen Religionsführern gegenüber Todesdrohungen aus, da sie Botschaften predigten, die der Auslegung des Islam oder der politischen Agenda der Taliban widersprachen. Ebenso warnten die Taliban Mullahs davor, Gebete bei Beerdigungen von Sicherheitsbeamten der Regierung zu sprechen. Zwischen Juni und September 2016 töteten die Taliban Berichten zufolge in den Bezirken Rodat und Momand Dara (Provinz Nangarhar) einige Geistliche, darunter auch zwei Imame. Infolgedessen erklärten Imame laut dem Leiter der Abteilung für Medresen (Koranschulen) des Ministeriums für Hadsch und religiöse Angelegenheiten (MOHRA), dass sie Angst davor hatten, Bestattungsrituale für Mitglieder der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) und andere Regierungsbeamte durchzuführen. Die Taliban überwachten auch weiterhin die sozialen Gewohnheiten der lokalen Bevölkerung in von ihnen kontrollierten Gebieten und bestraften die Einwohner gemäß deren Auslegung islamischen Rechts. Dem Islamischen Staat zugehörige Aufständische waren auf ähnliche Weise aktiv. Ab Ende 2017 führt die Sittenpolizei in Gebieten Afghanistans und Pakistans, über die die Taliban die territoriale Kontrolle wiedererlangen konnten, Strafen für Verbrechen ein, die das MPVPV [Ministerium zur Förderung von Tugend und Vermeidung von Lastern] unter der Kontrolle der Taliban durchgesetzt hat. Die Taliban haben eine Schattenregierung und bestrafen all jene durch öffentliche Prügel, die beispielsweise durch Tabakkonsum oder eine Bartrasur gegen die Sitten verstoßen.

Ad 13: Die Bevölkerung Afghanistans besteht aus mehreren unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die traditionell ein hohes Maß an Autonomie gegenüber der Zentralregierung besitzen. Infolge verschiedener historischer Bevölkerungsbewegungen in der Vergangenheit – freiwilliger und erzwungener Art – wohnen einige Angehörige ethnischer Gruppen mittlerweile außerhalb der Gebiete, in denen sie traditionell der Mehrheit angehörten. Daher können Personen, die einer der größten ethnischen Gruppe des Landes angehören, tatsächlich an ihrem Wohnort zu einer ethnischen Minderheit gehören und dementsprechend aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit mit Diskriminierung oder Misshandlungen an ihrem Wohnort konfrontiert sein. Hingegen besteht möglicherweise für ein Mitglied einer ethnischen Gruppe oder eines Clans, der bzw. die auf nationaler Ebene eine Minderheit darstellt, kein Risiko aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit in Gebieten diskriminiert zu werden, in denen diese ethnische Gruppe bzw. dieser Clan lokal die Mehrheit bildet.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass die unterschiedlichen ethnischen Gruppen nicht notwendigerweise homogene Gemeinschaften bilden. Unter Paschtunen können beispielsweise starke Rivalitäten zwischen verschiedenen Untergruppen Spannungen und Konflikte verursachen. Es sei ferner darauf hingewiesen, dass ethnische Zugehörigkeit und Religion oftmals untrennbar miteinander verbunden sind, insbesondere in Bezug auf die ethnische Gruppe der Hazara, die vorwiegend schiitisch ist. Daher ist es nicht immer möglich, zu unterscheiden, ob Religion oder die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe als primärer Grund für Vorfälle oder Spannungen anzusehen ist. Da die politische Zugehörigkeit wiederum oftmals von der ethnischen Zugehörigkeit abhängt, können (vermeintliche) politische Überzeugungen und ethnische Zugehörigkeit untrennbar miteinander verbundene Elemente in Konflikten und Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen sein.

Es bestehen weiterhin starke Trennlinien zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen in Afghanistan. Im „Peoples under Threat”-Index von Minority Rights Group International ist Afghanistan als fünftgefährlichstes Land der Welt für ethnische Minderheiten aufgeführt, insbesondere aufgrund der gezielten Angriffe auf Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe und Religion. Der Index weist insbesondere Hazara, Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Turkmenen und Belutschen als gefährdete ethnische Gruppe in Afghanistan aus.

Die Verfassung garantiert die „Gleichheit aller ethnischen Gruppen und Stämme“. Dennoch klagen Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen über Diskriminierung von staatlicher Seite auch in Form von ungleicher Behandlung bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst und beim Zugang zu medizinischer Versorgung in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Ad 14: Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu lang anhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat.

Tazkira und Reisepass

Eine Tazkira wird nur afghanischen Staatsangehörigen nach Registrierung und dadurch erfolgtem Nachweis der Abstammung von einem Afghanen ausgestellt. In der Regel erfolgt der Nachweis der Abstammung durch die Vorlage der Tazkira eines Verwandten 1. Grades oder durch Zeugenerklärungen in Afghanistan (AA 16.7.2020).

In einem Bericht der afghanischen Regierung vom April 2019 über die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention findet sich die Information, dass für die Ausstellung einer Tazkira die Zeugenaussagen von zwei Personen nötig sind, die Inhaber von einer Tazkira sein müssen. Darüber hinaus muss die Identität des Antragstellers von lokalen Behörden bestätigt werden (ACCORD 15.6.2020). Eine andere Quelle weist darauf hin, dass man bei Beantragung einer Tazkira eine Geburtsurkunde vorweisen muss, dass allerdings die Mehrheit der Afghanen noch immer nicht im Besitz einer solchen ist. Wenn keine Geburtsurkunde vorgewiesen werden kann, ist es erforderlich, die Tazkira eines männlichen Familienmitglieds väterlicherseits (Vater, Bruder, Onkel oder Cousin) vorzuweisen (LI 22.5.2019; vgl. ACCORD 15.6.2020). Will jemand sich beispielsweise in Kabul eine Tazkira ausstellen lassen und kann seine Identität nicht beweisen, so muss diese Person in das Heimatgebiet ihres Vaters oder Großvaters zurückkehren. Dort kann versucht werden, einen Identitätsnachweis vonseiten des lokalen Dorfvorstehers zu erhalten. Dieser kann dann bei den örtlichen Behörden eingereicht werden, die auf dessen Grundlage eine Tazkira ausstellen (ACCORD 15.6.2020).

In der Tazkira sind Informationen zu Vater und Großvater, jedoch nicht zur Mutter enthalten. Erst seit ca. 2014 gibt es die Möglichkeit, eine Birth Registration Card zu beantragen, in der ein konkretes Geburtsdatum und die Mutter eines Kindes genannt wird. Diese kann aber auch jederzeit nachträglich für Personen ausgestellt werden, die vor 2014 geboren wurden. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Ausstellung daher ohne weitere Prüfung vorgenommen wird (AA 16.7.2020).

Das afghanische Bevölkerungsgesetz von 2014 beinhaltet u.a. Regelungen zur Bürgerregistrierung. Gemäß Artikel 9 des Gesetzes sollen Tazkira zum Zwecke des Identitätsnachweises und der Bevölkerungsregistrierung ausgestellt werden (NLB/NA 2014). Eine Tazkira wird benötigt, um sich als Wähler registrieren zu lassen. Erstmals in der Geschichte des Landes wurden für die Parlamentswahlen 2018 wahlberechtigte Bürger für ein bestimmtes Wahllokal registriert.

Die Bestätigung der Registrierung als Wähler, die auf der Tazkira angebracht wird, beinhaltet Informationen zum Wohnort (Provinz und Distrikt) sowie zum Wahllokal.

Tazkira können sowohl in der Hauptstadt Kabul als auch dem jeweiligen Geburtsort in Afghanistan, nicht jedoch von afghanischen Auslandsvertretungen ausgestellt werden, so dass es vorkommen kann, dass eine Person mehrere echte Tazkira mit unterschiedlichen Daten besitzt (AA 16.7.2020). Tazkira können zwar nicht von afghanischen Auslandsvertretungen ausgestellt, jedoch über eine afghanische Auslandsvertretung beim afghanischen Innenministerium beantragt werden (AA 16.7.2020; vgl. AFB BER 22.10.2018). Der Antragsteller muss in diesem Fall im nächstgelegenen afghanischen Konsulat einen Termin vereinbaren und eine Kopie der Tazkira von Vater oder Geschwistern, sowie ein ausgefülltes und unterschriebenes Antragsformular vorlegen. Das Konsulat schickt einen Scan des Formulars an die Abteilung für Bevölkerungsentwicklung in Afghanistan. Das Original des Antragsformulars muss vom Antragsteller nach Afghanistan geschickt und von einem Vertreter persönlich bei der Abteilung für Bevölkerungsstatistik eingereicht werden. Nach einem internen Prozess in der Abteilung für Bevölkerungsstatistik wird die Tazkira innerhalb von 1-3 Monaten ausgestellt und dem Vertreter übergeben. Dieser kann die Tazkira dann dem Antragsteller zusenden (RA KBL 12.10.2020a; vgl. AFB BER 22.10.2018).

Die Vorlage einer Tazkira ist Voraussetzung für die Ausstellung eines Reisepasses. Seit Ausstellung maschinenlesbarer Reisepässe im Jahr 2014 muss bei Passbeantragung ein Familienname bestimmt werden. Die Bestimmung erfolgt ohne rechtliche Grundlage und ohne Dokumentation. Die Angaben, insbesondere Namen und Geburtsdatum, in Tazkira und Reisepass einer Person stimmen daher häufig nicht miteinander überein (AA 16.7.2020).

Provinz Kunduz:

Die Provinz Kunduz liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Tadschikistan, im Osten an die Provinz Takhar, im Süden an die Provinz Baghlan und im Westen an die Provinz Balkh (UNOCHA Kunduz 4.2014). Die Provinzhauptstadt ist Kunduz (Stadt) (OP Kunduz 1.2.1017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Ali Abad, Chahar Darah (Chardarah), Dasht-e-Archi, (Hazrati) Imam Sahib, Khan Abad, Kunduz und Qala-e-Zal (NSIA 1.6.2020; cf. IEC Kunduz2019), sowie die temporären Distrikte Aqtash, Calbad (Gulbad) und Gultipa (NSIA 1.6.2020).Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits-oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch)nicht erteilt hat (AAN 16.8.2018).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Kunduz im Zeitraum 2020-21 auf 1,136.677 Personen, 365.529 davon in der Provinzhauptstadt (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara, Aymaq und Pashai (NPS Kunduz o.D.; vgl. OP Kunduz 1.2.2017).

Strategisch wurde Kunduz als „Tor im Norden“ zu den bodenschatzreichen Provinzen und nach Zentralasien bezeichnet. Es ist ein Knotenpunkt für Transport (REU 14.9.2020) und Drogenschmuggel (REU 14.9.2020; vgl. UNSC 27.5.2020). Ein Abschnitt des asiatischen Highway AH7 führt von Kabul aus durch die Provinzen Parwan und Baghlan und verbindet die Hauptstadt mit der Provinz Kunduz und dem Grenzübergang nach Tadschikistan beim Hafen von Sher Khan (auch Sher Khan Bandar) (MoPW 16.10.2015; vgl. LCA 24.4.2019, RFE/RL 26.8.2007). Der

National Highway 93 (NH93) verläuft von Kunduz ostwärts durch den Distrikt Khanabad nach Takhar und Badakhshan (MoPW 16.10.2015; vgl. UNOCHA Kunduz 4.2014, AAN 12.10.2016).

In Richtung Khulm in der Provinz Balkh im Westen befindet sich ein National Highway derzeit in Bau. Es wird erwartet, dass die Wegstrecke und -zeit zwischen Kunduz und Khulm durch seine Fertigstellung erheblich verkürzt wird (GAFG 23.8.2020, GIZ 7.2019).

Laut Bewohnern von Kunduz stellt die Unsicherheit auf den Landrouten in der Provinz eine große Herausforderung dar (FRP 30.9.2020; vgl. PAJ 22.6.2020). Die Strecke von Kunduz in Richtung Süden nach Baghlan wurde im Juni 2020 als „gut gepflastert und ruhig“ beschrieben, wiewohl sie teilweise durch Taliban-Territorium führt (TEL 10.6.2020). Aufständische errichten dort (TEL 10.6.2020, PAJ 22.6.2020) wie auch auf der Strecke Takhar-Kunduz Kontrollpunkte (PAJ 22.6.2020, ST 8.6.2020, AAN 21.3.2020). Der NH93 zwischen Takhar und Kunduz war zudem im Jahr 2020 wegen Kämpfen vorübergehend gesperrt (XI 6.10.2020, MENAFN 15.8.2020, ST 8.6.2020). Mit Stand November 2020 gibt es Linienflugverbindungen zwischen Kabul und Kunduz (Kam Air Kunduz o.D., FRP 30.9.2020).

Kunduz war die letzte Taliban-Hochburg vor deren Sturz 2001 (RFE/RL o.D.). Sowohl 2015 als auch 2016 kam es zu einer kurzfristigen Einnahme der Provinzhauptstadt Kunduz City durch die Taliban (UNAMA 24.2.2019) und auch Ende August 2019 nahmen die Taliban kurzzeitig Teile der Stadt ein (BAMF 2.9.2019): Keine andere Provinzhauptstadt ist von allen Seiten so nachhaltig unter Druck geraten. Die Taliban infiltrieren weiterhin ihre Außenbezirke (AAN 12.10.2020). Laut einer Quelle vom Oktober 2019 versuchen die Taliban, Kunduz-Stadt jährlich anzugreifen, um zu zeigen, dass sie dazu fähig sind (STDOK 21.7.2020). Im November 2020 schätzte das Long War Journal (LWJ) die Distrikte Aqtash, Calbad, Dasht-e-Archi, Gultipa und Khan Abad im Osten sowie Qala-e-Zal im Westen als unter Talibankontrolle stehend ein. Die übrigen Distrikte galten als umstritten (LWJ o.D.), während eine andere Quelle schätzte, dass im Oktober 2019 ganz Kunduz abseits seiner Verwaltungszentren unter der Kontrolle der Taliban stand (STDOK 21.7.2020). Al Qaida ist in der Provinz verdeckt aktiv. Darüber hinaus operiert das unter dem Kommando und der finanziellen Kontrolle der Taliban stehende Islamic Movement of Uzbekistan (IMU, manchmal auch Jundullah genannt) und auch das Eastern Turkestan Islamic Movement (ETIM) in Kunduz (UNSC 27.5.2020). Nach afghanischen Militäroperationen in Kunduz in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 zerstreuten sich ausländische terroristische Kämpfer aus China, Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan und anderswo in kleine Gruppen und flüchteten in andere Provinzen (UN-Sicherheitsrat 20.1.2020). 2019 wurde berichtet, dass Zellen des Islamischen Staates in Kunduz aufgetaucht seien (NYT 14.6.2019; vgl. JF 6.4.2018) [zu einer Präsenz des ISKP in Kunduz konnten jedoch keine aktuellen Informationen gefunden werden, Anm.].

Auf Regierungsseite befindet sich Kunduz im Verantwortungsbereich des 217. Afghan National Army (ANA) „Pamir“ Corps (USDOD 1.7.2020, TST 17.6.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Ende November zog die Bundeswehr aus ihrem Stützpunkt in Kunduz ab. Die Soldaten wurden nach Mazar-e Sharif verlegt (BAMF 30.11.2020).

Ende August und im Mai 2020 starteten die Taliban Offensiven gegen die Stadt Kunduz, wobei sie im August mehrere Kontrollpunkte und zwei Stützpunkte an den Hauptverkehrsstraßen in die Stadt einnahmen und im Mai Außenposten im Sicherheitsgürtel um die Stadt aus mehreren Richtungen angriffen. Unterstützt von der afghanischen Luftwaffe konnten beide Offensiven schließlich abgewehrt werden (REU 14.9.2020, NYT 19.5.2020, FR24 19.5.2020, WP 19.5.2020). Weitere Taliban-Angriffe auf Distriktzentren (XI 8.9.2020, NYTM 30.4.2020) und Sicherheitsposten in verschiedenen Distrikten wurden gemeldet (GW 3.11.2020, NYTM 29.10.2020, XI 28.9.2020, PT 20.9.2020, NYTM 28.8.2020, VOA 20.7.2020, TST 17.6.2020, NYTM 30.4.2020, NYTM 27.2.2020, GW 16.1.2020) und die Regierungstruppen führten in Kunduz Operationen und Vergeltungsschläge aus der Luft durch (XI 6.10.2020, PT 20.9.2020, MENAFN 21.8.2020,KP 17.12.2019). Es wurde über Vorfälle mit IEDs berichtet, wie z.B. Detonationen von Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 29.10.2020, NYTM 1.10.2020, AJ 2.6.2020, NYTM 27.2.2.2020, PAJ 14.2.2.2020) und eines an einem Fahrzeug befestigten IEDs (vehicle-borne IED, VBIED) in Kunduz-Stadt (FR24 19.5.2020). Auch fand ein Angriff auf Sicherheitspersonal auf dem Gelände des Gouverneursgebäudes in Kunduz-Stadt statt, bei dem möglicherweise ein an einer kleinen Drohne befestigter Sprengsatz verwendet wurde (NYT 1.11.2020b; vgl. TRT 24.11.2020). Weiters wurde auch über Entführungen und Tötungen in der Provinz berichtet (NYTM 29.10.2020, NYTM 27.2.2020).

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde weiters durch Abhaltung der mündlichen Verhandlung vom 23.04.2021.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit des BF, ferner zu seinen Sprachkenntnissen, seiner Schulbildung und Berufserfahrung beruhen auf seinen plausiblen, im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben. Unterstrichen werden die Angaben des BF über sein Aufwachsen im Iran durch die Anmerkung der Dolmetscherin, wonach der BF Dari mit einem deutlichen Farsi-Akzent spreche. Das Geburtsdatum des BF wurde auf Grundlage eines gerichtsmedizinischen Gutachtens für forensische Altersdiagnostik festgelegt. Sein aktueller Wohnort ergibt sich aus dem zentralen Melderegister der Republik Österreich. Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem österreichischen Strafregister. Dass der BF gesund und arbeitsfähig ist, ergibt sich aus seinem eigenen Vorbringen, zuletzt in der mündlichen Verhandlung.

Die Feststellungen zu den individuellen Verhältnissen des BF, v.a. hinsichtlich des Fehlens eines unterstützungsfähigen bzw. unterstützungswilligen familiären oder sozialen Netzes in Afghanistan, beruhen auf seinen diesbezüglich glaubwürdigen Angaben, zuletzt in der mündlichen Verhandlung. Da der BF Afghanistan bereits in seiner frühen Kindheit verlassen hat und seither nicht mehr zurückgekehrt ist und seine in Afghanistan lebenden Verwandten nie persönlich kennen gelernt hat, erscheint es nachvollziehbar, dass kein Kontakt zu Personen in Afghanistan besteht bzw. dass der BF keine Angaben über etwaige noch im Herkunftsstaat aufhältige Verwandte – abgesehen von der Familie mütterlicherseits, die den Kontakt zu den Eltern des BF über Jahre bewusst abgebrochen hatten – machen konnte. Es war daher festzustellen, dass der BF über keinerlei unterstützungsfähiges bzw. unterstützungswilliges familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan verfügt.

Betreffend die Integration des BF in Österreich wurden dessen Angaben im Verfahren sowie die im Laufe des Verfahrens vorgelegten Unterlagen den Feststellungen zugrunde gelegt. Die Feststellungen zu seinen in Österreich besuchten Kursen ergeben sich aus den vorgelegten Teilnahmebestätigungen und Zertifikaten. Darunter befinden sich ÖSD Zertifikate A1 und A2 sowie Bestätigungen über die Teilnahme an mehreren Deutschkursen. Weiters vorgelegt wurden ein Zertifikat von XXXX , eine Teilnahmebestätigung XXXX , Bestätigungen XXXX über die Teilnahme am Projekt XXXX , ein Antwortschreiben der Stadt XXXX auf eine Stellenbewerbung als Saisonarbeitskraft sowie mehrere Empfehlungs- bzw. Unterstützungsschreiben.

Soweit der BF vorbrachte, dass ihm aufgrund eines Konflikts zwischen dem Familienverband mütterlicherseits und seinen Eltern Gefahr durch Blutrache drohe, so hat der BF sein diesbezügliches Vorbringen im Laufe des Verfahrens relativiert: Während der BF noch vor dem BFA und in der Beschwerde davon sprach, dass die Familienangehörigen seiner Mutter mehrmals in den Iran gereist wären, um seine Eltern zwecks Vergeltung zu suchen, so gab der BF in der mündlichen Verhandlung an, dass diese nur einmal im Iran gewesen wären. Der BF selbst sei jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits in Österreich gewesen. Aus Erzählungen wisse er, dass sein Vater viele Freunde in sein Haus eingeladen habe, und so Angriffe (wie befürchtet) verhindern habe können. Auf die Frage, was konkret von den Familienangehörigen der Mutter zu befürchten sei, antwortete der BF, dass diese „Unheil“ bringen würden. Für den vorliegenden Fall ist daraus zu schließen, dass die Mutter des BF, als sie seinerzeit, vor mehr als 20 Jahre, gegen den Willen ihrer Eltern den Vater des BF heiratete und ihre Glaubensrichtung wechselte, in ihrer eigenen Familie Kränkung ausgelöst hat. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass diese Kränkung heute nicht mehr in der Weise nachwirkt, dass die Familie des BF nun mit dem Leben bedroht wäre. Eine Gefahrenlage, wie sie von der UNHCR-Richtlinien wie oben zusammengefasst in typischer Weise als Auslöser von Blutrache dargelegt wird, ist aus diesen Feststellungen nicht abzuleiten. Eine aktuelle Bedrohung, die sich auch auf den BF selbst erstrecken würde, ist nicht ersichtlich.

Soweit der BF vorbringt, dass er sich zur Beantragung einer Tazkira in seine Heimatregion begeben müsste, so findet auch diese Behauptung nicht ihre Bestätigung in den einschlägigen Quellen der Staatendokumentation. Vielmehr ergibt sich daraus, dass nicht jeder afghanische Bürger eine Tazkira besitzt und diese für einen Aufenthalt in Afghanistan auch nicht zwingend benötigt. Eine Reise in die Herkunftsprovinz zur Ausstellung der Tazkira ist zudem nicht jedenfalls unvermeidbar, da es mehrere Wege gibt, die eigene Abstammung zu belegen.

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation in Afghanistan stützen sich auf die zitierten Quellen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A)

Zur Frage der Asylberechtigung:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256). Die Voraussetzung der "wohlbegründeten Furcht" vor Verfolgung wird in der Regel aber nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. u.a. VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265). Die entfernte Möglichkeit einer solchen Verfolgung reicht für die Feststellung von Asylrelevanz nicht aus (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185).

Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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