TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/31 W155 2206543-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.05.2021
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Entscheidungsdatum

31.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W155 2206535-1/18E

W155 2206543-1/17E

W155 2206545-1/10E

W155 2206538-1/9E

W155 2206541-1/11E

W155 2238532-2/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KRASA über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. mj. XXXX , geb. XXXX , 4 XXXX , geb XXXX , 5. mj. XXXX , geb. XXXX , und 6. XXXX , geb. XXXX , alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, alle vertreten durch die BBU GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.08.2018, Zahlen 1. XXXX 2. XXXX , 3. XXXX , 4. XXXX 5. XXXX und vom 03.02.2021, Zahl XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG (jeweils) nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) sind verheiratet und Eltern von vier minderjährigen Kindern. Sie sind Angehörige der islamischen Republik Afghanistan und stellten für sich und die Dritt- und Viertbeschwerdeführer (BF3, BF4) nach Umgehung der Einreisebestimmungen am 09.05.2016 Anträge auf internationalen Schutz. Für die in Österreich geborenen Kinder (BF5 und BF6) wurde der Asylantrag am 21.02.2018 bzw. 17.12.2020 im Familienverfahren gestellt.

Am Tag der Antragstellung gab der BF1 bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes zum Fluchtgrund Folgendes an: „Ich war selbständig und die Taliban wollten Geld von mir. Ich wurde von diesen bedroht und verließ aus Angst mit meiner Familie das Land. Das sind alle meine Fluchtgründe.“ Bei einer Rückkehr in das Heimatland befürchtet er: „dass die Taliban mir [ihm] und seiner Familie etwas antun werden“.

Die BF2 führte aus: „In unserer Ortschaft befinden sich Taliban. Dort gibt es Krieg, wir konnten nicht einmal das Haus verlassen, weshalb ich Afghanistan verlassen habe. Dies ist der einzige Fluchtgrund“. Bei einer Rückkehr fürchtet sie die Herrschaft der Taliban.

Die minderjährigen Beschwerdeführer wurden aufgrund ihrer kindlichen Alters nicht einvernommen.

Im Rahmen der am 29.03.2018 durchgeführten Einvernahmen durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) wiederholten die Beschwerdeführer ihre Angaben zu Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Herkunft und Lebens- und Familienverhältnissen. Zum Fluchtgrund gab der BF1 zusammengefasst an, dass seine Frau mit den Taliban wegen ihres Geschäftes (Schneiderei) Probleme bekommen habe. Sie sei von den Taliban gesehen worden, als sie mit einer Kundin im Geschäft gewesen sei. Die Taliban hätten sie entführen wollen. Sie hätten Sie geschlagen, sodass sie bewusstlos geworden und von einem Arzt behandelt worden sei. In der Moschee hätte die Taliban gedroht, seine Frau nach der Geburt des Kindes zu steinigen. Sie hätten eine Strafzahlung für die Öffnung des Geschäftes verlangt, entweder eine Waffenlieferung, eine Geldsumme oder das Mitmachen beim Jihad innerhalb einer Frist von 4 Tagen. Danach hätten sie beschlossen, Afghanistan zu verlassen.

Die BF2 gab im Wesentlichen zusammengefasst an, dass sie die Aufforderung der Taliban, keine Geschäfte zu führen wegen einer Kundin habe nicht einhalten können und sei deswegen geschlagen worden und mit dem Steinigen nach der Geburt ihres Kindes bedroht worden. Drei oder vier Tage später hätten sie das Dorf verlassen. Ihre Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe.

Folgende Unterlagen wurden vorgelegt:

?        Teilnahmebestätigung VHS Deutsch A1/1 (Deutsch als Fremdsprache) betreffend BF1 v. 13.09.2016

?        Teilnahmebestätigung VHS Deutsch A1/2 (Deutsch als Fremdsprache) betreffend BF1 v. 24.04.2017

?        Kursbestätigung Alpha Teil 2 für AsylwerberInnen VHS v. 05.12.2017 betr. BF1

?        Teilnahmebestätigung VHS OÖ Deutsch A1/1 v. 16.01.2018 betr. BF1

?        Kursbestätigung Deutsch A1 für AsylwerberInnen v. 08.03.2018 betr. BF1He

?        2 Empfehlungsschreiben betr. BF1

?        Urkunde Marillenturnier 2017 Sektion Fußball betr. BF1

?        Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs v. 24.03.2017 betr. BF1

?        Bestätigung über die Ausübung gemeinnütziger Tätigkeiten in einer Marktgemeinde v. 18.01.2018 u. 22.03.2018 betr. BF1

?        (übersetzte) Heiratsurkunde

?        (übersetzte) Geburtsurkunde der BF2

Mit den angefochtenen Bescheiden vom 23.08.2018 bzw. 03.02.2021 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführern nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gegen sie eine Rückkehrentscheidungen erlassen (IV). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen beträgt (Spruchpunkt VI.).

Die belangte Behörde traf Feststellungen zu den Beschwerdeführern, zu den Gründen für das Verlassen ihres Herkunftsstaates, zur Situation im Falle ihrer Rückkehr sowie zur Lage in Afghanistan und führte in der Begründung an, dass die vorgebrachten Fluchtgründe nicht glaubhaft seien und nicht zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und zur Gewährung des Asylstatus führen könnten. Unter Zugrundelegung des Fluchtvorbringens sei nicht feststellbar, dass den Beschwerdeführern in Afghanistan Verfolgung aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung drohe. Aufgrund der Feststellungen zur gewährleisteten Grundversorgung in Afghanistan sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würden.

Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden Beschwerden vom 10.09.2018 (BF1 bis BF5) bzw. 22.02.2021 (BF6), in welchen unzureichende Länderfeststellungen, ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, eine mangelhafte Beweiswürdigung sowie eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht werden. Den Beschwerdeführern hätte zumindest subsidiärer Schutz gewährt werden müssen. Zudem werde auf die westliche Orientierung der BF2 hingewiesen. Die Beschwerdeführer seien bestens integriert, werden geschätzt und haben viele Freunde und Bekannte. Ihnen drohe wegen einer unterstellten oppositionellen Gesinnung gegen die Taliban asylrelevante Verfolgung in Afghanistan. Der BF2 und der minderjährigen BF3 drohe aufgrund ihrer Eigenschaft als Mädchen/Frau eine asylrelevante Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Es liege keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vor und sei der Herkunftsstaat nicht in der Lage bzw. willens, die Beschwerdeführer vor Verfolgungshandlungen zu schützen. Die Beschwerdeführer seien sehr bemüht, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Der BF1 habe schon mehrmals den Deutschkurs A1 gemacht, tue sich jedoch schwer, da er Analphabet sei. Die BF2 habe den Alphabetisierungskurs gemacht und beginne im Oktober mit dem A2 Kurs. Die BF3 besuche die Volksschule und spreche gut Deutsch.

Vorgelegt wurden in weitere Unterlagen:

?        Konvolut an Empfehlungsschreiben betreffend den BF1 und die BF2

?        Fotos in Kopie

?        ÖIF Zertifikat Deutsch A1 betr. BF2

?        Teilnahmebestätigung Deutschtraining A1 betr. BF2 v. 28.05.2020

?        private Bestätigung betreffend die Durchführung von Reinigungsarbeiten durch die BF2 per Dienstleistungscheck v. 24.05.2020

?        Bestätigung betr. Mithilfe des BF1 beim „fünften Straßenspektakel“ v. XXXX

?        Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs betr. BF2 v. 27.09.2018

?        Bestätigung betr. Mitgliedschaft des BF1 bei einem Fitnessclub

?        Bestätigung Ausbildung „Erste Hilfe Basiskurs“ betr. BF1 v. 26.07.2018

?        Bestätigung Beschäftigung BF1 bei einer Gemeinde v.09.06.2020

?        ÖSD Zertifikat Deutsch A1 betr. BF1 v. 10.04.2019

?        Kopie Mutter-Kind-Pass

?        Stellungnahme der VS zum Schulbesuch der BF3 v. 27.05.2020

?        Stellungnahme zum Kindergartenbesuch v. BF4 v. 19.0.2020

?        Bestätigung einer Marktgemeinde v. 20.05.2020 betr. Verrichtung gemeinnütziger Tätigkeiten durch den BF1 und die BF2

?        Anzeige bei der Polizei („Bittschrift“) vom 21.12.2015

Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 24.09.2018 bzw. 24.02.2021 (BF6) von der belangten Behörde vorgelegt und langten beim Bundesverwaltungsgericht am 26.09.2018 bzw. am 25.02.2021 (BF6) ein.

Am 15.06.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der den Beschwerdeführern – in Anwesenheit ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und einem Dolmetscher für die Sprache Usbekisch Gelegenheit geboten wurde, Vorbringen zu erstatten und auf Fragen bzw Vorhalte des Gerichts zu antworten. Die belangte Behörde blieb entschuldigt der Verhandlung fern.

In einer Stellungnahme vom 29.06.2020 führten die Beschwerdeführer zusammenfassend im Wesentlichen zur westlichen Orientierung und deren Asylrelevanz sowie zur Gruppe der Frauen aus. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei für sie keinesfalls zumutbar. Aufgrund der aktuellen Covid-Pandemie sei das afghanische Gesundheitssystem weder in der Lage, eine adäquate Versorgung an Covid erkrankten Personen zu gewährleisten, noch würden Maßnahmen zur Eindämmung des Virus Wirkung zeigen. Ihnen wäre jedenfalls der Status der subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch Einsicht in den Behördenakt, insbesondere die Befragungsprotokolle; Einsicht in die Behördenakten der Familienmitglieder, insbesondere vorhandene Befragungsprotokolle; Einvernahme des BF1 und der BF2 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung; Einsicht in die hinreichend aktuellen Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat und in die von den Beschwerdeführern vorgelegten Unterlagen sowie Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

Zur Person der Beschwerdeführer:

Der BF1 und die BF2 sind verheiratet. Sie sind die leiblichen Eltern der BF3 bis BF6. BF5 und BF6 wurden in Österreich geboren. Die Beschwerdeführer führen die im Spruch angeführten Namen und Geburtsdaten. Sie sind afghanische Staatsangehörige sowie Angehörige der Volksgruppe der Usbeken und bekennen sich zum sunnitischen Glauben, den sie auch praktizieren. Ihre Muttersprache ist usbekisch.

Der BF1, die BF2, die BF3 und der BF4 stammen aus der Provinz XXXX . Der BF1 verließ Afghanistan im Alter von 22 Jahren erstmals und reiste in den Iran, wo er sich etwa 3 Jahre aufhielt, ehe er nach Afghanistan zurückgekehrte. Er hielt sich in der Folge für 6 Monate in Afghanistan auf und zog erneut in den Iran, wo 2,5 Jahre weilte. Er kehrte wieder nach Afghanistan zurück, wo er schließlich bis zu seiner Ausreise nach Europa lebte. Die BF2 lebte in Afghanistan bis zu ihrer Ausreise nach Europa.

Der BF1 und die BF2 verfügen über keine Schul- und Berufsausbildung, jedoch über Arbeitserfahrung. Der BF1 hat für etwa 2 Jahre eine Koranschule besucht. Der BF1 arbeitete mit seinem Vater in der Landwirtschaft, später handelte er mit Getreide. Im Iran war er im Baugewerbe tätig. Die finanzielle Lage war gut. Die BF2 beherrscht das Handwerk des Schneiderns und betrieb im Hause ihres Vaters eine Schneiderei.

Die Eltern des BF1, ein Bruder und seine Schwestern leben nach wie vor im Heimatdorf, ein Bruder lebt im Iran, ein Bruder mit Familie in Deutschland. Weitere Verwandte leben in Afghanistan. Der BF1 hat regelmäßig Kontakt zu seinen Eltern. Die Eltern der BF2 und eine Schwester leben im Heimatdorf, zwei Brüder im Iran und ein Bruder in Deutschland.

Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Der BF1, die BF2, die BF3 und der BF4 halten sich seit ihren Antragstellungen am 29.05.2016 bzw. der BF5 und die BF6 seit ihrer Geburt durchgehend auf Grund des vorläufigen Aufenthaltsrechts im Asylverfahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf und beziehen Leistungen aus der Grundversorgung.

Der BF1 hat in Österreich Sprachkenntnisse auf dem Niveau A1 nachweislich erworben. Er besuchte einen Werte- und Orientierungskurs und einen Erste-Hilfe-Basis-Kurs. Er führte gemeinnützige Gemeindetätigkeiten durch und wirkte bei Veranstaltungen mit.

Die BF2 hat in Österreich ebenso nachweislich Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 erworben und besuchte einen Werte- und Orientierungskurs. Sie arbeitete als Reinigungskraft mittels Dienstleistungscheck bei Privatpersonen und führte im Rahmen der Marktgemeinde gemeinnützige Tätigkeiten durch.

Die BF3 besucht in Österreich die Volksschule. Der BF4 besucht in Österreich den Kindergarten.

Die Beschwerdeführer verfügen in Österreich über soziale Anknüpfungspunkte in Form eines Bekanntenkreises. Sie beteiligen sich am gesellschaftlichen Leben, insbesondere im Rahmen ihrer gemeinnützigen Arbeiten.

Die Beschwerdeführer leiden an keinen lebensbedrohenden Erkrankungen.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten bzw. noch strafunmündig.

Zu den Fluchtgründen

Die Beschwerdeführer waren in ihrem Herkunftsstaat Afghanistan keiner Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt, insbesondere keiner Verfolgung durch die Taliban. Im Falle einer Rückkehr droht keine Verfolgung aus diesen Gründen. Insbesondere unterliegen sie im Falle einer Rückkehr keiner Verfolgung durch die Taliban.

Die Beschwerdeführer sind in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft oder nicht strafmündig. Sie haben sich im Herkunftsstaat nicht politisch betätigt, waren nicht Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung und hatten keine Probleme mit den Behörden im Herkunftsstaat.

Die weiblichen Beschwerdeführer waren und sind im Herkunftsstaat alleine aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

Die Lebensführung der BF2 bringt teilweise die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck. Die Abkehr von den herrschenden politischen bzw. religiösen Normen für Frauen in Afghanistan ist nicht so grundlegend, dass bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung zu rechnen ist. Die Lebensführung ist nicht zu einem wesentlichen Bestandteil der Identität der BF2 geworden. Bei der BF2 handelt es sich nicht um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie erledigt in Österreich die Hausarbeit und Einkäufe. Sie hat ein eigenes Konto sowie eine Bankomatkarte. Entscheidungen betreffend Einkäufe werden von der BF2 gemeinsam mit dem BF1 getroffen. Sie erledigt Reinigungsarbeiten für einen Privathaushalt. Sie spricht Deutsch auf einfachem Niveau. In ihrer Freizeit geht die BF2 in ein Sprachcafe, mit ihren Kindern spazieren oder in ein Bad und Radfahren. Die Ausübung ihrer hier in Österreich gelebten Lebensweise ist auch in den Großstädten Afghanistans möglich. Im Rahmen seiner Möglichkeiten wird ihr Mann sie auch in Afghanistan unterstützen.

Bei der BF3 und der BF6 (Säugling) ist keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung zu erkennen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines „westlichen Verhaltens“ oder eine „westlichen Lebensführung“ als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden kann.

Dem BF4 und dem BF5 sowie der BF3 sowie der BF6 würden alleine aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physische und/oder psychische Gewalt asylrelevanter Intensität drohen.

Zur Rückkehr in das Herkunftsland:

Eine Rückkehr der Beschwerdeführer in ihre Herkunftsprovinz XXXX ist nicht zumutbar, da diese Provinz als volatil einzustufen ist.

Dem BF1 wäre es jedoch möglich und zumutbar, sich stattdessen in Herat oder auch in Mazar-e Sharif niederzulassen. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache vertraut. Er ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und verfügt über berufliche Erfahrungen als Landwirt, Bauarbeiter sowie als Getreidehändler. Er verfügt zudem über familiäre Anknüpfungspunkte, da sich seine Eltern sowie seine Geschwister sowie Onkel und Tanten nach wie vor in Afghanistan aufhalten. Er könnte angesichts seines guten Gesundheitszustandes, seiner Arbeitsfähigkeit und seiner Berufserfahrung in Herat oder Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern, wobei er seine Berufserfahrung nutzen könnte. Der BF1 konnte auch bisher durch seine beruflichen Tätigkeiten für sich und seine Familie sorgen. Ihm wäre daher auch der Aufbau einer Existenzgrundlage in Afghanistan möglich. Der BF1 wäre in der Lage, eine einfache Unterkunft für sich und die Familie zu finden. Der BF1 hätte zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Im Ergebnis ist aufgrund Arbeitsfähigkeit und der bisherigen Berufserfahrung von einer Selbst- und Familienerhaltungsfähigkeit des BF1 auszugehen.

Der BF2 wäre es alleine nicht möglich und zumutbar, sich in Herat oder in Mazar-e Sharif niederzulassen. Sie verfügt über keine Berufsausbildung, hat aber als Schneiderin gearbeitet. Sie ist noch nie selbst für ihren Unterhalt allein aufgekommen. Da jedoch der BF1 für ihren Unterhalt sorgen könnte und dies auch in der Vergangenheit seit der Eheschließung getan hat, wäre der BF2 eine Rückkehr im Familienverband sehr wohl möglich und zumutbar.

Bei den BF3 bis BF6 handelt es sich um unmündige Minderjährige im Alter von 10 Jahren (BF3), 5 Jahren (BF4), 3 Jahren (BF5) sowie etwa 5 Monaten (BF6), die im Familienverband mit ihren Eltern leben und weder über eigenes Vermögen noch über eine eigene Möglichkeit der Existenzsicherung verfügen. Da jedoch der BF1 bisher schon für das Familieneinkommen und damit auch für die Versorgung der Genannten aufgekommen ist, kann nicht festgestellt werden, dass die BF3 bis BF6 einem realen Risiko ausgesetzt wären, in eine existenzbedrohende Lage zu geraten.

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es mit Stand 31.05.2021, 644.586 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen und 10.596 Todesfälle; in Afghanistan wurden bislang ca. 70.761 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 2.919 Todesfälle bestätigt wurden.

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf. Die Beschwerdeführer sind nicht Angehöriger dieser Risikogruppe. Die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Auf die konkrete aktuelle Lage wird bei der Umsetzung der Rückkehrpflicht Bedacht zu nehmen sein.

Zur Lage in Afghanistan

COVID-19

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

In der Provinz Daikundi gibt es ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Es gibt jedoch keine Auswertungsmöglichkeiten für COVID-19-Tests – es werden Proben entnommen und zur Laboruntersuchung nach Kabul gebracht. Es dauert Tage, bis ihre Ergebnisse von Kabul nach Daikundi gebracht werden. Es gibt Berichte, dass 90 Prozent der Menschen in Daikundi unter der Armutsgrenze leben und dass etwa 60 Prozent der Menschen in der Provinz stark von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Samangan gibt es ebenso ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Wie auch in der Provinz Daikundi müssen Proben nach Kabul zur Testung geschickt werden. Eine unzureichende Wasserversorgung ist eine der größten Herausforderungen für die Bevölkerung. Nur 20 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser (RA KBL 16.7.2020).

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020)

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019). Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004). Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020). Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004). Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019). Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019). Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und USAmerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020). Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020)

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RSMission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den USAmerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020). Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020). Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RSMission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das HaqqaniNetzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020)

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019). Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend NichtPaschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Faryab

Die Provinz Faryab grenzt im Westen und Norden an Turkmenistan, im Osten an Jawzjan und Sar-e Pul, im Süden an Ghor und im Südwesten an Badghis und liegt im Nordwesten Afghanistans (UNOCHA Faryab 4.2014). Die Provinzhauptstadt ist Maimana. Faryab umfasst die folgenden Distrikte: Almar, Andkhoy, Bilchiragh, Dawlat Abad, Gurziwan, Khani Charbagh, Khwaja Sabz Posh-i Wali, Kohistan, Maimana, Pashtun Kot, Qaram Qul, Qaisar, Qurghan, Shirin Tagab (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Faryab 2019). Die administrative Zugehörigkeit des Distrikts Ghormach wechselte in der Vergangenheit. Obwohl der Distrikt traditionell Teil von Badghis ist (AAN 22.2.2017), wurde er nach 2007 mitunter Faryab zugerechnet (AAN 22.2.2017; vgl. UNODC/MCN 11.2018). 2018 wurde angekündigt, dass die Verwaltungsangelegenheiten von Ghormach aus Sicherheitsgründen zurück nach Badghis transferiert würden (FRP 28.8.2018; vgl. NSIA 1.6.2020; IEC Faryab 2019).

DieNationalStatisticsandInformationAuthorityofAfghanistan(NSIA)schätztdieBevölkerungin Faryab im Zeitraum 2020-21 auf 1,109.223 Personen (NSIA1.6.2020). Zusammen mit Sar-e Pul ist Faryab eine der beiden Provinzen mit usbekischer Mehrheit in Afghanistan. Darüber hinaus leben in der Provinz Tadschiken/Aimaqs, Paschtunen, Hazara, Moghol und andere kleinere Ethnien (AAN 17.3.2017; vgl. PAJ Faryab o.D.), wie zum Beispiel die Magats in Andkhoy (AAN 8.7.2020).

Ein Teil der Ring Road führt durch Faryab und verbindet die Provinz im Osten mit der Nach- barprovinz Jawzjan und schließlich Mazar-e Sharif in Balkh, sowie im Westen mit Badghis (TD 5.12.2017; vgl. LCA 4.7.2018). Trotz erheblicher Finanzierung seit 2005 waren im September 2017 nur rund 15% eines geplanten 233 Kilometer langen Abschnitts der Ring Road zwischen dem Distrikt Qaisar in Faryab und dem Ort Laman in Badghis fertiggestellt. SIGAR führte das Projektversagen hauptsächlich auf Sicherheitsprobleme zurück und schätzte die Aussichten auf eine zeitnahe Fertigstellung aufgrund zunehmender Unsicherheit in der Region als düster ein (SIGAR 6.2018) [zum jetzigen Zeitpunkt (11.2020) sind keine neueren Informationen zur Fertigstellung des Abschnitts bekannt, Anm.].

Faryab hat strategische Bedeutung, da es die westlichen Teile Afghanistans mit dem Norden verbindet (AAN 17.3.2017). Faryab ist eine der unsicheren Provinzen des Landes, in denen die Taliban häufig Angriffe gegen Zivilisten, Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte durchführen (KP 11.10.2020). Nach Einschätzung des Long War Journal standen die Distrikte Bilchiragh, Kohistan, Pashtun Kot, Qaram Qul und Shirin Tagab im Oktober 2020 unter Talibankontrolle, während die DistrikteAlmar, DawlatAbad, Gurziwan, Khwaja Sabz Posh-i Wali, Maimana, Qaisar und Qurghan umkämpft waren (LWJ o.D.). Der Distrikt Khani Charbagh an der Grenze zu Turkmenistan galt im Juli 2020 dagegen als vergleichsweise sicher (XI 19.7.2020).

Neben den Taliban sind noch weitere Gruppierungen in Faryab präsent: Das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) operiert in Faryab, wo sie Verbindungen zu den Splittergruppen Islamischer Jihad und Khatiba Imam al-Bukhari (KIB) unterhält (UNSC 27.5.2020). Die zentralasiatische KIB hat eine Zelle in Faryab, welche aus etwa 70 Kämpfern besteht. Die KIB beteiligt sich aktiv an den Feindseligkeiten gegen die afghanischen Regierungstruppen (UNSC 20.1.2020; vgl. LWJ 7.7.2020). Der Islamische Staat bzw. Islamische Staat Provinz Khorasan (ISKP) hat eine verdeckte Präsenz mit bis zu 25 Kämpfern in Faryab (UNSC 4.2.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich Faryab im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. NYT 14.8.2019), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Neben den regulären Regierungstruppen gibt es in Faryab so genannte „People´s Uprising Forces“ („Khezesh-e mardomi“ (AB 2.9.2020)), welche gegen die Taliban kämpfen (AVA 29.9.2020; KP 9.10.2020) und mitunter Teil der Miliz von Abdul Rashid Dostum und der Partei Jumbesh sind (NYT 4.7.2018; AB 2.9.2020; vgl. NYT 17.12.2019).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA665 zivile Opfer (199 Tote und 466 Verletzte) in der Provinz Faryab. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und nicht explodierten Kampfmitteln (unexploded ordnance, UXO)/Landminen (UNAMA 2.2020). Im ersten Halbjahr 2020 zählte UNAMA 233 zivile Opfer in der Provinz, womit Faryab zu den Provinzen mit der höchsten Anzahl an zivilen Opfern zählte (UNAMA 7.2020). UNAMA berichtete zudem, dass die Taliban im Juni 2020 in Faryab eine öffentliche Hinrichtung durchführten, was vergleichsweise selten geschieht (UNAMA7.2020; vgl.AVA28.6.2020).Weiters wurde berichtet, dass die Taliban in von ihnen kontrollierten Gebieten in der Provinz nun wieder vermehrt als Moralpolizei auftreten und Gesangsdarbietungen sowie Musik bei Hochzeiten und Feiern wieder weitgehend verbieten (RFE/RL 22.9.2020).

Es kam zu Kämpfen und Angriffen in der Provinz (FRP 9.10.2020; UNOCHA 4.10.2020; UNO- CHA 6.9.2020; UNOCHA 18.8.2020; UNOCHA 23.7.2020; BAMF 6.4.2020; BAMF 30.3.2020; BAMF 23.3.2020; BAMF 16.3.2020) als die Taliban Sicherheitsposten (NYTM 24.9.2020; NYTM

30.4.2020; RY 16.3.2020; NYTM 30.1.2020) - unter anderem auch in der Provinzhauptstadt (RY

29.9.2020; NYTM 24.9.2020) -, eine Militärbasis (NYTM 30.7.2020) oder Distriktzentren angrif- fen (UNOCHA 23.7.2020; NYTM 30.4.2020; NYTM 30.1.2020). Die Regierungskräfte führten Operationen durch (TOI 5.9.2020;AT 31.8.2020; XI 24.5.2020), auch aus der Luft (RY 1.9.2020; XI 5.8.2020a; PAJ 2.1.2020).

berichtet (BNA 21.7.2020; NYTM 30.4.2020).

Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im S

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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