TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/8 W242 2180107-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.06.2021
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Entscheidungsdatum

08.06.2021

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W242 2180107-1/38E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HEUMAYR als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch, Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7 – 11/15, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2017, Zl. XXXX , zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II.      Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.

III.    In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) reiste gemeinsam mit seinen Eltern und drei Geschwistern Anfang 2016 illegal nach Österreich ein und stellte am 13.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am nächsten Tag wurde der Beschwerdeführer unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari einer niederschriftlichen Erstbefragung unterzogen und gab dabei zu seinen Fluchtgründen befragt an, er habe ein Jahr für die Polizei in Afghanistan gearbeitet und sei von unbekannten Männern entführt worden. Einen Monat lang sei er in Gefangenschaft gewesen, für seine Freilassung habe sein Vater 10.000,00 USD bezahlen müssen. Er sei dann in den Iran geflohen und von dort mit seiner Familie nach Österreich.

Am XXXX 2017 fand vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers statt. Dabei führte er zu seinen Fluchtgründen aus, er habe als Fahrer für die Polizei gearbeitet und Lebensmittel zur Akademie transportieren müssen, die dann mit einem Helikopter zum Innenministerium gebracht worden seien. Eines Tages habe er den Auftrag bekommen, Waren direkt ins Ministerium zu bringen, wobei er alleine mit dem LKW gefahren und von zwei Polizeiautos sowie zwei amerikanischen Autos begleitet worden sei. Etwa 10 bis 20 Minuten von der Akademie entfernt seien die Reifen seines LKWs von Kalaschnikows getroffen worden und explodiert. Daraufhin seien die Begleitfahrzeuge geflüchtet. Plötzlich seien 4 Motorräder gekommen, von denen sich zwei vor dem LKW und zwei dahinter positioniert hätten, sowie ein russischer Jeep. Sie hätten ihn aus dem LKW geworfen, seine Hände von hinten gefesselt, ihn geschlagen, schließlich in den Jeep geworfen und seien anschließend bergab gefahren. Nach ein bis zwei Stunden hätten sie ein Haus erreicht, wo er Stimmen einer Frau und von Kindern gehört habe. Sie hätten ihn in einen Stall gebracht, seine Füße an die Wand gefesselt und ihn durchsucht, wobei ihm seine Halskette und sein Ehering abgenommen worden seien. Es sei sehr kalt gewesen und er sei nur mit einer Unterhose bekleidet gewesen. Einen Monat sei er dort eingesperrt gewesen. Er habe den Leuten gesagt, wenn sie Geld wollten, sollten sie seinen Onkel anrufen. Nach ein paar Tagen seien sie zurückgekommen, hätten ihm die Augen verbunden und ihn mit einem Auto zu einem anderen Ort gebracht. Dort sei ihm ein alter Mann begegnet, der ihn in einen Garten mitgenommen habe, ihm ein Glas Milch und Kekse sowie Kleidung gegeben habe und ihm einen Taxifahrer organisiert habe, der ihn nach Kabul zurückgebracht habe. Der Taxifahrer habe ihn seine Frau anrufen lassen, die ihm erzählt habe, dass die Polizei wegen des Vorfalls schon bei ihm zu Hause gewesen sei und auch die Dorfbewohner böse seien, weil er mit den Feinden zusammengearbeitet habe. Jeder habe gedacht, dass er Schuld am Raub der Ladung sei. Seine Frau habe ihm schließlich geraten, das Land zu verlassen, sodass er nach zwei Tagen in den Iran gegangen sei. Im Iran sei er dann von zwei Basij geschlagen worden, als er beim Bäcker habe Brot kaufen wollen. Sein Vater habe ihm dann erzählt, dass auch sein Bruder Ali Probleme gehabt habe, weshalb sie schließlich das Land verlassen hätten.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es dem Beschwerdeführer nicht gelungen sei, eine relevante Verfolgung in Afghanistan glaubhaft zu machen. Der Beschwerdeführer verfüge über mehrjährige Berufserfahrung, sei in der Lage gewesen, für den Lebensunterhalt seiner Familie aufzukommen und würden die Eltern seiner Frau im Herkunftsstaat leben, weshalb er auch soziale Anknüpfungspunkte habe, sodass im Falle der Rückkehr keine Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bestehe. Da die in Österreich lebenden Familienmitglieder des Beschwerdeführers im selben Umfang von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme betroffen seien und auch ein schützenswertes Privatleben nicht entstanden sei, sei die Rückkehrentscheidung zulässig.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und brachte vor, dass die entscheidungsrelevante Frage des Herkunftsstaates nicht geklärt sei. Die Behörde habe Feststellungen zur Situation von Rückkehrern, die Afghanistan zu Beginn der Talibanherrschaft 1996 verlassen hätten bzw. in einem anderen Land geboren worden seien und keine Anknüpfungspunkte zu Afghanistan hätten, vollständig unterlassen. Schließlich ging der Beschwerdeführer auf die Sicherheitslage in Afghanistan ein und traf rechtliche Erwägungen.

Am XXXX .2019 übermittelte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den Länderberichten sowie den aktuellen UNHCR-Richtlinien.

Am XXXX 2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi sowie der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinem Leben in Afghanistan sowie im Iran und zu seinen Fluchtgründen befragt wurde.

Am XXXX 2019 übermittelte der Beschwerdeführer zahlreiche Integrationsunterlagen.

Mit Urkundenvorlage vom XXXX .2019 übermittelte der Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen.

Am XXXX 2019 wurde die am XXXX 2019 begonnene mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi sowie der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers fortgesetzt und dieser ergänzend zu seinen Fluchtgründen sowie zu seiner Integration in Österreich einvernommen.

Am XXXX 2019 langten beim Bundesverwaltungsgericht zwei weitere Schriftsätze des Beschwerdeführers ein, in welchen er auf zahlreiche Länderinformationen verwies.

Mit Parteiengehör vom 19.11.2019 wurde dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt Afghanistan vom 13.11.2019 zur Stellungnahme binnen einer Woche zugestellt und ersuchte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 25.11.2019 um Fristerstreckung um eine weitere Woche.

Mit Stellungnahme vom XXXX 2019 erstattete der Beschwerdeführer nähere Ausführungen zum übermittelten Länderinformationsblatt und verwies zudem auf die UNHCR-Richtlinien sowie die EASO Country Guidance Notes.

Mit Erkenntnis vom XXXX 2020, W XXXX , wies das BVwG die Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

Begründend führte das BVwG im Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zusammengefasst aus, der BF könne bei einer Ansiedlung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Dazu führte das BVwG rechtlich aus, der BF sei seinen eigenen Angaben zufolge während seins Aufenthaltes in Afghanistan in der Lage gewesen, seinen Lebensunterhalt selbständig zu bestreiten und habe zudem im Iran Berufserfahrung als Bauer und selbständiger Händler auf einem Bazar erworben, weshalb bei ihm die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne, zumal insbesondere auch in Herat und Mazar-e Sharif Arbeitsmöglichkeiten im Handel bestehen und aus den Länderberichten zudem hervorgehe, dass auch im Ausland erworbene Fähigkeiten die Chancen, in Afghanistan am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, erhöhen. Weiteres sei festzuhalten, dass der BF im afghanischen Familienverband aufgewachsen sei, im Erwachsenenalter vom Iran nach Afghanistan zurückgekehrt sei und dort gemeinsam mit seiner Ehefrau und dem bereits verstorbenen Sohn gelebt habe und auch die Landessprache seines Herkunftsstaates beherrsche. Schließlich könne der BF zudem auf die Unterstützung seiner Familienangehörigen zurückgreifen, über die ebenfalls eine Rückkehrentscheidung erlassen worden sei. Durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe könne der BF zumindest übergangsweise in Herat oder Mazar-e Sharif das Auslagen finden. Es handle sich beim BF um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann, der seine Existenz zumindest anfänglich auch mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern könne, wobei ihm seine Berufserfahrung zu Gute komme. Es gebe somit keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der BF in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse einer ausweglosen bzw. existenzbedrohenden Situation ausgesetzt wäre.

Am XXXX 2020 erhob unter anderem der Beschwerdeführer außerordentliche Revision an den VwGH und beantragte, der VwGH wolle der außerordentlichen Revision Folge geben und das angefochtene Erkenntnis wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufheben (1), den Bund als Rechtsträger der Revisionsgegnerin verpflichten, der Revisionswerberin die Kosten dieses Verfahrens im gesetzlichen Ausmaß zu ersetzen (2) und der Revision die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen (3).

Der VwGH wies die Revision am XXXX 2020 mit Beschluss zurück und führte dazu begründend aus, das BVwG habe fallbezogen hinreichend aktuelle Länderfeststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Mazar-e Sharif und Herat getroffen und habe sich mit den persönlichen Umständen des Revisionswerbers auseinandergesetzt. Demnach sei der junge, gesunde und erwerbsfähige Revisionswerber, der die Landessprache beherrsche und über Berufserfahrung als Bauer und selbständiger Händler verfüge, im Erwachsenenalter bereits einmal nach Afghanistan zurückgekehrt und auch dabei in der Lage gewesen, sich entsprechende Ortskenntnisse zu verschaffen und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Es könne daher im Einklang mit den in den aktuellen UNHCR-Richtlinien sowie den EASO Country Guidance Notes aufgestellten Kriterien davon ausgegangen werden, dass es ihm zumutbar sei, sich erneut einen Wohnraum zu suchen und ein für den Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Sofern die Revision die vom BVwG nach Art. 8 EMRK vorgenommene Interessenabwägung moniere und die ehrenamtliche Tätigkeit des Revisionswerbers ins Treffen führe, sei dem entgegenzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen – wenn sie, wie vorliegend der Fall, auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolge und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen worden sei – nicht revisibel sei. Eine solche Unvertretbarkeit der Interessenabwägung, in deren Rahmen ohnehin auf die von der Revision ins Treffen geführten Umstände Bedacht genommen worden sei, sei nicht zu erkennen.

Am XXXX 2020 erhob der BF Beschwerde beim VfGH und beantragte, der VfGH möge a.) das angefochtene Erkenntnis wegen Verletzung verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechte aufheben und b.) dem Bund als Rechtsträger der belangten Behörde den Ersatz der Kosten auftragen, wobei iSd § 27 letzter Satz VfGG Kostenzuspruch für alle regelmäßig anfallenden Kosten zuzüglich USt begehrt wird, c.) der Beschwerde gemäß § 85 Abs. 2 VfGG die aufschiebende Wirkung zuerkennen, d.) gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG und § 87 Abs. 3 VfGG die Beschwerde für den Fall der Abweisung oder Ablehnung dem VwGH abzutreten.

Mit Beschluss vom XXXX 2020 gab der VfGH dem gestellten Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, Folge.

Mit Entscheidung vom XXXX 2021 erkannte der VfGH, der Beschwerdeführer sei durch das angefochtene Erkenntnis des BVwG vom XXXX 2020, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und gegen die Festsetzung einer Frist von 14 Tagen zur freiwilligen Ausreise abgewiesen werde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden. Der VfGH hob das Erkenntnis insoweit auf und sprach weiteres aus, dass im Übrigen die Behandlung der Beschwerde abgelehnt und die Beschwerde insoweit dem VwGH zur Entscheidung abgetreten werde.

Begründend führte der VfGH zusammenfassend aus, es müssen nach der maßgeblichen Berichtslage zu den vom BVwG festgestellten Umständen (wie sie für alleinstehende, gesunde Männer im erwerbsfähigen Alter, die in Afghanistan aufgewachsen sind oder längere Zeit dort gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative unter anderem in Herat oder Mazar-e Sharif zumutbar erscheinen lassen) für Rückkehrer wie den BF, der seit dem frühen Kindesalter außerhalb Afghanistans und im Erwachsenenalter lediglich ein Jahr lang in Afghanistan gelebt habe, qualifizierte Umstände, insb. im Hinblick auf Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnisse der betroffenen Person sowie Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans, hinzutreten, um von einer im Hinblick auf Art. 2 und 3 EMRK zumutbaren Rückkehrsituation ausgehen zu können. Solche Umstände liegen im Hinblick auf den BF nicht vor. Er verfüge über kein Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan; auch fehle es ihm an Schulbildung, weshalb er weder lesen noch schreiben könne; die Berufserfahrung als Bauer und als selbständiger Händler auf einem Bazar, auf die das BVwG abstelle, habe er wesentlich im Kindesalter erworben. Das BVwG unterlasse es diesbezüglich, zu prüfen, inwieweit der BF damit über eine solche Berufserfahrung verfüge, die begründet vermuten lasse, dass er sich in seiner konkreten Rückkehrsituation selbst erhalten könne. Mit dem Verweis auf den Umstand, dass es dem BF innerhalb des einen Jahres, in dem er im Erwachsenenalter in Afghanistan gelebt habe, möglich gewesen sei, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und Ortskenntnisse zu erlangen, lasse das BVwG außer Acht, dass der BF damals (im Gegensatz zu heute) gerade über ein Unterstützungsnetzwerk durch seine Ehefrau und deren Familie verfügt habe. Indem das BVwG somit die maßgeblichen Anforderungen, die das Personenprofil des BF nach der Länderberichtslage erfüllen müsse, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif ausgehen zu können, grundsätzlich verkenne, habe es sein Erkenntnis – im Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und daran anknüpfend die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigenden Gründen sowie die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung und die Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise – mit Willkür belastet.

Mit Schreiben vom 29.03.2021 gab unter anderem der Beschwerdeführer bekannt, dass ein Wechsel des rechtsfreundlichen Vertreters erfolgt sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Sachverhalt

Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer verwendet den im Spruch genannten Namen und Geburtsdaten. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und spricht Dari sowie Farsi. Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest.

Der Beschwerdeführer ist in der Provinz Kabul im Distrikt Deh-Sabz im Dorf XXXX in Afghanistan geboren und zog 1996 gemeinsam mit seinen Eltern in den Iran.

Der Beschwerdeführer lebte zunächst im Distrikt Damawand, wo er bereits als Kind gemeinsam mit seinem Vater als Bauer arbeitete. Später übersiedelte der Beschwerdeführer mit seiner Familie nach Teheran und arbeitete selbständig als Händler auf einem Bazar.

Der Beschwerdeführer erhielt weder in Afghanistan noch im Iran Schulbildung.

Der Beschwerdeführer heiratete in Teheran traditionell, zog anschließend wieder nach Afghanistan, wo er mit seiner Frau und einem gemeinsamen Sohn in Kabul ca. ein Jahr lang lebte, bevor er alleine wieder in den Iran zurückkehrte.

Der Sohn des Beschwerdeführers ist verstorben, zu seiner Ehefrau oder sonstigen in Afghanistan lebenden Verwandten besteht kein Kontakt.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Zum (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Nachdem der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , bereits am 27.10.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, reiste der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinen Eltern und drei weiteren Geschwistern unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich und stellte am 13.02.2016 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer lebt gemeinsam mit seinen Eltern und vier Geschwistern in einer von der XXXX GmbH gemieteten und von dieser bezahlten Unterkunft. Im Falle eines positiven Verfahrensausgangs und der Kündigung des Mietvertrags ist die Vermieterin bereit, das Haus direkt an den Beschwerdeführer und seine Familie zu vermieten.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich mehrere Deutschkurse besucht und von Juni 2016 bis Anfang September 2016 freiwillige Dienstleistungen bei der Stadtgemeinde XXXX verrichtet. Am 20.07.2016 hat der Beschwerdeführer an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen, am 13. und 14.08.2016 bei der Aktion „ XXXX “ beim Team XXXX mitgearbeitet und am 08.11.2017 den Infotag für Asylwerber besucht. Der Beschwerdeführer war in den Sommermonaten 2018 und 2019 für gemeinnützige Arbeiten bei der Gemeinde XXXX beschäftigt und unterstützt seit Februar 2019 die Team XXXX in XXXX . Der Beschwerdeführer besucht sonntags Gottesdienste in der Kirche und wurde am 04.07.2019 in der Pfarre XXXX getauft und gefirmt.

In Österreich hat der Beschwerdeführer, abgesehen von seiner Familie (Eltern und Geschwistern), keine Verwandten oder sonstige Familienangehörige.

Der Beschwerdeführer konnte in Österreich bereits Kontakte knüpfen und ist strafrechtlich unbescholten.

Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz seiner Eltern, Kabul in Afghanistan, wo er sich während seines letzten Aufenthaltes auch aufhielt, ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedlung in der Stadt Herat oder in Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer dort grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, nicht ausreichend befriedigen. Er würde daher in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem daher ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).

Im Hinblick auf die Beschwerde gegen den Spruchpunkt des angefochtenen Bescheides hinsichtlich Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten (I.) ist anzumerken, dass dieser Spruchpunkt bereits in Rechtskraft erwachsen ist.

Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, wiedergegeben:

1. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als „Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

[...]

Für den Berichtszeitraum 10.05. – 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 – 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05 – 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

[...]

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. – 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

[...]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) – Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LW 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).

Berichten zufolge besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.02.2019; vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).

Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.02.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.09.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.09.2017; AAN 19.02.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.02.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.06.2019; vgl. CSR 12.02.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte, die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.07.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.02.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten „ein nützliches Fundraising-Tool“ sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.01.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.06.2019).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.02.2019; vgl. UNAMA 24.02.2019; AAN 24.02.2019; CTC 12.2018; UNGASC 07.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.02.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.02.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.07.2019).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CSR 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.01.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.06.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, abe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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